Er ist geschrumpft. Der Niedriglohnsektor in Deutschland

16 Prozent der abhängig Beschäftigten in Deutschland haben im April 2023 im Niedriglohnsektor gearbeitet. Anders ausgedrückt: Der Verdienst von rund 6,4 Millionen Jobs lag unterhalb der Niedriglohnschwelle von 13,04 Euro brutto je Stunde. Das waren 1,1 Millionen Niedriglohnjobs weniger als im April 2022 (7,5 Millionen), so das Statistische Bundesamt: 1,1 Millionen weniger Niedriglohnjobs im April 2023 gegenüber April 2022. Der Anteil dieser Jobs an allen Beschäftigungsverhältnissen sank innerhalb eines Jahres bundesweit von 19 Prozent auf 16 Prozent. Und wie ist es dazu kommen? Dazu schreiben die Bundesstatistiker: »Eine Erklärung für diese Entwicklung ist der zwischen Januar und Oktober 2022 von 9,82 Euro auf 12,00 Euro gestiegene Mindestlohn.«

Nun sind die Anteilswerte und damit die Bedeutung der Niedriglohnjobs zwischen den Branchen wie fast alles auf dieser Welt ungleich verteilt, in diesem Fall höchst ungleich: In der öffentlichen Verwaltung (4 Prozent), in der Finanz- und Versicherungsbranche (6 Prozent) und in der Informations- und Kommunikationsbranche (7 Prozent) waren und sind Niedriglöhner eine Ausnahmeerscheinung. Ganz anders in diesen Branchen: Gut jedes zweite Beschäftigungsverhältnis im Gastgewerbe (51 Prozent) lag im April 2023 im Niedriglohnsektor. In der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft (43 Prozent) und im Bereich Kunst, Unterhaltung und Erholung (36 Prozent) war der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten ebenfalls überdurchschnittlich hoch.

Gibt es weitere Unterschiede? Beispielsweise zwischen den Geschlechtern? Ja, die gibt es (weiterhin): Knapp jede fünfte Frau (19 Prozent) arbeitete im April 2023 in Deutschland im Niedriglohnsektor. Bei den Männern war es knapp jeder siebte (13 Prozent). Der Anteil an Beschäftigungsverhältnissen im Niedriglohnsektor sank bei den Frauen mit einem Rückgang von 23 auf 19 Prozent im Zeitraum April 2022 bis April 2023 etwas stärker als bei den Männern. Hier ging er von 16 auf 13 Prozent zurück.

Und wie ist das mit dem Mindestlohn? Dazu berichten die Statistiker:

»Im April 2023 wurden deutschlandweit 2,4 Millionen Jobs mit dem gesetzlichen Mindestlohn von 12 Euro bezahlt. Das entspricht 6,2 % aller mindestlohnberechtigten Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland. Gut jedes vierte geringfügig entlohnte Beschäftigungsverhältnis erhielt den Mindestlohn (26,6 %). Jobs in Voll- oder Teilzeit wurden dagegen deutlich seltener mit Mindestlohn vergütet (1,4 % bzw. 5,0 %).«

Und wo kommen diese Zahlen her?

➔ Bei den Angaben handelt es sich um Ergebnisse der Verdiensterhebungen 2022 und 2023 zum Berichtsmonat April. In der Verdiensterhebung werden mit Hilfe einer geschichteten Stichprobe Angaben von 58.000 Betrieben zu Verdiensten und Arbeitszeiten von abhängig Beschäftigten erhoben. Zum Niedriglohnsektor zählen alle Beschäftigungsverhältnisse, die mit weniger als zwei Drittel des mittleren Bruttostundenverdienstes (13,04 Euro im April 2023 bzw. 12,50 Euro im April 2022) entlohnt werden. Auszubildende werden bei dieser Analyse ausgeschlossen.

Der Niedriglohnsektor schrumpft, nicht aber die Einkommensungleichheit

Parallel zur Veröffentlichung der Daten aus den Verdiensterhebungen hat sich das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin zu Wort gemeldet: Niedriglohnsektor auf Tiefstand. Gleichzeitig wird nachgeschoben: „… aber Einkommensungleichheit nimmt nicht ab.“ Grundlage ist diese Veröffentlichung:

➔ Markus M. Grabka (2024): Niedriglohnsektor in Deutschland schrumpft seit 2017, in: DIW Wochenbericht, Nr. 5/2024

Auch hier spielt der Mindestlohn eine prominente Rolle. Die Kurzfassung geht so:

»Die Bruttostundenlöhne von abhängig Beschäftigten sind im Zeitraum 1995 bis 2021 inflationsbereinigt durchschnittlich um 16,5 Prozent gewachsen, unter den Vollzeitbeschäftigten sogar um 25 Prozent. Insbesondere bei den niedrigsten Löhnen gibt es seit 2013 starke Zuwächse, vor allem aufgrund der Einführung des Mindestlohns 2015 und dessen Erhöhungen in den folgenden Jahren. Im Ergebnis ist der Niedriglohnsektor von einem Höchststand von 23,5 Prozent im Jahr 2007 auf zuletzt 15,2 Prozent im Oktober 2022 geschrumpft. Die positive Lohnentwicklung wirkt sich auch auf die Haushaltsnettoeinkommen aus. Diese sind zwischen 1995 und 2020 inflationsbereinigt im Schnitt um 33 Prozent gestiegen. Gleichzeitig hat die Spreizung der Einkommen insgesamt zugenommen. Während die zehn Prozent der niedrigsten Einkommen nur um vier Prozent gestiegen sind, haben die obersten zehn Prozent eine Steigerung von 50 Prozent erzielt. Im Ergebnis ist die Ungleichheit der Haushaltsnettoeinkommen gemessen am Gini-Koeffizienten von 0,25 im Jahr 1999 auf 0,3 gewachsen.«

Neben der Analyse gibt es auch Empfehlungen: »Will man die Ursachen der langfristig zugenommenen Ungleichheit der Haushaltsnettoeinkommen bekämpfen, bedarf es unter anderem einer verbesserten Integration von Zugewanderten in den Arbeitsmarkt und einer gezielteren Qualifizierung junger Erwachsener ohne beruflichen Bildungsabschluss.«

Sollten dem einen oder anderen Anteilswerte auffallen, die von denen des Statistischen Bundesamtes etwas abweichen, dann hat das seine Ursache in einer anderen Datenquelle, mit denen das DIW hantiert: Man verwendet Einkommensinformationen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), eine repräsentative jährliche Wiederholungsbefragung privater Haus­halte, die seit 1984 in Westdeutschland und seit 1990 auch in Ostdeutschland durchgeführt wird.

„Der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor ist auf einen Tiefstand der letzten 25 Jahre gefallen“, so Markus. M. Grabka. Eine der Ursachen hierfür liegt in der Einführung und den schrittweisen Erhöhungen des Mindestlohns. Aber das erklärt den Tatbestand, dass die Bruttostundenlöhne in Deutschland sind zwischen 1995 und 2021 inflationsbereinigt um durchschnittlich 16,5 Prozent gestiegen sind und im untersten Lohndezil (den zehn Prozent der Beschäftigten mit den niedrigsten Löhnen) der Anstieg seit 2013 besonders stark ausgefallen ist, nicht allein. Auch die veränderte Lohnpolitik der Gewerkschaften, die zunehmend auf Mindestzahlungen für untere Lohngruppen setzt, wirkt sich auf den Niedriglohnsektor positiv aus, so Grabka.

Je nachdem, wie weit man zurückschaut, ergeben sich andere prozentuale Veränderungen: Trotz der insgesamt positiven Lohnentwicklung fällt der Zuwachs im untersten Lohndezil seit 1995 mit rund sechs Prozent am geringsten aus. In den obersten vier Dezilen legten die Löhne um etwa 20 Prozent zu. In den letzten Jahren ist die Lohnungleichheit aber gesunken und so niedrig wie zuletzt zu Beginn der 2000er Jahre.

Quelle: Grabka 2024: 70

Man erkennt zwei Phasen der Entwicklung. Dazu Grabka:

»Im Zeitraum 1995 bis einschließlich 2012 spreizen sich die Stundenlöhne deutlich auf. Dies geht vorrangig auf die untere Hälfte der Verteilung zurück. Vor allem im ersten Lohndezil kommt es zu deutlichen realen Rückgängen von bis zu minus 27 Prozent. Dies lag unter anderem daran, dass Minijobs und schlecht bezahlte Dienstleistungsjobs zugenommen haben sowie öffentliche Unternehmen privatisiert wurden (beispielsweise kommunale Krankenhäuser), was vielfach mit Lohneinbußen bei Neuverträgen von Beschäftigten in diesen Sektoren einherging.«

»In der zweiten Phase ab 2013 steigen die Reallöhne über alle Dezile hinweg an – im untersten Dezil jedoch besonders stark. Hierzu dürfte einerseits die Einführung des allgemeinen Mindestlohns beigetragen haben, aber andererseits auch die veränderte Lohnpolitik der Gewerkschaften. Denn diese fordern seit einigen Jahren nicht mehr allein pauschale prozentuale Lohnsteigerungen, sondern ergänzen diese oft durch Mindestzahlungen für untere Lohngruppen, die relativ gesehen deutlich höher ausfallen als für höhere Lohngruppen.«

Trotzdem: »In allen Dezilen liegen zudem im Jahr 2021 die Reallöhne über dem Ausgangswert des Jahres 1995. Im untersten Lohndezil fällt der Zuwachs mit rund sechs Prozent dennoch am niedrigsten aus. In der Mitte der Verteilung ist eine Erhöhung von 16 Prozent festzustellen, während die obersten vier Dezile alle Zuwächse von etwa 20 Prozent erzielen konnten.«

Und wie sieht es bei den Haushaltseinkommen aus?

Grabka schaut in seiner Analyse nicht nur auf die individuellen Löhne, sondern auch auf die Haushaltseinkommen, denn nebenLöhnen beziehen die Privathaushalte aber weitere Einkommen, wie Alterseinkommen, staatliche Transfers oder Kapitaleinkommen. Zudem leben Personen gemeinsam in Haushalten und legen für gewöhnlich auch ihre ökonomischen Ressourcen zusammen.

➔ In der Analyse von Grabka wird das jährliche Haushaltsnettoeinkommen herangezogen (das aus den Umfragedaten des SOEP abgeleitet wurde und dort retrospektiv erhoben wird, also für das jeweils vorangegangene Jahr). Davon werden die direkten Steuern und Sozialabgaben abgezogen. Um Skaleneffekte des gemeinsamen Wirtschaftens zu berücksichtigen, wird eine Bedarfsgewichtung vorgenommen. Es handelt sich also um bedarfsgewichtete Haushaltsnettoeinkommen.

Im Durchschnitt legen die Haushaltsnettoeinkommen seit 1995 inflationsbereinigt um insgesamt 33 Prozent zu. Das bedeutet, dass sich die Privathaushalte im Schnitt gut ein Drittel mehr Güter leisten können als noch vor 25 Jahren. Das hört sich gut an. Und: Alle Einkommensdezile konnten im Vergleich der Jahre 1995 und 2020 reale Einkommenszuwächse erzielen.

Ab dem Jahr 2001 verdunkelt sich das Bild für die unteren Einkommensgruppen: »Während im untersten Einkommensdezil unter leichten Schwankungen die Einkommen gerade einmal um vier Prozent steigen, wachsen sie im obersten Einkommensdezil um etwa 50 Prozent. In der Mitte der Verteilung (viertes bis sechstes Dezil) erhöhen sich die Einkommen immerhin noch um ein Viertel bis zu einem Drittel.«

Ein bedeutsamer Erklärungsfaktor ist ein Teil der Zuwanderung der zurückliegenden Jahre: »Die schwache Entwicklung im untersten Dezil ist dabei auch auf die Migration nach Deutschland zurückzuführen. Zunächst hat die Zahl der ausländischen Bevölkerung allein zwischen 2015 und 2022 um etwa 4,3 Millionen zugenommen, unter anderen durch Fluchtmigration aus Ländern wie Syrien, Irak, Afghanistan oder der Ukraine. Diese Personen befinden sich zu Beginn ihrer Migration nach Deutschland vor allem im untersten Einkommensdezil, da diese zunächst mit Ausnahme ukrainischer Geflüchteter keine Arbeit nachgehen dürfen und auf Grundsicherungsleistungen angewiesen sind.«

Zusammenfassend: »Auch bei den Haushaltsnettoeinkommen, die von allen Personen in Privathaushalten – nicht nur von abhängig Beschäftigten – erfasst werden, unterscheiden sich die Erhöhungen seit 1995 stark nach Einkommensgruppen: Die zehn Prozent der niedrigsten Einkommen sind gerade einmal um vier Prozent gestiegen, die höchsten zehn Prozent hingegen um etwa die Hälfte. Dadurch ist die Ungleichheit der Haushaltsnettoeinkommen zunächst zu Beginn der 2000er Jahre stark gestiegen: Der Gini-Koeffizient legte von 0,25 im Jahr 1999 auf knapp 0,29 im Jahr 2007 zu. Unter leichten Schwankungen wird im Jahr 2020 dann ein Wert von 0,3 erreicht.«