Von einer „höchst unsozialen Inflation“ bis zur Frage, wie man denn wem wodurch (nicht) helfen kann angesichts der Verfestigung hoher Preissteigerungsraten

Schon immer hat man bei der Behandlung des Problems einer zu hohen Preissteigerungsrate darauf hingewiesen, dass Inflation sozial höchst ungleich ist bei ihren Auswirkungen. Das wird auch in diesen Tagen nicht nur thematisiert, sondern Millionen Menschen bekommen das auch zu spüren.

»Mit den Energiepreisen und der Inflation, die wir im Augenblick haben, ist das eine höchst unsoziale Inflation, weil Menschen mit geringen Einkommen das Drei-, Vier-, Fünffache ihres monatlichen Einkommens im Vergleich zu gut verdienenden Menschen für Energie und Lebensmittel ausgeben.« So Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 19. April 2022, das man hier nachlesen kann: „Das ist eine höchst unsoziale Inflation“. Und tatsächlich sehen wir derzeit Preissteigerungswerte, die seit langem vom gesellschaftlichen Radarschirm verschwunden waren – noch vor einigen Monaten, man darf und muss daran erinnern, kreisten die volkswirtschaftlichen Diskussionen um eine „zu niedrige“ Inflationsrate, gemessen an der Zielinflationsrate der Europäischen Zentralbank (EZB) in Höhe von um die 2 Prozent, die jahrelang nicht erreicht worden ist.

Es ist nicht überraschend, dass Marcel Fratzscher in dem Interview sogleich gefragt wird, ob nicht die Politik was machen muss angesichts der stark steigenden Preise und vor dem Hintergrund der sozial höchst ungleichen Verteilung der Auswirkungen der Inflation. „Ja, die Politik muss gezielt helfen. Das hat sie zum Teil schon gemacht. Mitte März gab es ja diese Energiepauschale.“ So seine Antwort und er verweist damit auf die beiden Entlastungspakete der Bundesregierung mit einem Gesamtvolumen von etwa 30 Mrd. Euro. Die Pakete beinhalten eine Erhöhung der Steuerfreibeträge, die Auszahlung einer Energiepreispauschale für Erwerbstätige sowie einen Familienzuschuss für Eltern mit Kindern ebenso wie eine vorübergehende Absenkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe und die vorgezogene Abschaffung der EEG-Umlage. Für eine Analyse der tatsächlichen Entlastungswirkungen vgl. auch die Arbeit von Sebastian Dullien et al. 2022: Die Entlastungspakete der Bundesregierung. Sozial weitgehend ausgewogen, aber verbesserungsfähig. IMK Policy Brief Nr. 120, Düsseldorf: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), April 2022.

Aber zurück zu dem, was Fratzscher in dem Interview ausführt: „Menschen gezielt direkt Transfers zu geben“ bezeichnet er als den richtigen Weg – „populistische Maßnahmen wie eine Spritpreisbremse“ seien hingegen der falsche Weg. Damit wirft man letztlich einen großen Teil dieses Geldes noch den Mineralölkonzernen in den Rachen, so der Volkswirt vom DIW.

Runter mit der Mehrwertsteuer?

Dann kommt dieser Vorschlag, der auch gerne von den Medien aufgegriffen wurde, weil man ihn scheinbar gut transportieren kann in eine breitere Öffentlichkeit:

»Ich würde mir beispielsweise eine Reduzierung oder eine Abschaffung der reduzierten Mehrwertsteuer von sieben Prozent auf null Prozent wünschen, denn das sind Dinge der Grundversorgung, vor allem Nahrungsmittel, die hier entlastet würden. Solche Maßnahmen wären wirklich wichtig und die werden in diesem Jahr noch wichtiger. Wir haben das Ende der Fahnenstange bei der Inflation noch nicht gesehen.«

Wie immer muss man genau lesen – die meisten Menschen denken an die „normale“ Mehrwertsteuer, die wir alle bezahlen, mit dem derzeitigen Steuersatz von 19 Prozent. Fratzscher aber meint etwas anderes: den „reduzierten Mehrwertsteuersatz“ von derzeit 7 Prozent, der Anwendung findet auf Güter und Dienstleistungen der „Grundversorgung“ (beispielsweise die von ihm auch angesprochenen Lebensmittel). Es wäre einen eigenen Beitrag wert, sich über die sachlogisch oftmals schwer bis gar nicht nachvollziehbaren Differenzierungen, welche Güter nun reduziert oder voll mehrwertbesteuert werden, zu informieren, was teilweise absurde Fallkonstellationen zu Tage fördern würde. Ein beliebtes Unterfangen in der Steuerpolitik, um die mehr als grenzwertige und nur historisch zu verstehende Ausgestaltung des deutschen Steuersystems zu illustrieren.

➞ Aber gehen wir einmal mit Blick auf die (potenziellen) Entlastungswirkungen einer solchen Maßnahme von einem Einkauf von Lebensmitteln aus, die allem mit nur 7 Prozent besteuert werden. Wenn man dafür 100 Euro bezahlen müsste, würde die Absenkung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes von 7 Prozent auf Null eine Entlastung in Höhe von 6,50 Euro bringen. Diese überschaubare Kostenentlastung würde es aber auch nur dann geben, wenn der Lebensmitteleinzelhändler die Absenkung der Mehrwertsteuer vollständig an den Kunden weitergibt, was er formal nicht muss und was in der Vergangenheit bei temporären Steuersenkungen auch tatsächlich nicht immer passiert ist.

Nun kann man durchaus Zweifel bekommen hinsichtlich der Größenordnung einer über diesen Weg (theoretisch) erreichbaren Entlastung. Dies aus mehreren Gründen, nicht nur angesichts der überschaubaren erzielbaren Preisreduktion unter der Bedingung einer vollständigen Weitergabe der Absenkung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes. Aber immerhin könnte man argumentieren, dass es ein Teilbeitrag wäre für eine Entlastung besonders betroffener einkommensschwacher Haushalte. Was wissen wir über die ungleichen Belastungsstrukturen?

Einige Daten zur sozial ungleichen Verteilung der aktuellen Preissteigerungsrate

Die durchschnittliche Inflationsrate für alle Haushalte – gemessen als Veränderung des Verbraucherpreisindex (VPI) zum Vorjahresmonat – lag im März bei 7,3 Prozent. Im Februar 2022 hatte sie („nur“) bei 5,1 Prozent gelegen, berichtet das Statistische Bundesamt. »Damit erreichte die Inflation im März 2022 einen neuen Höchststand seit der Deutschen Vereinigung. Im früheren Bundesgebiet hatte es ähnlich hohe Inflationsraten zuletzt im Herbst 1981 gegeben«, so die Bundesstatistiker. Einfluss auf die Inflationsrate hatten Lieferengpässe und deutliche Preisanstiege auf den vorgelagerten Wirtschaftsstufen. Vor allem Energieprodukte, aber auch andere Waren und Dienstleistungen wurden infolge der aktuellen Krisensituationen teurer. „Neben der Corona-Pandemie wirkt sich nun der Krieg Russlands gegen die Ukraine deutlich auf die Teuerung in Deutschland aus, insbesondere bei Heizöl, Kraftstoffen und Erdgas sowie einzelnen Nahrungsmitteln“, so Georg Thiel, der Präsident des Statistischen Bundesamtes. Den Datenangaben kann man auch entnehmen: Die Preise für Nahrungsmittel erhöhten sich im März 2022 gegenüber dem Vorjahresmonat um 6,2 Prozent. Damit lag der Preisanstieg in diesem Bereich (noch) etwas unter der allgemeinen Preissteigerungsrate gemessen am VPI (7,3 Prozent).

Einige differenzierende Hinweise auf unterschiedliche Auswirkungen der Preissteigerungen findet man in dieser Ausarbeitung des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK):

➔ Sebastian Dullien und Silke Tober (2022): IMK Inflationsmonitor. Hohe Unterschiede bei haushaltsspezifischen Inflationsraten: Energie- und Nahrungsmittelpreisschocks belasten Haushalte mit geringem Einkommen besonders stark. IMK Policy Brief Nr. 121, Düsseldorf: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), April 2022

Der Analyse kann man die folgenden Befunde entnehmen: Ärmere Haushalte leiden zurzeit deutlich stärker unter der hohen Inflation als sehr gut verdienende. Am höchsten sind die Preise im März im Vergleich zum Vorjahresmonat für Familien mit zwei Kindern und niedrigem Einkommen gestiegen, nämlich um 7,9 Prozent. Die niedrigste Preissteigerung mit 6,0 Prozent verzeichneten dagegen Singles, die im Monat mehr als 5000 Euro Nettoeinkommen zur Verfügung haben. Die durchschnittliche Inflationsrate für alle Haushalte lag im März bei 7,3 Prozent.
Das IMK stützt sich dabei auf die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes. Mit ihr lassen sich für die einzelnen Haushalte typische Warenkörbe bilden. Diese werden kombiniert mit den unterschiedlichen Preissteigerungen in einzelnen Warengruppen.
Das starke Anziehen der Inflationsrate hat im März dazu geführt, dass der Unterschied zwischen den am stärksten und den am wenigsten stark betroffenen Haushalten deutlich größer geworden ist: Die Preissteigerung von 7,9 Prozent für Familien mit zwei Kindern und geringem Einkommen gegenüber 6,0 Prozent für vermögende Singles bedeutet eine Spreizung von 1,9 Prozentpunkten. Im Februar hatte diese nur 0,8 Prozentpunkte betragen.
„Das liegt daran, dass die aktuell stärksten Preistreiber – Haushaltsenergie, Kraftstoffe und Lebensmittel – unterschiedlich stark durchschlagen“, schreiben die Autoren der Studie, Silke Tober und Sebastian Dullien. Bei Familien mit zwei Kindern und niedrigem Einkommen machen diese drei Komponenten 5,9 Prozentpunkte der haushaltsspezifischen Inflationsrate von 7,9 Prozent aus. Bei Alleinstehenden mit hohem Einkommen entfallen darauf hingegen 3,3 Prozentpunkte von insgesamt sechs Prozent individueller Teuerung.
Beispiel Lebensmittel: Je mehr Nettoeinkommen ein Haushalt im Monat zur Verfügung hat, desto weniger muss er prozentual für Lebensmittel (inklusive Getränken und Tabak) ausgeben. Die Folge ist, dass sich die starke Preissteigerung in diesem Bereich bei ihm nicht so heftig auswirkt wie bei ärmeren Haushalten.
Auch bei der Haushaltsenergie wirkt dieser Mechanismus. Bei sehr gut verdienenden Singles machte sie 1,4 Prozentpunkte der Inflationsrate aus, bei ärmeren Singles mehr als doppelt so viel: 3,2 Prozentpunkte.
„Zusammenfassend lässt sich schlussfolgern, dass Haushalte mit geringeren Einkommen durch den Preisanstieg bei Haushaltsenergie überproportional belastet sind und auch die Verteuerung der Nahrungsmittel stärker spüren“, schreiben die IMK-Forscher. Sie erwarten, dass sich dieser Trend noch verschärft. Denn noch seien nicht alle Preissteigerungen von Haushaltsenergie im Großhandel an die Privathaushalte weitergegeben worden, zudem seien inzwischen die Preise für Nahrungsmittel auf den Weltmärkten noch weiter kräftig gestiegen. Eine fortgesetzte Preisexplosion bei der Haushaltsenergie werde gerade auch ärmere Alleinstehende empfindlich treffen. Hinzu kommt: Grundsätzlich haben Haushalte mit niedrigem Einkommen ein besonderes Problem mit starker Teuerung, weil sie vor allem unverzichtbare Alltagsgüter kaufen und kaum Spielräume besitzen, ihr Konsumniveau durch Rückgriff auf Erspartes aufrechtzuerhalten. (Quelle der Zusammenfassung: Harald Freiberger: So wirkt sich die Inflation aus, in: Süddeutsche Zeitung, 20.04.2022).

Also doch runter mit der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel?

Vor diesem Hintergrund könnte man durchaus argumentieren, dass eine Absenkung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes angesichts der überproportionalen Bedeutung des Nahrungsmittel-Preisanstiegs den unteren Einkommensgruppen helfen könnte. Diese Argumentationslinie wird auch von anderen aufgegriffen: »Mehrere Verbände fordern die Abschaffung der Mehrwertsteuer für Grundnahrungsmittel wie Obst und Gemüse. Die Bundesregierung müsse diese Möglichkeit nutzen, um gerade Haushalte mit geringem Einkommen zu entlasten«, so diese Meldung: Lebensmittel bald ohne Mehrwertsteuer? Für Grundnahrungsmittel fordert beispielsweise die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, deshalb eine Absenkung der Mehrwertsteuer auf „null Prozent“, also faktisch die Abschaffung der Mehrwertsteuer. „Die Bundesregierung muss diese Möglichkeit, die es nun für alle EU-Mitgliedsstaaten gibt1, voll ausschöpfen“, sagte Bentele. Das will auch der Verbraucherzentrale Bundesverband – speziell bei Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten. So könne man steigende Lebensmittelpreise abfedern und gerade Haushalten mit niedrigem Einkommen helfen. Zugleich diene das der gesunden Ernährung und einer nachhaltigeren Produktion.

1 Vor kurzem ist eine Änderung der sogenannten EU-Mehrwertsteuersystemrichtlinie in Kraft getreten. In der Richtlinie haben die EU-Staaten gemeinsame Vorgaben für die Mehrwertsteuer festgelegt. Der reguläre Steuersatz muss demnach mindestens bei 15 Prozent liegen, der ermäßigte bei mindestens fünf Prozent. Gänzliche Steuerbefreiungen sind nur in bestimmten Bereichen möglich, seit der Änderung nun auch bei Lebensmitteln.

Die Befürworter einer Mehrwersteuersenkung bei Lebensmittel berufen sich u.a. auf die ungleichen Verteilungsergebnisse, die das IMK zu Tage gefördert hat. In diesem Zusammenhang sind Stimmen aus diesem Institut interessant: Wenn die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel wegfällt, »würde dies ärmere Haushalte somit stärker entlasten als gut verdienende. Silke Tober, Inflationsexpertin des IMK, gibt jedoch zu bedenken, dass dies nur prozentual gilt: „Einkommensstarke Alleinlebende geben zwar anteilig weniger Geld für Lebensmittel aus, in Euro gerechnet aber mehr“, sagt sie. Es sei das entscheidende Problem einer solchen Mehrwertsteuer-Senkung, dass sie nicht gezielt sei«, so Harald Freiberger und Roland Preuß in ihrem Artikel Ärmere Haushalte entlasten – aber wie? Ein weiterer Einwand, den man in Rechnung stellen muss: Die Absenkung der Mehrwertsteuer ist ja nicht umsonst, sondern dem Staat gehen hier Einnahmen verloren, die dann möglicherweise an anderer Stelle für eine gezielte Entlastung bestimmter Haushalte fehlen.

Wäre eine Absenkung des reduzierten Mehrwertststeuersatzes auf Lebensmittel nur ein Tropfen auf den heißen Stein – und dann noch nicht einmal gezielt?

Für die Skeptiker hinsichtlich der Wirksamkeit der diskutierten Maßnahme: Was wäre gewonnen, wenn die – wie gezeigt – überschaubare Entlastung durch eine Mehrwertsteuersenkung innerhalb kürzester Zeit aufgefressen wird durch einen weiteren und möglicherweise sich beschleunigenden Anstieg der Lebensmittelpreise? Denn dafür gibt es eine ganze Handvoll Gründe.

Man sollte sich an dieser Stelle verdeutlichen, was derzeit der Haupttreiber der steigenden Inflationsrate gemessen am Verbraucherpreisindex ist: der Anstieg der Energiepreise.

Im März 2022 haben die Energiepreise um 40 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zugelegt. Und die belasten nicht nur die Haushalte direkt beim Tanken, Heizen und beim Strom, sondern die steigenden Energiepreise wirken natürlich auch auf die Unternehmen und induzieren dort neben anderen kostensteigernden Faktoren erwartbare Überwälzungsversuche auf die Preise für die Endverbraucher.

➔ Zu dem, was noch auf uns zukommen wird, diese Meldung aus dem Statistischen Bundesamt: Die Erzeugerpreise gewerblicher Produkte waren im März 2022 um 30,9 Prozent höher als im März 2021.« Zur Einordnung der Größenordnung dieser Zahl berichtet die Bundesstatistiker, dass das der höchste Anstieg gegenüber dem Vorjahresmonat seit Beginn der Erhebung im Jahr 1949 ist. Die aktuellen Daten spiegeln bereits erste Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine wider. Und was treibt die Erzeugerpreise? »Hauptverantwortlich für den Anstieg der gewerblichen Erzeugerpreise im Vorjahresvergleich ist weiterhin die Preisentwicklung bei Energie.« Die Energiepreise waren im März 2022 im Durchschnitt 83,8 Prozent höher als im Vorjahresmonat. Allein gegenüber Februar 2022 stiegen diese Preise um 10,4 Prozent. Am heftigsten war der Anstieg beim Erdgas mit über 144 Prozent. Ohne Berücksichtigung von Energie waren die Erzeugerpreise „nur“ 14 Prozent höher als im März 2021.

Selbst wenn man nun kurzzeitig eine (überschaubare) Entlastung bei Lebensmitteln unter der Bedingung einer vollständigen Weitergabe der Mehrwertsteuersenkung an (alle) Kunden hinbekommen würde – nach derzeitigem Stand wird das in kurzer Zeit mehr als aufgefressen werden von den bevorstehenden, wahrscheinlich erheblichen Preiserhöhungen. Denn mehrere Einflussfaktoren werden das in den kommenden Monaten und möglicherweise darüber hinaus verursachen.

Warum Lebensmittel in den kommenden Monaten und darüber hinaus weiter deutlich teurer werden (müssen)

Die unterschiedlichen Einflussfaktoren auf die derzeitigen und vor allem zukünftigen Preiserhöhungen im Lebensmittelbereich sind in dem Beitrag Warum Lebensmittel teurer werden, den Jessica von Blazekovic verfasst hat, herausgearbeitet worden. Hier kommt es vor allem auf die Summe an, also die zu erwartende Verfestigung der Preissteigerungen durch das Zusammenspiel der genannten Einflussfaktoren. Schauen wir in den Artikel:

Es ist noch gar nicht so lange her, da beherrschte das Billigfleisch die gesellschaftliche Debatte über Lebensmittel. Hähnchenschenkel für 20 Cent je 100 Gramm standen beispielhaft für eine Industrie, der man unlauteres Preisdumping vorwarf. Noch im Dezember vergangenen Jahres kritisierte der grüne Landwirtschaftsminister Cem Özdemir die „Ramschpreise“ im Lebensmitteleinzelhandel. Innerhalb weniger Wochen hat sich die Situation fundamental verändert: Im März dieses Jahres verteuerten sich Nahrungsmittel dem Statistischen Bundesamt zufolge im Schnitt um 6,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Noch weitaus höhere Werte ergeben sich, wenn man einzelne Produkte betrachtet: Nudeln: plus 17,5 Prozent. Sonnenblumenöl: plus 30 Prozent. Tomaten: plus 44 Prozent.

Die aktuellen Preiserhöhungen könnten indes nur ein Vorgeschmack sein darauf, was Verbraucher infolge der russischen Invasion in die Ukraine an der Supermarktkasse erwartet: Der Krieg beschleunigt einen schon vorher bestehenden Trend zu steigenden Lebensmittelpreisen. Außerdem stecken die kriegsbedingten Kostensteigerungen wohl noch in den Lieferketten, weil Erzeuger und Hersteller meist langfristige Lieferverträge haben und Preissteigerungen erst verzögert bei den Endkunden ankommen.

Und mit Blick über die kurzfristigen Erwartungswerte hinaus: Während der aktuell zu beobachtende Preisanstieg vor allem durch Sondereffekte wie die Corona-Pandemie und den Ukrainekrieg getrieben ist, werden die Preise nicht zuletzt wegen des Klimawandels, globaler Marktverschiebungen und politischer Vorgaben etwa hinsichtlich des Tierwohls wahrscheinlich weiter steigen.

Der wichtigste Einflussfaktor auf die Preisentwicklung bei Lebensmitteln: Energiepreise

Von der Herstellung von Saatgut für Tierfutter über den Transport im Laster bis hin zur Kühltruhe im Supermarkt – ohne Strom, Gas und Diesel läuft in der Ernährungswirtschaft nichts. Der starke Anstieg der Energiepreise schon im vergangenen Jahr und nun verstärkt durch den Ukrainekrieg trifft die Branche hart, insbesondere, weil rund 80 Prozent der landwirtschaftlichen Erzeugung in Deutschland mit mehr oder weniger energieintensiven Verfahren weiterverarbeitet werden.

Nach der Chemiebranche ist die Ernährungs- und Tabakindustrie der zweitgrößte Abnehmer von Erdgas. Auf Platz drei folgt die Verpackungsindustrie, die in der Lebensmittelindustrie ebenfalls eine große Rolle spielt. Erdgas ist zentral in der Lebensmittelherstellung. Viele Unternehmen seien in den vergangenen Jahren auf Erdgas umgestiegen, um ihre CO2-Bilanz zu verbessern. Besonders energie­intensiv sind Verfahren, bei denen Produkte stark erhitzt und schnell wieder abgekühlt werden. Solche Prozesse kommen etwa in Molkereien und der Fleischverarbeitung zum Einsatz. Auch der Anbau von Gemüse im Gewächshaus erfordert viel Energie, was derzeit die Preise von Gurken und Tomaten in die Höhe schießen lässt. Aktuell ist der Preis für Erdgas (schon) auf das Fünffache des Vorjahrespreises angestiegen.

Die hohen Energiepreise verteuern indes nicht nur die Herstellung von Lebensmitteln. Die Preissteigerung bei Diesel etwa führt dazu, dass sich die Kosten der Landwirte für das Betanken ihrer Traktoren innerhalb eines Jahres verdoppelt haben.

➞ Jessica von Blazekovic zitiert Maximilian Kirsten, Geschäftsführer einer Agrargesellschaft in Brandenburg: „Statt 240 000 Euro im Jahr sind es jetzt 500 000 Euro“. Er sagt, die Landwirte könnten ihre hohen Betriebskosten jedoch nur schwerlich weitergeben. „Von den gestiegenen Lebensmittelpreisen profitiert der Lebensmitteleinzelhandel“, meint er. Das Plus, das am Ende bei den Landwirten ankomme, sei marginal.

Ein weiterer Preistreiber: Teure Rohstoffe

Nicht nur die Energiepreise, auch die Preise für die in der Lebensmittelindustrie benötigten Rohstoffe gehen derzeit durch die Decke. Grund für den Anstieg der Rohstoffpreise sind neben Ernteausfällen und hohen Energiekosten stark gestiegene Kosten für Futter- und Düngemittel. Dünger kostet derzeit das Fünffache des Preises des vergangenen Jahres – wenn er überhaupt zu bekommen ist.

➞ Von explodierenden Rohstoffpreisen kann auch die Großbäckerei Kuchenmeister in Soest berichten. Die gesamte Rohstoffpalette habe sich dramatisch verteuert, sagt Geschäftsführer Hans-Günter Trockels. „Seit Beginn des Ukrainekrieges sind die Einkaufspreise für Eier und Mehl um 80 Prozent, für Sonnenblumenlecithin und Butter um 100 Prozent und für Zucker um 50 Prozent gestiegen“, rechnet er vor. „Das ist eine Preissteigerungswelle, die ich so in den letzten 40 Jahren nicht erlebt habe.“ Allerdings sollte man nicht meinen, dass das die Taschen das Landwirte vollmacht: Der Bayerische Bauernverband weist indes darauf hin, dass steigende Erzeugerpreise nicht der Preistreiber bei Lebensmitteln seien: „Der Anteil, den der Landwirt von den Ausgaben der Verbraucher für die Erzeugung seines Getreides erhält, beträgt aktuell bei einem Kilogramm Brot 13 Prozent und bei einer Semmel 5 Prozent.“

Und ein dritter Preistreiber: Logistikprobleme

Fragt man im Lebensmitteleinzelhandel nach den Gründen für den Preisanstieg, fallen regelmäßig die Stichworte „Kraftfahrermangel“ und „Seefrachtprobleme“. Tatsächlich stehen die Lieferketten unter enormem Druck, da sie von einer Krise direkt in die nächste geschlittert sind. Zahlen des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW) zufolge stecken derzeit etwa 12 Prozent aller verschifften Waren fest. Solche Verzögerungen in den Zeitplänen führten schlussendlich zu höheren Kosten, weil Schiffe Umwege fahren müssten, Ware auf die Schiene oder Straße umgeladen werden müsse und Container am falschen Ort leer stünden. Bereits im Jahr 2021 haben sich die Raten für den Containertransport zum Teil mehr als vervierfacht im Vergleich zur Zeit vor Corona. Hinzu kommt jetzt der Ukrainekrieg, der abermals den Warenverkehr stört.

Der Krieg in der Ukraine als eigener Einflussfaktor auf die Preisentwicklung im Lebensmittelbereich

Schon vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine gab es eine Tendenz zu steigenden Lebensmittelpreisen. Nun verschärft sich die Situation, denn der russische Angriffskrieg trifft ein Land, das maßgeblich zum Welternährungsmarkt beiträgt. Als die „Kornkammer Europas“ wird die Ukraine gerne bezeichnet: Je nach Schätzung hängt die Welt zu 8 bis 10 Prozent von ukrainischem Weizen ab. 36 Prozent des in die Europäische Union importierten Getreides und 16 Prozent der Ölsaaten stammen aus der Ukraine.

Mit einer normalen Ernte und Aussaat ist in der Ukraine unter den gegebenen Umständen freilich nicht zu rechnen. Russland wiederum, einer der wichtigsten Weizenexporteure der Welt, hat die Ausfuhr von Getreide zunächst bis Ende Juni dieses Jahres gestoppt. Zudem könnten die Sanktionen dazu führen, dass Russland nur noch einen Teil der Welt beliefern wird. All das führt zu Verschiebungen auf dem Weltmarkt, was sich am Terminmarkt zeigt: Dort erreichte der US-Future für Weizen Anfang März den höchsten Wert seit mehr als neun Jahren.

➞ Martin Banse, Leiter des Thünen-Instituts für Marktanalyse: „Im Moment treibt die Unsicherheit der Märkte die Preise stärker als das tatsächliche Fehlen von Produkten.“

Und was für eine Verfestigung der Preissteigerungen nicht nur in den kommenden Monaten, sondern weit darüber hinaus spricht: Strukturelle Preistreiber im Lebensmittelbereich

Während Faktoren wie der Ukrainekrieg die Lebensmittelpreise ganz unmittelbar in die Höhe treiben, gibt es auch strukturelle Entwicklungen, die Nahrung schon seit Längerem verteuern. Dabei geht es letztendlich um das Prinzip von Angebot und Nachfrage:

➞ Nicht nur wächst die Weltbevölkerung und damit die Zahl der Menschen, die ernährt werden müssen.
➞ Auch der globale Wohlstand wächst, was sich auf die Essgewohnheiten auswirkt. Mit steigendem Pro-Kopf-Einkommen verzehren die Menschen weniger pflanzliche und dafür mehr tierische Produkte.
➞ Die gestiegene Nachfrage nach Fleisch wiederum zieht einen größeren Bedarf an Weizen und Ölsaaten für Futtermittel nach sich als eine pflanzliche Ernährung.
➞ Gleichzeitig führen klimatische Veränderungen in wichtigen Anbauregionen immer häufiger zu Ernteausfällen, wie zuletzt in Kanada oder Brasilien.

Wenn man diese Einflussfaktoren auf die gegenwärtige und erwartbare Preisentwicklung addiert (und möglicherweise eine Potenzierung der preistreibenden Effekte in Rechnung stellt), dann wird durchaus verständlich, warum man zu dem Ergebnis kommen kann, dass wir eine Art „Scheindebatte“ führen, wenn man den Menschen eine Absenkung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes in Höhe von 7 Prozent als Entlastung verkaufen will.

Was bleibt? Gezielte Unterstützung. Nicht für alle, sondern für diejenigen, die Hilfe am dringendsten brauchen. Das lässt sich aber einfacher fordern als umsetzen

Vor dem beschriebenen Hintergrund ist die Forderung, gezielte Unterstützung zu leisten, nicht für alle, sondern für die Personengruppen und Haushalte, die am härtesten betroffen sind und sein werden, weil sie keinerlei Ressourcen haben, durch Umschichtungen ihrer Konsumausgaben die Preisanstiege bei diesen existenznotwendigen Gütern selbst aufzufangen. Das kann und muss man von Haushalten mit einem höheren verfügbaren Haushaltseinkommen erwarten, die sich bestimmt auch freuen würden über Entlastungen, die aber faktisch einen großen Spielraum haben, einen Anstieg des Anteils der Ausgaben für Lebensmittel (im Schnitt und bezogen auf die Zeit vor Corona 10 Prozent) gegenzufinanzieren, selbst wenn sich ihr Haushaltseinkommen nicht erhöhen sollte.

Was bedeutet das jetzt hinsichtlich der möglichen Maßnahmen? Und wo sind die Grenzen?

Die größte Preissteigerungsbaustelle sind die Energiepreise. Neben den bereits von der Bundesregierung beschlossenen Entlastungspaketen, die unter anderem eine einmalige Beihilfe beinhalten, steht eine verlässliche und nicht nur einmalige Abfederung der Preisentwicklung im Grundsicherungssystem auf der Tagesordnung – die aber, das sei hier hervorgehoben, im bestehenden leistungsrechtlichen System ziemlich kompliziert isst hinsichtlich ihrer Umsetzung. Vgl. dazu ausführlicher die Darstellung der Möglichkeiten in dem Beitrag Zunehmende Energiearmut: Anmerkungen zu der im bestehenden System überaus komplexen Aufgabe der Sicherung des „Energie-Existenzminimums“ vom 18. April 2022. Dort wurde dargestellt, dass man durchaus für die SGB II- und SGB XII-Leistungsempfänger eine Erhöhung der monatlichen Leistungen von mindestens 100 Euro realisieren könnte, wobei sich das erst einmal auf die Energiepreise im engeren Sinne bezieht, die Problematik der wie hier beschrieben weiter steigenden Lebensmittelpreise muss unter Berücksichtigung ihres Ausgabenanteils mitgedacht und entsprechend kalkuliert werden.

Aber das wurde bereits in dem Beitrag über die Sicherstellung des „Energie-Existenzminimums“ angesprochen und problematisiert: Wenn man sich leiten lässt von dem Gedanken, dass diejenigen mindestens eine Teilkompensation erhalten sollen, die es wirklich brauchen, dann stehen wir bereits bei vielen Rentnern, die kann oberhalb der Grundsicherungsschwellen und des Wohngeldanspruchs liegen, vor dem praktischen Problem, wie man die unterstützenden Transfers organisiert (und auch hier gilt, dass eine generelle Preisentlastung nicht wirklich sinnvoll und anzustreben wären, denn es gibt nicht nur altersarme Haushalte, sondern durchsuch nicht wenige materiell seht gut ausgestattete Rentner- und Pensionärshaushalte).

Hinzu kommen an dieser Stelle die Millionen teil- und vollzeitbeschäftigten Menschen, die im Niedriglohnsektor über die Runden kommen müssen und die nicht in den Grundsicherungssystemen integriert sind. Wie kann man die verlässlich erreichen? An dieser Stelle bleibt derzeit ein großes Fragezeichen. Zum einen kann und muss man an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es in der vor uns liegenden Zeit entscheidend darauf ankommen wird, ob die Lohnentwicklung die Preissteigerungen kompensieren oder wenigstens annähernd ausgleichen kann. Aber wenn man sich anschaut, was die etablierten Gewerkschaften gerade (nicht) herausholen können für die tarifgebundenen Bereiche, dann ahnt man bereits, dass das in vielen Branchen und Unternehmen, in denen die Niedriglöhne überdurchschnittlich stark vertreten sind, kaum bzw. sicher nicht gelingen wird, was wiederum verdeutlicht, dass wir an dieser Stelle im gesellschaftlichen Gefüge einen erheblichen Unterstützungsbedarf bekommen, der ja auch finanziert werden muss, was wiederum eine generelle Entlastung auch für mittlere und höhere Einkommensgruppen noch fragwürdiger erscheinen lässt.

Das Fragezeichen wird mit jedem Absatz größer und größer. Zeitnah realisierbare Antworten werden gesucht.

Das hier wird nicht der letzte Beitrag zu der Thematik bleiben. Das zumindest ist derzeit sicher.