Wir haben in den vergangenen Monaten an vielen Stellen im medialen (und parteipolitischen) Raum wuchtige Kampagnen gegen das „Bürgergeld“ erleben müssen. Unabhängig von der Tatsache, dass es nun wirklich gute Gründe für Kritik an der derzeitigen Ausgestaltung des Grundsicherungssystems gibt, muss man feststellen, dass ein Teil der Kampagnen das unterste Niveau erreicht hat. Zugleich sind die Kampagne aber aufgrund der reißerischen Aufmachung und der gezielten Adressierung von mehr oder weniger reflektierten Gerechtigkeitsvorstellungen bei vielen Menschen in der Lage, hochgradig emotionalisierte Abwehrreaktionen und Aggressionen auszulösen, bei denen mehrere Millionen Menschen, die in äußerst heterogenen Lebenslagen und für einige Zeit bis hin zu vielen Jahren auf Leistungen aus der Grundsicherung angewiesen sind, in Kollektivhaft genommen werden.
Gleichsam ein Lehrstück, wie es man sich nicht hätte ausdenken können, ist in den vergangenen Monaten vor unseren Augen abgelaufen und hat eine Menge aufgeputschten Zorn bei vielen Menschen produziert. Zugleich verdeutlicht das Beispiel aber auch, wie schwer es ist, mit Argumenten, die aus dem fachlichen, wissenschaftlichen Kontext entsprungen sind, politikberatend durchzudringen – und noch mehr: Das Fallbeispiel offenbart, dass die Verantwortlichen und auch die Experten offensichtlich den Überblick verloren haben, was schon da ist an Instrumenten in der Arbeitsmarktpolitik.
Die Idee: Eine Anschubhilfe im Bürgergeld
Bereits im Dezember 2023 wurde im FOCUS dieser Artikel des am IAB der Bundesagentur für Arbeit tätigen Wissenschaftlers Enzo Weber veröffentlicht – mit einer aufmerksamkeitsheischenden Headline versehen: Diese Maßnahmen braucht es jetzt, damit sich Arbeit wieder lohnt. In einer Zeit, in der die Debatte über die Höhe des Bürgergeldes vor dem Hintergrund der Behauptung vieler Kritiker, dass sich Arbeit nicht mehr lohnen würde, voll entbrannt war. Zuerst liefert der Beitrag einige Klarstellungen, beispielsweise: »Eine aufgeheizte Debatte braucht aktuelle Evidenz. Tatsächlich zeigt sich: Noch nie gingen so wenige Menschen aus Beschäftigung in die Grundsicherung (SGB-II-Arbeitslosigkeit) wie jetzt. Nach der Bürgergeldeinführung Anfang 2023 sind die Zugänge sogar weiter gesunken … Eine Flucht aus Beschäftigung ist das nicht.« Allerdings: »Auf der anderen Seite, also bei den Beschäftigungsaufnahmen, sieht es schwieriger aus: Die Jobchancen von Arbeitslosen sind tatsächlich gesunken, mit Corona gab es hier einen Knick. Seitdem verfestigt sich Arbeitslosigkeit stärker als zuvor, vor allem bei Menschen ohne Berufsabschluss.« Wobei im Jahr 2023 nach der Bürgergeldeinführung keine weiteren Rückgänge bei den Jobchancen zu beobachten waren.
Dann aber legt Weber den Finger auf eine vorhandene Wunde: »Für die Frage, wie attraktiv Arbeit ist, geht es nicht nur um die Höhe des Regelbedarfs. Ein vollzeitbeschäftigter Single mit einem Mindestlohnjob hat in der Regel ohnehin deutlich mehr als Bürgergeld. Genauso spielt aber eine Rolle, wie viel Geld am Ende des Monats in der Tasche bleibt, wenn eine Person einen Job ausweitet.« Und hier haben wir durchaus Problemstellen, die nicht nur am Bürgergeld an sich liegen:
»Hierbei gibt es über den Einkommensverlauf oft Sprungstellen und flache Bereiche, in denen sich eine Einkommensausweitung kaum lohnt. Das liegt nicht ausschließlich an den Regelungen des Bürgergeldes, wo zumindest in einem Bereich bis zu einem Einkommen von 1000 Euro ein Selbstbehalt von 30 Prozent gilt. Aber im Zusammenspiel mit weiteren Leistungen wie Wohngeld und Kinderzuschlag sind die Anreize in darüber liegenden Bereichen oft gering. Das gilt besonders für größere Haushalte.«
Weber nähert sich seinem Lösungsvorschlag: »Es kommt also darauf an, dass im Bezug von Bürgergeld und weiteren Sozialleistungen bei jeder Einkommenshöhe durchgängig Erwerbsanreize bestehen. Das könnte durch eine Integration von Leistungen erreicht werden.«
Und kommt dann das, was später zu einer völlig verzerrten Prämien-Debatte ausufern wird:
»So könnte die Unterstützung bei Wohnkosten in einer einheitlichen Leistung zusammengefasst werden, mit kontinuierlichen Transferentzugsraten (also der Prozentsatz, mit dem zusätzliches Einkommen auf eine Sozialleistung angerechnet wird). Denkbar wäre auch ein Erwerbszuschuss, der nahtlos ans Bürgergeld anschließt und über eine vereinheitlichte Entzugsrate abgebaut wird.« (Hervorhebung nicht im Original)
Zwischenfazit: An dieser Stelle muss man festhalten, dass der Vorschlag auf eine temporäre Absenkung der Anrechnung von Erwerbseinkommen und anderen Leistungen hinausläuft.
➔ Den Grundgedanke einer Verbesserung der Anrechnung von Erwerbseinkommen findet man auch im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien aus dem Jahr 2021: »Die Zuverdienstmöglichkeiten werden wir verbessern mit dem Ziel, Anreize für sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit zu erhöhen … Wir werden eine Reform auf den Weg bringen, die Bürgergeld (ehemals Arbeitslosengeld II), Wohngeld und gegebenenfalls weitere steuerfinanzierte Sozialleistungen so aufeinander abstimmt, beziehungsweise wo möglich zusammenfasst, so dass die Transferentzugsraten die günstigsten Wirkungen hinsichtlich Beschäftigungseffekten und Arbeitsmarktpartizipation in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung erzielen, die Zuverdienstmöglichkeiten verbessert und Grenzbelastungen von 100 und mehr Prozent ausgeschlossen werden.« (S. 60)
➔ Auch hier wurde schon vor Jahren über das Grundproblem der Zuverdienstregelungen berichtet und bei allen Forderungen nach Verbesserungen der Anrechnungsregeln wurde immer auch darauf hingewiesen, dass das natürlich auch Auswirkungen haben muss im Sinne steigender Empfänger-Zahlen und steigender Ausgaben. Das scheint der Hauptgrund dafür zu sein, dass sich hier politisch nichts bewegt hat. Und auch der Erwerbszuschuss wurde hier schon vor Jahren aufgegriffen und diskutiert, vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Erwerbsarbeit im unteren Lohnbereich soll sich mehr lohnen. Von Zuverdienstgrenzen, weiterführenden Reformvorschlägen und einigen Grundsatzfragen vom 31.12.2018.
Im weiteren Verlauf werden wir Zeugen eines doppelt problematischen, aber immer wieder zu beobachtenden Ablaufs: Zum einen verstricken sich Experten, weil sie mit durchaus guten Gründen alle möglichen Effekte und Nebeneffekte mitbedenken wollen, in einer sicher gut gemeinten, aber im Ergebnis komplexitätssteigernden Ausdifferenzierung der Lösungsvorschläge. Zum anderen erleben wir eine scheinbar die Komplexität reduzierende Aufnahme seitens der Politik, die aber im Ergebnis etwas ganz anderes oder zumindest ein weitreichend verändertes Produkt ans Tageslicht befördert, das dann Auslöser für Skandalisierungsprozesse wird bzw. werden kann.
Im Juni 2024 veröffentlichte Enzo Weber diesen erläuternden Beitrag, in dem man zum einen die angesprochene komplexitätssteigernde Ausdifferenzierung erkennen kann, zum anderen aber taucht hier erstmals explizit der Prämien-Ansatz auf: Eine Anschubhilfe im Bürgergeld könnte die Erwerbsanreize erheblich stärken: »Es mutet an wie die Quadratur des Kreises: Spürbar bessere Anreize zu setzen, den Bezug von Bürgergeld zu verlassen, ohne zugleich die Kosten dafür völlig aus dem Ruder laufen zu lassen. Einen möglichen Ausweg aus diesem Dilemma böte eine finanzielle Anschubhilfe, wenn Erwerbseinkommen ausgeweitet wird. Dafür gibt es verschiedene Varianten, etwa über die Einkommensanrechnung.«
Es geht Weber – auch und gerade im Kontext der dominierenden Debatte, mit Druck und Sanktionen mehr Menschen in irgendeine Beschäftigung zu bringen – um „positive Anreize: Anreize, Arbeit aufzunehmen und auszuweiten. Und da gibt es wahrlich Nachholbedarf. Denn wer Sozialleistungen bezieht und sein Arbeitseinkommen erhöht, hat trotzdem oft kaum mehr Geld zur Verfügung, weil die Sozialleistungen im Gegenzug typischerweise sehr stark abgeschmolzen werden. Das gilt besonders für größere Haushalte.«
Wäre der Selbstbehalt bei zusätzlichem Erwerbseinkommen höher, so wären auch die Arbeitsanreize größer. Allerdings: Auch ein Selbstbehalt von 30 Prozent bedeutet bei einem Mindestlohnjob faktisch nur einen Stundenlohn von 3,60 Euro. Ein deutlich höherer Selbstbehalt wird, wie bereits angedeutet, nicht möglich sein. Denn wenn die Transferentzugsraten sehr stark reduziert werden, nehmen die Kosten und die Zahl der Leistungsberechtigten zwangsläufig immens zu. In einer solchen Situation würde Beschäftigung – insbesondere im Niedriglohnsektor – durch aufstockende Leistungen umfassend subventioniert. Der Arbeitsmarkt würde sich entsprechend anpassen, es entstünde also Lohndruck nach unten. Das lässt sich etwa am Beispiel der stark subventionierten Minijobs beobachten, wo die Bruttolöhne niedriger liegen als in entsprechender sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung.
Und dann skizziert Weber seinen Vorschlag einer „Anschubhilfe“:
»Konkret könnte der Selbstbehalt bei der Aufnahme oder Ausweitung eines Jobs im ersten Jahr höher ausfallen. Dieser höhere Selbstbehalt würde für das zusätzliche Einkommen gelten. Gefördert würden also Arbeitsaufnahmen, etwa von Arbeitslosen, und Arbeitsausweitung, etwa von Aufstockern, die bislang SGB-II-Leistungen beziehen. Ein Zeitraum von einem Jahr, also über die sechsmonatige Probezeit hinaus, ist sinnvoll, um nachhaltige Beschäftigung zu fördern.«
Bei der Frage nach einer möglichen Umsetzung dieses Gedankens wird es dann aber komplizierter, weil unterschiedliche Varianten in den Raum gestellt werden:
Und hier sehen wir dann auch – als Variante 3 bezeichnet – die Möglichkeit der Umsetzung über eine Prämie, die nach sechs oder zwölf Monaten ausgezahlt werden könnte. Das ist nun schon eine erhebliche Abweichung von der ursprünglichen Idee eines Erwerbszuschusses über einen begrenzten Zeitraum im Anschluss an eine Arbeitsaufnahme.
Mittlerweile war der Vorschlag von Enzo Weber in der Politik angekommen – aber möglicherweise in der Form, den man in der Kommunikationswissenschaft als den Stille-Post-Effekt bezeichnet, sinnbildlich für die Verfälschung von Nachrichten durch die mehrfache Weitergabe von Informationen verwendet. Beim letzten Empfänger kommt am Ende eine andere Botschaft an als die am Anfang eingespeiste.
Der Umsetzungsversuch im Gefolge der Wachstumsinitiative der Bundesregierung im Sommer 2024: Eine (einmalige) Prämie unter dem Namen „Anschubfinanzierung“
»Zur nachhaltigen Stärkung der Wachstumskräfte und der Wettbewerbsfähigkeit hat sich die Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht 2024 auf eine umfassende und gezielte Angebotspolitik verständigt, die zugleich auch einen Beitrag zur Transformation leistet. Am 17. Juli hat das Bundeskabinett mit der Wachstumsinitiative nun 49 konkrete wirtschaftspolitische Maßnahmen beschlossen.« So das federführende Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) am 25.07.2024. Und weiter heißt es dort: »Ein großer Teil des Maßnahmenpaketes ist auf eine Verbesserung der Arbeitsanreize sowie eine schnellere (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt ausgerichtet.«
Darunter dann dieses Vorhaben: »Eine gezielte Stärkung der Arbeitsanreize ist auch für Langzeitarbeitslose vorgesehen, die aus dem Bürgergeld heraus eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufnehmen. Sie sollen in Zukunft eine Anschubfinanzierung in Form einer Prämie erhalten, die nicht auf andere Transferleistungen angerechnet wird, welche erst außerhalb des Bürgergeldes bezogen werden können (Wohngeld, Kinderzuschlag). Dadurch lohnt sich für Langzeitarbeitslose die Aufnahme einer Beschäftigung deutlich stärker, als dies bislang durch z.T. sehr hohe Transferentzugsraten der Fall ist.«
➔ Direkt nach dieser Ankündigung findet man dann diesen „Anreiz“: »Gleichzeitig sollen im Sinne des Förderns und Forderns die Pflichtverletzungen von Mitwirkungspflichten durch Bürgergeldbeziehende verschärft sanktioniert werden. Wer eine zumutbare Arbeit, Ausbildung oder Eingliederungsmaßnahme ohne triftigen Grund ablehnt, muss zukünftig mit einer Kürzung des Bürgergeldes von 30 Prozent des Regelbedarfs für drei Monate rechnen. Weil eine hohe und verbindliche Kontaktdichte zwischen Bürgergeldbeziehenden und Behörden zudem wichtig für den Vermittlungserfolg ist, soll der Regelbedarf künftig bei Meldeversäumnissen um 30 Prozent für einen Monat gekürzt werden können.«
Da war sie also in der Welt, die Prämie.
Gesetzestechnisch eingebaut wurde die Anschubprämie nachträglich im Huckepack-Verfahren in den Entwurf eines SGB III-Modernisierungsgesetzes (Gesetz zur Modernisierung der Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung (SGB-III-Modernisierungsgesetz) – Gesetzentwurf der Bundesregierung – BT-Drs 20/12779 vom 09.09.2024 sowie Formulierungshilfe für einen Änderungsantrag der Fraktionen SPD, Bündnis ’90/Die Grünen und FDP zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung v. 27.09.2024). In der Formulierungshilfe für die Ampel-Fraktionen fand man diese Platzierung der „Anschubfinanzierung“ genannten Prämie: Im § 16b SGB II sollte ein neuer Absatz 4 eingefügt werden:
»Erwerbsfähige langzeitarbeitslose Leistungsberechtigte erhalten für die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen bedarfsdeckenden Beschäftigung eine einmalige Anschubfinanzierung in Höhe von 1.000 Euro. Die Förderung kann nur erfolgen, wenn dieselbe Beschäftigung nicht bereits nach §§ 16e, 16i, mit dem Einstiegsgeld nach Absatz 1 oder nach § 88 des Dritten Buches gefördert worden ist (ungeförderte Beschäftigung). Die Anschubfinanzierung wird erbracht, wenn sich erwerbsfähige Leistungsberechtigte mindestens zwölf Monate ab einer Arbeitsaufnahme nach Satz 1 durchgehend in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis befunden haben und in den letzten sechs Monaten dieses Zeitraums kein Bürgergeld bezogen wurde … Die Anschubfinanzierung wird nur einmal innerhalb von 24 Monaten erbracht.«
Quelle: Formulierungshilfe für einen Änderungsantrag der Fraktionen SPD, Bündnis ’90/Die Grünen und FDP zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung v. 27.09.2024, S. 4
Man achte auf die Ausformulierung: Es muss um die Aufnahme nicht nur einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gehen, sondern diese muss bedarfsdeckend sein, also mit ihr darf kein Aufstockungstatbestand verbunden sein (zumindest in den letzten sechs Monaten einer einjährigen Beschäftigung). Dann soll es eine einmalige Prämie geben – aber nicht am Anfang der Beschäftigungsaufnahme, sondern gleichsam wie eine Art Weihnachtsgeschenk nach (frühestens) 12 Monaten, die man durchgehalten haben muss, bevor man an die Prämie kommen kann. Und wenn man die einmal ausgereicht bekommen hat, dann geht damit eine „Transfersperre“ von zwei Jahren einher.
Damit sind wir nicht nur weg von der ursprünglichen Idee eines Erwerbszuschusses und bei einer einmaligen Prämie angekommen – ein aus der Binnensicht der Verwaltung bekanntes und bewährtes Instrument, wir kennen solche einmaligen Prämien ja auch aus dem Weiterbildungsbereich.
Aber auch wenn das unter die Begrifflichkeit „Anschubfinanzierung“ gestellt wurde – es handelt sich bei dieser Art der Ausgestaltung eher um eine „Durchhalteprämie“, die man nach mindestens zwölf Monaten auf nicht allen, sondern bestimmten sozialversicherungspflichtigen Jobs (bedarfsdeckende Beschäftigung) bekommen würde. Das ist jetzt nicht nur eine semantische Spielerei, sondern die Charakterisierung verweist auf das, was passierte, als dieses eine Vorhaben bekannt wurde.
Aufritt BILD-Zeitung und die Mobilisierung der Massen: Die „Arsch-hoch“-Prämie wird geboren und in die tagespolitische Umlaufbahn geschossen
Kurz nach der Veröffentlichung des Vorhabens, eine Prämie auszuzahlen, wurde „das Verhetzungspotenzial des Themas“ (so eine Formulierung in dem Beitrag 1000 Euro für Langzeitarbeitslose – Wie ein Wissenschaftler in die Mühlen der Politik geriet von Andreas Niesmann und Alisha Mendgen) erkannt. Die BILD-Zeitung packte das Vorhaben unter die vulgäre, aber massentaugliche Formulierung von der „Arsch-hoch-Prämie“ (die allerdings rein inhaltlich falsch ist, denn wenn, dann müsste man von einer „Prämie, nachdem Du vor 12-Monaten den Hintern hoch bekommen und dann durchgehalten hast“ sprechen, aber das passt ja in keine Überschrift). Im Anschluss an ein mediales Dauerfeuer auf dieses Vorhaben ging es richtig ab.
„Die 1000-Euro-Prämie ist blanker Hohn für diejenigen, die seit Jahren ihren Job machen“, ließ CSU-Generalsekretär Martin Huber wissen. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann nannte die Idee „absurd“. Auch Koalitionspolitiker gingen auf Distanz. FDP-Haushaltsexperte Frank Schäffler sprach von einem „Unding“, das gestoppt werden müsse. Der grüne Sozialpolitiker und frühere Gewerkschaftschef Frank Bsirske bezeichnete die Zahlung als „nicht erforderlich“, weil Menschen nach seiner Erfahrung auch ohne zusätzlichen Anreiz Arbeit aufnehmen würden, so nur einige ausgewählte Äußerungen von Politikern, die von Niesmann und Mendgen zitiert werden.
Die (im Vergleich zum ursprünglichen Ansatz eines Erwerbszuschusses bereits kleingeschredderte) Prämie war also tot, bevor sie überhaupt den Geburtskanal im Bürgergeld-allergischen Berlin erreichen konnte. Aber man sollte den Flurschaden nicht unterschätzen, den die Berichterstattung (nicht nur) der BILD-Zeitung in diesem Fall bei vielen Menschen angerichtet hat, die sich durchaus verständlich aufgeregt haben, was da wieder ausgeschüttet werden soll an Leute, von denen man vorher seit Monaten berichtet bekommen hat, dass sie sich vor Arbeit drücken und sich auf Kosten der vielen arbeitenden Menschen einen Lenz machen. Das führt zu einer hochgradig emotionalisierten Abwehr aufgrund einer wahrgenommenen Verletzung von Gerechtigkeitsvorstellungen.
➔ Enzo Weber hat das durchaus antizipiert und bei der Diskussion der von ihm skizzierten drei Varianten bei der Erläuterung des Prämienmodells ausgeführt: »Zudem ließen sich die Varianten über den Selbstbehalt eher als systematische Verbesserung von Negativanreizen kommunizieren und organisieren, während Prämien eher wie Extraleistungen wirken könnten.« Und Extraleistungen lösen dann eher, muss man hier ergänzen, Neidgefühle bzw. Gerechtigkeitsverletzungen aus, weil viele Menschen fragen (werden), warum gerade „solche Menschen“ auch noch eine Extraleistung bekommen sollen, was zugleich auch als Bestätigung der (wieder einmal, allerdings mit im Vergleich zu früheren Zeiten neuer Härte und Schärfe) eskalierten „Drückeberger-Debatte“ der letzten Monate wahrgenommen werden kann. Diesen Resonanzboden haben BILD & Co. zielgerichtet genutzt und das in ihrem Sinne erfolgreich, wenn man das Endergebnis anschaut.
Finale und Abgang: Den ursprünglich angedachten Erwerbszuschuss gibt es eigentlich schon seit langem im SGB II
Sehr oft kann ein Blick in das Gesetz hilfreich sein, so auch im vorliegenden Fall. Denn die eingangs von Enzo Weber (und auch vielen anderen) vorgetragenen Diagnosen, was die teilweise erheblichen Anreizprobleme zwischen Grundsicherungsbezug und Erwerbsarbeit angeht, sind ja nun wirklich nicht neu und der Gesetzgeber hat in der Vergangenheit durchaus darauf zu reagieren versucht. Also könnte man, wenn man denn suchen würde, im § 16b SGB II diese Leistung finden:
§ 16b Einstiegsgeld
(1) Zur Überwindung von Hilfebedürftigkeit kann erwerbsfähigen Leistungsberechtigten bei Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit ein Einstiegsgeld erbracht werden, wenn dies zur Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt erforderlich ist. Das Einstiegsgeld kann auch erbracht werden, wenn die Hilfebedürftigkeit durch oder nach Aufnahme der Erwerbstätigkeit entfällt.
(2) Das Einstiegsgeld wird, soweit für diesen Zeitraum eine Erwerbstätigkeit besteht, für höchstens 24 Monate erbracht. Bei der Bemessung der Höhe des Einstiegsgeldes sollen die vorherige Dauer der Arbeitslosigkeit sowie die Größe der Bedarfsgemeinschaft berücksichtigt werden, in der die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte lebt.
Das nun liest sich wie eine gesetzgeberische Grundlegung des ursprünglich geforderten Erwerbszuschusses, der hier hervorragend anzudocken wäre, wenn man denn wollte.
Zugleich zeigt dann die weiterführende Auseinandersetzung mit diesem Instrument zum einen die immer wieder auch anzutreffenden gut gemeinten Bemühungen, durch eine Abbildung möglichst aller möglichen Fallkonstellationen ein breit einsetzbares Instrument zu beschreiben, das viele Möglichkeitsräume öffnen bzw. zulassen würde, auf der anderen Seite ist mit diesem an sich lobenswerten Vorgehen eben auch verbunden, dass es zu einer teilweise hyperkomplexen Ausdifferenzierung der Voraussetzungen und Anforderungen an die Anwender kommt.
Wie in einem Lehrbuch kann man diese positiv gemeinte wie zugleich problematisch wirkende Doppelgesichtigkeit des sich ausdifferenzierenden Gesetzgebungsschaffens am § 16b SGB II verdeutlichen. Denn im Absatz 2 des Paragrafen heißt es: „Bei der Bemessung der Höhe des Einstiegsgeldes sollen die vorherige Dauer der Arbeitslosigkeit sowie die Größe der Bedarfsgemeinschaft berücksichtigt werden, in der die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte lebt.“ Und im Absatz 3 wird dann ausgeführt: „Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen ohne Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung zu bestimmen, wie das Einstiegsgeld zu bemessen ist.“
Eine Rechtsverordnung kann weiter konkretisieren und beim Einstiegsgeld hat man sich das nicht zweimal sagen lassen. Also gibt es – keine Überraschung mehr an dieser Stelle – auch seit langem eine Einstiegsgeld-Verordnung – ESGV. Und hier haben sich viele Köpfe Gedanken gemacht, wie man eine sicher gut gemeinte Absicht auch rechtssicher auf Papier brennen kann. Und erneut bekommen wir etwas geliefert, was die angesprochene Doppelgesichtigkeit (also die möglichst umfassende Abbildung vieler Fallkonstellationen, um allen gerecht werden zu können, gleichzeitig aber auch eine immer komplexer daherkommende rechtssicher sein sollende juristische Ausformulierung, die dem einen oder anderen als ein überbürokratisiertes Gehäuse erscheint. Schauen wir uns dazu nur beispielhaft die auf dem Verordnungsweg vorgenommene Konkretisierung der Höhe dieses Einstiegsgeldes an:
§ 1 Einzelfallbezogene Bemessung des Einstiegsgeldes
(1) Bei der einzelfallbezogenen Bemessung des Einstiegsgeldes ist ein monatlicher Grundbetrag zu bestimmen, dem Ergänzungsbeträge hinzugefügt werden sollen. Der monatliche Grundbetrag berücksichtigt den für erwerbsfähige Leistungsberechtigte jeweils maßgebenden Regelbedarf. Die Ergänzungsbeträge berücksichtigen die vorherige Dauer der Arbeitslosigkeit und die Größe der Bedarfsgemeinschaft, in der die oder der erwerbsfähige Leistungsberechtigte lebt.
(2) Der Grundbetrag des Einstiegsgeldes darf höchstens 50 vom Hundert des für erwerbsfähige Leistungsberechtigte maßgebenden Regelbedarfs nach § 20 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch betragen. Bei der Bemessung kann festgelegt werden, dass sich die Höhe des Grundbetrages innerhalb des Förderzeitraums in Abhängigkeit von der Förderdauer verändert.
(3) Bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die vor Aufnahme der mit Einstiegsgeld geförderten sozialversicherungspflichtigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit bereits zwei Jahre oder länger arbeitslos waren, soll ein Ergänzungsbetrag gezahlt werden. Der Ergänzungsbetrag entspricht 20 vom Hundert des Regelbedarfs zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 20 Absatz 2 Satz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch. Bei Personen, deren Eingliederung in Arbeit wegen in ihrer Person liegender Umstände erschwert ist, soll der Ergänzungsbetrag nach Satz 2 bereits nach einer vorherigen Dauer der Arbeitslosigkeit von mindestens sechs Monaten gezahlt werden. § 18 Absatz 2 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch gilt für Satz 1 und Satz 3 entsprechend.
(4) Bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die mit weiteren Personen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, soll je weiterer leistungsberechtigter Person ein Ergänzungsbetrag gezahlt werden. Der Ergänzungsbetrag entspricht 10 vom Hundert des Regelbedarfs zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 20 Absatz 2 Satz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch.
(5) Das Einstiegsgeld für erwerbsfähige Leistungsberechtigte darf bei der einzelfallbezogenen Bemessung monatlich einen Gesamtbetrag nicht überschreiten, der dem Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 20 Absatz 2 Satz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch entspricht.
Anmerkung: Hervorhebungen nicht im Original der Rechtsverordnung
Auf der einen Seite erkennt man das Bemühen, bloß nichts zu vergessen und das durchaus im Sinne der (potenziell) betroffenen Menschen. Auf der anderen Seite ist die Konstruktion und das Niederschreiben solcher differenzierten Regelungen das eine, zugleich muss man das aber auch in der Praxis einer Massenverwaltung umsetzen können, dahinter verbirgt sich ein enormer Arbeitsaufwand und der dann auch noch verbunden mit der latenten Androhung, bei einer fehlerhaften Anwendung der Rechtsvorschriften Ärger zu bekommen. Das verzögert im besten Fall die Prozesse, begrenzt die Zahl der tatsächlich Begünstigten oder blockiert die Nutzung dieses Instruments, weil man dem damit verbundenen Aufwand auszuweichen versucht. Selbst wenn man dann innerhalb des Verwaltungsapparates Vorgaben bekommt (x Fälle in y Monaten zu produzieren), dann wird man unter Druck versuchen, möglichst standardisierbare oder – was die Rahmenbedingungen des Haushaltskontexts angeht – „leichte“ Fälle herauszusuchen und zu bedienen, die anderen aber lieber abzublocken. Das wird umso mehr passieren, wenn es sich eben nicht um eine Leistung mit einem individuellen Rechtsanspruch handelt, sondern um eine Kann-Leistung. Und genau so verhält es sich mit dem Einstiegsgeld nach § 16b SGB II. Das kann erbracht werden (siehe § 16b Abs. 1).
Es ist nun nicht so, dass dieses bereits etablierte Instrument nun gar nicht zur Anwendung kommt, aber die Zahlen der tatsächlichen Gewährung von Einstiegsgeld sind eher überschaubar, wenngleich dieses Instrument nach dem Eingliederungszuschuss die größte Bedeutung hat unter den Instrumenten, die unter der Rubrik „Aufnahme einer Erwerbstätigkeit“ geführt werden. Nach der Statistik der Bundesagentur für Arbeit stellt sich die Situation in Deutschland so dar (in Klammern die Werte für 2023):
Jahresdurchschnittlicher Bestand an Personen mit Einstiegsgeld:
2024: 22.656 (23.913)
Eintritte in eine Förderung über das Einstiegsgeld (Jahressumme):
2024: 65.590 (62.410)
Das ist nicht nichts, aber dennoch verdeutlicht die Größenordnung auch die relative Begrenztheit des vorhandenen Instruments. Das liegt a) vor allem an den zur Verfügung stehenden, also begrenzten Haushaltsmitteln, die für alle Kann-Leistungen eingesetzt und damit verteilt werden müssen, b) zum anderen aber auch an der Komplexität der leistungsrechtlichen Bestimmungen, wie ausgeführt.
Die mal kurzzeitig geplante, dann aber wieder versenkte Anschubfinanzierung in Form einer nachgelagerten einmaligen Prämie hätte hier einen wesentlichen Unterschied mit sich gebracht: Diese Leistung wäre keine im Ermessen stehende Kann-Leistung gewesen, sondern eine Pflichtleistung, also die Betroffenen hätten einen Rechtsanspruch gehabt.
Aber das wird es nicht geben. Unabhängig davon, dass man mit guten Gründen den ganzen Ansatz der Anschubfinanzierung aus inhaltlichen Gründen verwerfen kann – die hier geschilderten Vorgänge verdeutlichen neben den vielen anderen parallel laufenden Prozessen die zerstörerische Wucht der medialen Kampagnen, denen (nicht nur) das Bürgergeld ausgesetzt ist. Und sie sind erfolgreich.