Die von vielen Menschen als eine „Streikwelle“ wahrgenommenen Arbeitskampfmaßnahmen in den vergangenen Woche zeichnen sich dadurch aus, dass sie anders als viele deutlich größere Streikaktionen der Vergangenheit beispielsweise in der Industrie von Millionen Menschen unmittelbar als Beeinträchtigung des alltäglichen Lebens erfahren werden, wenn wir beispielsweise an die vielen Pendler denken. Wenn in der Automobilindustrie oder anderen industriellen Produktionsstätten die Arbeit niedergelegt wird, dann bekommt der normale Bürger davon wenn überhaupt nur über die Nachrichten etwas mit. Persönlich ist man nicht tangiert.
Das ist anders gelagert, wenn Erzieherinnen in den Kitas die Arbeit niederlegen oder die Lokführer für mehrere Tage am Stück die Gleise im Personen- und Güterverkehr in Ruhezonen verwandeln. Und kaum war der lange Eisenbahner-Streik beendet, ging es weiter. Jetzt mit den Busfahrern. Die Tarifverhandlungen im kommunalen Nahverkehr waren bislang erfolglos. Deshalb hat die Gewerkschaft ver.di zum bundesweiten Streiktag im ÖPNV aufgerufen. Mehrere Tausend Beschäftigte waren auf der Straße und ließen viele Busse im Depot stehen.
Am 2. Februar 2024 »haben bundesweit Warnstreiks im deutschen Nahverkehr begonnen. Rund 4000 Beschäftigte von Unternehmen des ÖPNV aus Baden-Württemberg, rund 2500 Beschäftigte aus Niedersachsen, 1200 in Bremen, mehrere Tausend Beschäftigte in Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Hamburg, Berlin und Brandenburg, Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz, Saarland und Hessen waren am Ausstand beteiligt und haben an Streiks, Demonstrationen und Kundgebungen teilgenommen«, meldet die Gewerkschaft ver.di unter der Überschrift Tarifrunde kommunaler Nahverkehr: Bundesweiter Ausstand. Um was geht es bei diesem Tarifkonflikt?
Hintergrund sind die laufenden Tarifverhandlungen für die rund 90.000 Beschäftigten im kommunalen ÖPNV in über 130 kommunalen Unternehmen. Es geht hier nicht primär um die Löhne, sondern um die tarifvertragliche Regelung der Arbeitsbedingungen (Flächentarifverträge über die Arbeitsbedingungen in den ÖPNV-Unternehmen) – in Brandenburg, dem Saarland, Sachsen-Anhalt und Thüringen werden außer den Arbeitsbedingungen auch die Löhne und Gehälter der Beschäftigten verhandelt.
➔ An diesem Beispiel kann man die Komplexität der Tarifvertragslandschaft verdeutlichen: »Der größte Teil der kommunalen ÖPNV-Unternehmen ist den Tarifverträgen Nahverkehr (TV-N) unterworfen, die in den Bundesländern (außer Hamburg) durch den jeweiligen Kommunalen Arbeitgeberverband (KAV) mit ver.di abgeschlossen und jeweils auch vor Ort verhandelt werden. Die Tarifverträge regeln Arbeitsbedingungen (Mantel) und Entlohnung. In sieben TV-N ist die Entgeltentwicklung unmittelbar an die Entgeltentwicklung im TVÖD gekoppelt (Baden-Württemberg, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rhein-land-Pfalz, Sachsen). In den übrigen Bundesländern gibt es eigenständige TV-N-Entgelttarifverträge mit teilweise voneinander verschiedenen Laufzeiten. Die Laufzeiten der Manteltarifverträge, in denen die Arbeitsbedingungen geregelt sind, wurden zum zweiten Mal synchronisiert, so dass alle Mäntel TV-N gleichzeitig kündbar waren. Der TV-N Bayern ist nicht gekündigt, hier wird auf Grundlage einer freiwilligen Verpflichtung der Arbeitgeber dennoch verhandelt. Die Haustarifverträge (Mäntel) der Hamburgischen ÖPNV-Unternehmen Hochbahn und VHH sind ebenfalls Teil dieser Tarifrunde.«
„Wir haben einen dramatischen Mangel an Arbeitskräften im ÖPNV und einen unglaublichen Druck auf die Beschäftigten. In allen Tarifbereichen fallen täglich Busse und Bahnen aus, weil es nicht genug Personal gibt. Es muss dringend etwas geschehen, damit die Beschäftigten entlastet werden“, wird die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Christine Behle zitiert.
Was wird nun gefordert?
»Bei der Tarifrunde im kommunalen Nahverkehr geht es vor allem um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Zu den Kernforderungen gehören Entlastungselemente, in jeweils mehreren Bundesländern: Verkürzung der Wochenarbeitszeit, Erhöhung des Urlaubsanspruches, zusätzliche Entlastungstage für Schicht- und Nachtarbeit sowie Begrenzung geteilter Dienste und unbezahlter Zeiten im Fahrdienst.«
Der eine oder andere wird an dieser Stelle irritiert sein – denn wenn man die Arbeitszeit bei Umsetzung der geforderten Entlastungen verkürzt, dann werden doch die vorher beschriebenen Probleme, dass heute schon viele Busse und Bahnen ausfallen, verstärkt. Wer soll denn dann die Arbeit machen? Aber ein etwas genauerer Blick auf diejenigen, die die Arbeit machen, kann helfen. Denn die Alternative bei einem heute schon bestehenden Mangel kann eben nicht sein, dass diejenigen, die noch da sind, immer mehr auffangen müssen von dem Mangel und damit systematisch überlastet werden. Das vor allem dann nicht, wenn man sich beispielsweise die Altersstruktur der Bus- und Straßenbahnfahrer anschaut. Die weicht bemerkenswert ab vom Durchschnitt aller Beschäftigten.
Die Branche sieht echt alt aus
Wenn man zur Kenntnis nimmt, dass mehr als 40 Prozent (!) der heutige tätigen Bus- und Straßenbahnfahrer älter als 55 Jahre sind, dann kann man sich vorstellen, in welcher Größenordnung sich allein der Ersatzbedarf für das altersbedingt in den unmittelbar vor uns liegenden Jahren bewegen wird. Hinzu kommen dann erhebliche Zusatzbedarfe, sollte a) die proklamierte Verkehrswende tatsächlich umgesetzt werden und b) wenn man die Arbeitsbedingungen tatsächlich wie seitens der Gewerkschaft gefordert durch Entlastungselemente verbessert, was natürlich zu einem entsprechend höheren Arbeitskräftebedarf führt.
Und wir sprechen hier nicht von irgendeiner Tätigkeit, für die man schnell jeden und jede schulen kann, sondern es geht um Fachkräfte, die zugleich eine hohe Verantwortung haben gegenüber Dritten. Der Beruf Bus- und Straßenbahnfahrer zählt laut der Bundesagentur für Arbeit heute schon zu den sogenannten Engpassberufen. Bei der Bestimmung eines Engpasses wird beispielsweise berücksichtigt, ob es im jeweiligen Beruf verhältnismäßig viele unbesetzte Stellen in Deutschland gibt oder wie lange es durchschnittlich dauert, diese zu besetzen.
Um diejenigen, die heute (noch) tätig sind als Fahrer, vor allem die überdurchschnittlich vielen Älteren, so lange wie möglich an Bord zu halten, müssen die Arbeitsbedingungen tatsächlich verbessert werden durch mehr Luft bei der Arbeitszeit – gleichzeitig muss eine groß dimensionierte Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive mit Blick auf den Ersatz- und Zusatzbedarf gestartet werden. Man darf nicht noch mehr wertvolle Zeit verlieren.