Es ist wahrlich kein Geheimnis, dass es zahlreiche Umgehungsversuche die gesetzliche Lohnuntergrenze für (fast) alle betreffend, gibt. Und dass die Kontrollen viel zu selten und Nachzahlungen noch seltener sind. Es wird immer weniger kontrolliert, zugleich die steigt die Zahl der eingeleiteten Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen Verstößen gegen das Mindestlohngesetz (vgl. hierzu die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage im Bundestag: Mindestlohnbetrug und Kontrollen zur Einhaltung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland, BT-Drs. 20/12347 vom 19.07.2024).
Man kann sich an einer – der Antwort der Bundesregierung entnommenen – Zahl verdeutlichen, wie viele Menschen darauf angewiesen sind, dass ihre Arbeitgeber sich an das Mindeste auch halten, auf die die Beschäftigten einen Anspruch haben: So wurde nach der Verdiensterhebung aus dem April 2023 in Deutschland bezogen auf 30 Millionen Beschäftigungsverhältnisse mit Gültigkeit des Mindestlohngesetzes in insgesamt 8,4 Millionen Beschäftigungsverhältnissen (ohne Auszubildende, Praktikantinnen/Praktikanten, Minderjährige) weniger als 14 Euro in der Stunde verdient. Das sind 28 Prozent aller abhängig Beschäftigten in Deutschland.
Aber hier soll es nicht um einen Gesamtblick auf die Mindestlohnthematik gehen, sondern um einen – scheinbar skurril daherkommenden – Sonderfall der Vermeidung der Zahlung des Mindestlohns, der es (am Ende nicht) bis vor das Bundesverfassungsgericht geschafft hat. Schauen wir genauer hin:
Der Sachverhalt
Der Fall, über den hier zu berichten ist, hat es bereits bis hinauf zum Bundesarbeitsgericht (BAG) geschafft. Am 25. April 2023 veröffentlichte das höchste deutsche Arbeitsgericht unter der Überschrift Arbeitnehmerstatus eines Vereinsmitglieds im Yoga-Ashram diese Sachverhaltsdarstellung:
»Der Beklagte ist ein gemeinnütziger Verein, dessen satzungsmäßiger Zweck „die Volksbildung durch die Verbreitung des Wissens, der Lehre, der Übungen und der Techniken des Yoga und verwandter Disziplinen sowie die Förderung der Religion“ ist. Zur Verwirklichung seiner Zwecke betreibt er Einrichtungen, in denen Kurse, Workshops, Seminare, Veranstaltungen und Vorträge zu Yoga und verwandten Disziplinen durchgeführt werden. Dort bestehen sog. Sevaka-Gemeinschaften. Sevakas sind Vereinsangehörige, die in der indischen Ashram- und Klostertradition zusammenleben und ihr Leben ganz der Übung und Verbreitung der Yoga Vidya Lehre widmen. Sie sind aufgrund ihrer Vereinsmitgliedschaft verpflichtet, nach Weisung ihrer Vorgesetzten Sevazeit zu leisten. Gegenstand der Sevadienste sind zB Tätigkeiten in Küche, Haushalt, Garten, Gebäudeunterhaltung, Werbung, Buchhaltung, Boutique etc. sowie die Durchführung von Yogaunterricht und die Leitung von Seminaren. Als Leistung zur Daseinsfürsorge stellt der Beklagte den Sevakas Unterkunft und Verpflegung zur Verfügung und zahlt ein monatliches Taschengeld iHv. bis zu 390,00 Euro, bei Führungsverantwortung bis zu 180,00 Euro zusätzlich. Sevakas sind gesetzlich kranken-, arbeitslosen-, renten- und pflegeversichert und erhalten eine zusätzliche Altersversorgung.«
Damit war eine von insgesamt drei Betroffenen nicht zufrieden:
»Die Klägerin ist Volljuristin. Sie lebte vom 1. März 2012 bis zur Beendigung ihrer Mitgliedschaft beim Beklagten am 30. Juni 2020 als Sevaka in dessen Yoga-Ashram und leistete dort im Rahmen ihrer Sevazeit verschiedene Arbeiten. Die Klägerin hat geltend gemacht, zwischen den Parteien habe ein Arbeitsverhältnis bestanden, und verlangt ab dem 1. Januar 2017 auf der Grundlage der vertraglichen Regelarbeitszeit von 42 Wochenstunden gesetzlichen Mindestlohn iHv. 46.118,54 Euro brutto.«
Der beklagte gemeinnützige Verein »hat eingewendet, die Klägerin habe gemeinnützige Sevadienste als Mitglied einer hinduistischen Ashramgemeinschaft und nicht in einem Arbeitsverhältnis geleistet. Die Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG und das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG iVm. Art. 137 WRV ermöglichten es, eine geistliche Lebensgemeinschaft zu schaffen, in der die Mitglieder außerhalb eines Arbeitsverhältnisses gemeinnützigen Dienst an der Gesellschaft leisteten.«
Hier geht es also nicht nur um die Frage Mindestlohn oder nicht, sondern um eine verfassungsrechtlich ganz große Nummer: »Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG und das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG iVm. Art. 137 WRV.« Auch Nicht-Juristen in der Sozialpolitik werden das sofort einem ganz großen Geflecht zuordnen können, beispielsweise dem Sonderarbeitsrecht der anerkannten Kirchen in unserem Land.
Was ist auf dem Instanzenzug bis zum vergangenen Jahr passiert? Hier die Kurzfassung des BAG:
»Das Arbeitsgericht hat – soweit für die Revision von Bedeutung – der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage auf die Berufung des Beklagten abgewiesen. Die Revision der Klägerin hatte vor dem Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg.«
Mit welcher Begründung? Die war eindeutig:
»Die Klägerin war Arbeitnehmerin des Beklagten und hat für den streitgegenständlichen Zeitraum Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nach § 1 Abs. 1 iVm. § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG. Sie war vertraglich zu Sevadiensten und damit iSv. § 611a Abs. 1 BGB zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet. Der Arbeitnehmereigenschaft stehen weder die besonderen Gestaltungsrechte von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften noch die Vereinsautonomie des Art. 9 Abs. 1 GG entgegen.«
Aber ist der Verein Yoga Vidya, der das Yoga Zentrum in Bad Meinberg betreibt, nicht eine Religionsgemeinschaft? Das hat das BAG verneint, mit dieser fast schon theologisch daherkommenden Begründung:
»Der Beklagte ist weder Religions- noch Weltanschauungsgemeinschaft. Es fehlt das erforderliche Mindestmaß an Systembildung und Weltdeutung. Der Beklagte bezieht sich in seiner Satzung ua. auf Weisheitslehren, Philosophien und Praktiken aus Indien und anderen östlichen und westlichen Kulturen sowie auf spirituelle Praktiken aus Buddhismus, Hinduismus, Christentum, Taoismus und anderen Weltreligionen. Aufgrund dieses weit gefassten Spektrums ist ein systemisches Gesamtgefüge religiöser bzw. weltanschaulicher Elemente und deren innerer Zusammenhang mit der Yoga Vidya Lehre nicht hinreichend erkennbar.«
Dann bleibt noch der Bezug auf die Vereinsautonomie – aber auch hier ist das BAG klar in seiner Zurückweisung daraus abgeleiteter Sonderrechte (von denen dann ja viele Vereine Gebrauch machen können würden wollen):
»Auch die grundgesetzlich geschützte Vereinsautonomie (Art. 9 Abs. 1 GG) erlaubt die Erbringung fremdbestimmter, weisungsgebundener Arbeitsleistung in persönlicher Abhängigkeit außerhalb eines Arbeitsverhältnisses allenfalls dann, wenn zwingende arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen nicht umgangen werden. Zu diesen zählt ua. eine Vergütungszusage, die den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn garantiert, auf den Kost und Logis nicht anzurechnen sind. Denn dieser bezweckt die Existenzsicherung durch Arbeitseinkommen als Ausdruck der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG).«
Ganz oben ist man für die grundsätzliche An- und Aussage zuständig, für die lebenspraktischen Details wie der Höhe des Nachzahlungsanspruchs verweist man dann an die unteren Instanzen:
»Der Neunte Senat konnte auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht abschließend über die Höhe des Mindestlohnanspruchs der Klägerin entscheiden und hat den Rechtsstreit deshalb an das Landearbeitsgericht zurückverwiesen.«
Am 15. Mai 2024 wurde daran anschließend berichtet: »Drei ehemalige Mitarbeiter im Yoga Vidya in Bad Meinberg, die den Verein Yoga Vidya auf nachträgliche Zahlung eines Gehalts verklagt haben, haben vor dem Landesarbeitsgericht Hamm recht bekommen. Damit steht endgültig fest: Der Verein Yoga Vidya muss den Klägerinnen nun Mindestlohn nachzahlen … Die Entscheidung der Richter in Hamm vom 14. Mai 2024 ist endgültig – eine erneute Revision ließen die Richter nicht zu.«
Zwischenfazit: Das BAG hatte die Eigenschaft des Zentrums als Religionsgemeinschaft verneint und die Arbeitnehmereigenschaft der Frau festgestellt (BAG, Urt. v. 25.04.2023, Az. 9 AZR 254/22). Das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm verurteilte das Zentrum daraufhin zur nachträglichen Zahlung des Mindestlohns, insgesamt rund 42.000 Euro (Urt. v. 14.05.2024, Az. 6 Sa 1128/23 u.a.). Diese Entscheidungen ergingen zum Fall der Juristin und eines weiteren ehemaligen Mitglieds des Zentrums.
Und warum kommt nun doch das Bundesverfassungsgericht ins Spiel?
Dazu kann man dem Bericht Kursplanung und Produktvertrieb sind keine religiöse Tätigkeiten von Tanja Podolski entnehmen:
»Das Zentrum hatte sich mit den Verfassungsbeschwerden gegen zwei Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) gewandt. In einem Fall ging es um eine Volljuristin. Sie hatte rund acht Jahre in dem Yoga-Zentrum in dem kleinen Ort Horn-Bad Meinberg gemeinsam mit etwa 200 anderen Menschen nach alter indischer religiöser Ashram- und Klostertradition gelebt und gearbeitet. Sie hatte dort Seminare organisiert, die Social-Media-Aktivitäten geplant und später die Leitung einer Abteilung übernommen. Bekommen hat sie dafür ein Taschengeld sowie Unterkunft und Verpflegung.«
Gegen die Urteile des BAG richtete sich der Verein mit den Verfassungsbeschwerden – allerdings erfolglos, wie das BVerfG am 18. Juli 2024 unter der Überschrift Erfolglose Verfassungsbeschwerden gegen zwei arbeitsgerichtliche Verurteilungen zur Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns für die Mitarbeit in einem Yoga- und Meditationszentrum mitgeteilt hat: Das Gericht habe „zwei Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen“, heißt es dort. Und wie begründet man das?
»Die Verfassungsbeschwerden bleiben ohne Erfolg. Es kann offenbleiben, ob die Annahme des Bundesarbeitsgerichts, bei dem Beschwerdeführer handele es sich nicht um eine Religionsgemeinschaft, mit Art. 4 Abs. 1 und 2 Grundgesetz vereinbar ist. Denn es ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass die von den Klägerinnen geleisteten Dienste der Aufrechterhaltung des Beherbergungs- und Seminarbetriebs des Vereins und des Vertriebs von Yoga-Produkten, um deren arbeitsrechtliche Beurteilung es hier geht, für sich genommen religiös geprägt waren.«
Anders und in den Worten von Tanja Podolski ausgedrückt: »Seminarplanung und Vertrieb von Yoga-Produkten haben nichts mit Religionsausübung zu tun. Ein Yoga-Zentrum muss daher den Mindestlohn an ehemalige Mitglieder nachzahlen. Niemand weiß, ob das Yoga-Zentrum „Yoga Vidya e.V.“ (Yoga Vidya) von der Religionsfreiheit geschützt ist. Die dort geleisteten Dienste zur Seminarplanung und Verkauf von Yoga-Produkten sind es jedenfalls nicht.«
Man muss also unterscheiden zwischen der Frage nach dem Status einer Religionsgemeinschaft (und den damit einhergehenden und höchst umstrittenen Sonderrechten) und der Einordnung der konkreten Tätigkeiten, die in der und für die Einrichtung gemacht werden:
»Die 3. Kammer des Ersten Senats ließ – wie schon das BAG – offen, ob es sich bei dem Yoga-Zentrum um eine Religionsgemeinschaft handelt und sie damit vom Grundrecht auf Religionsfreiheit aus Art. 4 Grundgesetz (GG) geschützt sein könnte. Denn darauf komme es hier gar nicht an, so das BVerfG. Bei den Diensten, die die Mitglieder im Yoga-Zentrum leisteteten, sei es um die Aufrechterhaltung des Beherbergungs- und Seminarbetriebs des Vereins und des Vertriebs von Yoga-Produkten gegangen. Es sei weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass diese Dienste für sich genommen religiös geprägt waren, so die Kammer«, so Podolski.
Sie erläutert auch mit Bezug schon auf die vorgängigen Grundsatzentscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) die Bedeutung der Frage nach dem Status einer Religionsgemeinschaft und zeigt die Parallelen zu den Kirchen bzw. kirchlichen Einrichtungen auf (und genau darauf hat der klagende Yoga-Verein ja auch spekuliert):
»Der Yoga-Verein hatte bei den Verfahren in den Instanzgerichten ausgeführt, das Leben in der sogenannten Ashram-Gemeinschaft unterscheide sich nicht von demjenigen in christlichen Klöstern. Wäre das BAG dieser Einschätzung gefolgt, hätte dies den Ausschluss der Arbeitnehmereigenschaft für die auf Zahlung des Mindestlohns klagenden Mitglieder bedeuten können. Solche religiösen Gemeinschaften können Verträge abschließen, die wie Arbeitsverträge anmuten, aber keine sind. Das kommt etwa bei Mönchen in ihren eigenen Klöstern vor oder bei Rote-Kreuz-Schwestern einer DRK-Schwesternschaft (BAG, Beschl. v. 21.02.2017, Az. 1 ABR 62/12). Mit diesen Diensten sind die in der sogenannten Sevaka in dem Yoga-Zentrum aber nach den Beschlüssen des BVerfG nicht vergleichbar.«
Das ist nicht ohne Kritik geblieben
Fabian Wittreck, Leiter des Instituts für Öffentliches Recht und Politik an der Universität Münster, ärgert sich über diese Entscheidung. Er hat ein Gutachten für das Yoga-Zentrum zu den BAG-Entscheidungen verfasst und bemängelt: „Aus meiner Sicht messen das BAG und jetzt auch das BVerfG mit zweierlei Maß.“ Podolski zitiert seine Begründung so:
»Er verweist auf die Lumpensammler-Entscheidung des BVerfG (Beschl. v 16.10.1968, Az. 1 BvR 241/66). In dem Fall hatte die als Verein organisierte Katholische Landjugend bundesweit gebrauchte Kleidung, Lumpen und Altpapier gesammelt. Mit dem Erlös aus dem Weiterverkauf unterstützte der Verein andere Jugendbewegungen in armen Ländern. Der Verein erwirtschaftete damals mehrere Millionen Deutsche Mark. „Damals hat das BVerfG auf das Selbstverständnis des Vereins als Religionsgemeinschaft abgestellt und diese Wertung auf die Tätigkeit ausgeweitet“, sagt Wittreck: Denn wenn der Verein selbst vom Schutzbereich erfasst sei, müsse sich diese Wertung auch auf die Tätigkeit beziehen, mit denen die Mitglieder die Mittel für die karitativen Zwecke besorgen. „Wenn das BVerfG das nun bei Tätigkeiten für ein hinduistisches Kloster anders sieht, muss man sich fragen, wie die Wertung bei einem Mönch ist, der im Klosterkeller arbeitet“, so der Uni-Professor. „Bei christlichen Gemeinschaften würde man diese Frage aber nicht stellen.“«