Da ist es dann, das Sommerloch des Jahres, in dem bekanntlich allerlei merkwürdige Vorstöße eine reale Chance bekommen, dem nicht den urlaubsbedingten Hitzetod in südeuropäischen Ländern sterbenden daheimgebliebenen Publikum von den zu Hause die Stellung haltenden Journalisten aufgetischt zu werden.
Und in so einer Gemengelage kommen dann schon mal solche Schlagzeilen heraus: SPD will Einführung eines sozialen Pflichtdienstes auf den Weg bringen. Die Überschrift war derart offensichtlich provozierend gewählt, dass die angesprochene SPD am gleichen Tag die Fax-Geräte angeschmissen hat und sofort ein Dementi verbreiten ließ: „Wir planen keinen sozialen Pflichtdienst“. Die Partei stellt klar: »Es gebe keine Pläne. Es handele sich bei Wieses Aussagen lediglich um einen „persönlichen Debattenbeitrag“.« Wiese wer?
Es geht um Dirk Wiese, immerhin SPD-Fraktionsvize im Bundestag. Der taucht in diesem Ausgangsartikel für die aktuelle Sommerloch-Debatte auf: SPD plant neuen Vorstoß für sozialen Pflichtdienst. Da kann man tatsächlich über „die“ SPD lesen: »Mindestens drei Monate und gerne bis zu einem Jahr, so lange soll nach dem Willen der SPD ein künftiger Pflichtdienst im sozialen Bereich dauern. Die Partei von Kanzler Olaf Scholz plant, nach der parlamentarischen Sommerpause die Debatte darüber wieder aufzugreifen. Dies sagte SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese.« Was mittlerweile wieder dementiert wurde, also von der SPD.
Der SPD-Mann Wiese sei „in seiner Fraktion federführend für das Vorhaben“ und wird dann mit diesen Worten zitiert – und jetzt bitte anschnallen und festhalten:
„Wir brauchen wieder mehr Respekt im Umgang und ein stärkeres Miteinander im Land.“ Beides schwinde, „im täglichen Umgang und digital. In Freibädern, beim Nichtbilden von Rettungsgassen, im Alltag oder bei AfD-Trollen im Internet.“
Das ist mal eine Begründungsmelange.
Und weiter heißt es in dem Artikel: Daher müsse nun erneut „offen“ über die Vorschläge des Bundespräsidenten diskutiert werden. „Die von Steinmeier richtigerweise angestoßene Debatte müssen wir nach der Sommerpause weiterführen“, ergänzte der Fraktionsvize.
Gemeint sind die Vorstöße des amtierenden Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der 2022 einen „verpflichtenden Dienst an der Gesellschaft“ vorgeschlagen hat. Und nicht nur er hat solche Dinge im Kopf. Auch von anderer Seite gibt es (immer wieder) Bestrebungen in Richtung auf eine modifizierte Wiederbelebung dessen, was 2011 als Wehrpflicht (für das männliche Geschlecht ab dem 18. Lebensjahr) nicht abgeschafft, aber „ausgesetzt“ worden ist. Das Wehrpflichtgesetz wurde dahingehend geändert, dass die Pflicht zum Dienen erst im Falle eines drohenden Angriffs auf Deutschland gilt. Damit einhergehend wurde auch der „Zivildienst“, also der Ersatzdienst bei Inanspruchnahme des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung unter Darlegung der Gewissensgründe ausgesetzt.
➔ Man muss an dieser Stelle daran erinnern, dass die Aussetzung der Wehrpflicht Folge einer umfassenden „Strukturreform“ der Bundeswehr war – umgesetzt von dem damaligen Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg. Die Grundlagen für den damit verbundenen tiefgreifenden Wandel der deutschen Streitkräfte wurde bereits mit dem im Jahr 2000 veröffentlichten Bericht der Kommission „Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“ (die sogenannte „Weizsäcker-Kommission“) unter dem Titel Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr gelegt. Bereits damals wurde die Zielsetzung einer primär kostensenkenden „Reform“ im Kontext restriktiver Mittelvergabe (verbunden mit einer „Professionalisierung“ im Sinne einer über eine reine Landesverteidigung hinausgehenden Truppe) in Umrissen erkennbar. So schrieb die Kommission in ihrem Bericht an die Bundesregierung: »Die Bundeswehr … ist mit Blick auf die genannten Forderungen nicht im Gleichgewicht. Sie ist zu groß, falsch zusammengesetzt und zunehmend unmodern. In ihrer heutigen Struktur hat die Bundeswehr keine Zukunft. Die Wehrform produziert zu große Personalumfänge bei gleichzeitig zu schwachen Einsatzkräften. Veraltetes Material schmälert die Einsatzfähigkeit und treibt die Betriebskosten in die Höhe. Die derzeitigen Haushaltsansätze erlauben in der heutigen Struktur und Wehrform keine hinreichende Modernisierung.« (S.13). Anfang des Jahrtausends konnte man sich noch nicht zu einer Abschaffung der Wehrpflicht insgesamt durchringen – allerdings hat eine Gruppe an Kommissionsmitgliedern in einem abweichenden Votum „für den Übergang zu einer Freiwilligenarmee, die die konsequente Umsetzung des veränderten Einsatzprofils der Streitkräfte in die Praxis darstellt“, plädiert (S. 147). Den „richtigen Modernisierungsschub“ lieferte dann eine Nachfolge-Kommission – unter der Leitung eines Reserveoffiziers, der bereits eine andere Verwaltungsbaustelle „modernisiert“ hat: Frank-Jürgen Weise, der damalige Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, der die deutsche Arbeitsverwaltung bereits nach der Philosophie und mit den Instrumenten des New Public Management einem grundlegenden Umbau unterworfen hatte. Der Freiherr zu Guttenberg hatte die „Strukturkommission“ im April 2010 eingesetzt unter dem Vorsitz von Weise und bereits im Oktober 2010 hat dann die Strukturkommission der Bundeswehr ihren Abschlussbericht vorgelegt, der schon im Titel die betriebswirtschaftliche Ausrichtung des Tankers Bundeswehr anzeigt: Vom Einsatz her denken. Konzentration, Flexibilität, Effizienz, so ist der Bericht überschrieben worden. Dort heißt es auf der S. 28: »Die Allgemeine Wehrpflicht hat die Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft gefördert. Heute aber schwindet die gesellschaftliche Akzeptanz der Wehrpflicht. Generell ist eine solche nur dann sinnvoll, wenn dies die äußere Sicherheit des Staates zwingend gebietet. Durch den Wegfall einer massiven, unmittelbaren militärischen Bedrohung kann die Wehrpflicht in der heutigen Form sicherheitspolitisch nicht mehr gerechtfertigt werden.« Und die dort formulierte Empfehlung der Kommission – »Die Musterung und Einberufung der Wehrpflichtigen zum Grundwehrdienst auszusetzen, wobei die Wehrerfassung und Wehrüberwachung, die sich aus dem Wehrpflichtgesetz ergeben, bestehen bleiben sollten« – wurde dann politisch im Folgejahr 2011 auch umgesetzt.
Bei den neueren Vorstößen nach Jahren des ausgesetzten Wehr- und Ersatzdienstes soll nicht einfach die Wehrpflicht wieder scharf gestellt werden. Vielmehr geht es einer politisch durchaus bunten Mischung (genannt seien hier nur exemplarisch Bodo Ramelow von den Linken, Annegret Kramp-Karrenbauer von der CDU oder Wolfgang Hellmich von der SPD) um ein verpflichtendes soziales oder gesellschaftliches Jahr, in dem jeder und jede zwischen 18 und 25 Jahren einen solidarischen Dienst an der Gesellschaft tun soll – und das kann dann auch durch den Dienst in der Bundeswehr geleistet werden. Höchst umstritten war und ist die Frage, inwieweit diese Pflicht auch für Frauen gelten soll – wobei die meisten Apologeten einer solchen allgemeinen Dienstpflicht davon ausgehen, dass eine Wehrpflicht nur für Männer heute nicht mehr zeitgemäß wäre.
Und aktuell besonders relevant: Auch der designierte Generalsekretär der CDU, Carsten Linnemann, hat sich entsprechend zu Wort gemeldet und plädiert »für die Einführung eines allgemeinen, verpflichtenden Gesellschaftsjahres für Schulabgängerinnen und -abgänger, das beispielsweise bei der Bundeswehr, beim Technischen Hilfswerk, bei der Feuerwehr, im Pflege- und Sozialbereich oder bei Vereinen abgeleistet wird.« So Linnemann in seinem Beitrag Deutschland im Krisenmodus. Plädoyer für ein allgemeines Gesellschaftsjahr, veröffentlicht 2022 in der Mai/Juni-Ausgabe der Zeitschrift „Die Politische Meinung“. Am Ende weist er dann noch darauf hin: »Klar ist: Eine allgemeine Dienstpflicht wäre nur durch eine Grundgesetzänderung umsetzbar.« Schon seit langem wird an dieser Stelle eine intensive rechtswissenschaftliche Debatte geführt, ob so etwas überhaupt zulässig wäre, dazu haben beispielsweise die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages mehrere Ausarbeitungen vorgelegt, die allesamt zu eher kritischen bis ablehnenden Bewertungen gekommen sind.
Wie dem auch sei, Linnemann hat offensichtlich ein klares Datum vor Augen: ein Jahr soll es sein. Der Bundespräsident eiert hier eher präsidial herum. In einem Beitrag für die FAZ (Ein Dienst zur Stärkung unserer Demokratie, 26.05.2023) führt er zu den Themen Dauer und zeitliche Lage der „Pflichtzeit“ aus: »Mein Wunsch wäre es, dass die soziale Pflichtzeit länger dauert als eine Hospitation oder ein Praktikum. Sechs Monate sollten es schon sein, aber auch nicht mehr als ein Jahr. Sie sollte in unterschiedlichen Phasen des Lebens absolviert werden können: Die Zeit nach dem Schulabschluss oder der Berufsausbildung liegt nahe, als Moment der Orientierung und des Neuanfangs im Leben. Aber auch später, als Auszeit im Beruf, kann ein solcher Dienst besonders sein. Jeder und jede sollte die Wahl haben.«
Also mindestens sechs Monate sollten es sein – oder machen wir es auch in drei Monaten?
Linnemann und vielen anderen schwebt ein Jahr vor, der Bundespräsident kann sich auch ein Jahr vorstellen (aber nicht mehr), mindestens aber sechs Monate sollten es schon sein. Haben wir weniger im Angebot? Haben wir, wenn wir wieder an den Ausgangspunkt dieses Beitrags zurückkehren, also die in den Meiden kolportierte Meldung, dass der SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese für eine „soziale Pflichtzeit“ plädiert und die sollte „mindestens drei Monate“ dauern. Also ehrlich – was soll das denn? Eine Art weichgespülte „Das kann man gerade noch so schaffen“-Variante, eine Kopie der zwei Vätermonate beim Elterngeld, durch die sich nichts wirklich ändern muss? Was soll man denn in drei oder vier Monaten an sinnvollem Dienst für die Gesellschaft verrichten?
Und unabhängig davon und selbst wenn man ein Befürworter einer allgemeinen Dienstpflicht für junge Menschen ist: Hat man auch nur in Umrissen vor Augen, was es bedeuten würde, einen Pflichtdienst für jährlich Hunderttausende zu organisieren, abzuwickeln, zu kontrollieren und Abweichungen btw. Verstöße ggfs. auch zu sanktionieren? Wir bräuchten den Aufbau und dann eine auf Dauer gestellte Infrastruktur gewaltigen Ausmaßes, um die Dienstpflicht auch umsetzen zu können. Und selbst der Teil der jungen Menschen, der dann bei der Bundeswehr den Dienst ableisten wollen würde, könnte gar keine dafür halbwegs geeignete Infrastruktur mehr vorfinden. Schon am Ende der Wehrpflicht-Zeiten wurde doch über mangelnde Wehrgerechtigkeit dergestalt gesprochen, dass nur noch ein immer kleiner werdender Teil eines Jahrgangs überhaupt wehrpflichtmäßig herangezogen wurde. Und kurz vor dem Aussetzen der Wehrpflicht gab es 700 Kasernen in Deutschland, von denen dann viele verkleinert oder ganz aufgegeben wurden, so dass es heute nur noch 250 sind. Die betroffenen Jahrgänge heutzutage überhaupt nur unterzubringen (geschweige denn auszubilden) wäre auf absehbare Zeit schlichtweg unmöglich.
Im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Analyse einer einjährigen Dienstpflicht hat Phillip Noack (2018) berechnet, dass „bei einer zeitnahen Einführung direkte Kosten von ca. 13–14 Mrd. Euro“ (Noack 2018: 156) entstehen würden (vgl. Phillip Noack: Das verpflichtende gesellschaftliche Jahr – eine Analyse von Kosten und Nutzen, in: Voluntaris, Heft 2/2018, S. 156-185. Die Kostenwerte müsste man natürlich auf das Jahr 2023 aktualisieren und sie würden deutlich höher ausfallen.
Und wie sieht es in der wirklichen Wirklichkeit aus? Da werden die real existierenden Freiwilligendienste zum haushaltspolitischen Steinbruch degradiert
Der eine oder andere könnte im Angesicht der mehr als theoretischen Diskussion über ein verpflichtendes Dienstjahr für alle darauf hinweisen, dass es doch schon Freiwilligendienste in unserem Land gibt – und dass man die ausbauen und besser ausstatten könnte. Genau das hat sich die amtierende Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2021 eigentlich mit auf den Weg gegeben. Denn in diesem Koalitionsvertrag findet man diesen Passus:
»Die Plätze in den Freiwilligendiensten werden wir nachfragegerecht ausbauen, das Taschengeld erhöhen und Teilzeitmöglichkeiten verbessern. Wir werden den Internationalen Freiwilligendienst stärken und das „FSJ digital“ weiter aufbauen.« (Koalitionsvertrag SPD, Bündnis ’90/DIe Grünen und FDP 2021: 78).
Und was macht man wirklich? Man produziert parallel zu der erneuten Sommerloch-Debatte über eine allgemein Dienstpflicht solche Meldungen und damit das Gegenteil von den selbstgesteckten Zielen der Ampel-Koalition: »Die Bundesregierung plant im Haushalt für das kommende Jahr für Freiwilligendienste wie das Soziale und das Ökologische Jahr sowie den Bundesfreiwilligendienst deutlich weniger Geld auszugeben.« Das wird Folgen haben: »Jedes Jahr engagierten sich zehntausende, überwiegend junge Menschen in den verschiedenen Formaten der Freiwilligendienste in gemeinnützigen Einrichtungen … Blieben die nun veranschlagten Kürzungen bestehen, würde etwa ein Viertel des Platzangebotes wegfallen. Dies hätte für viele junge Menschen direkte Konsequenzen in ihrer beruflichen und persönlichen Orientierungsphase.« (Quelle: Kritik an geplanten Kürzungen bei Freiwilligendiensten, 22.07.2023). Man muss sich verdeutlichen, was da mit dem haushaltspolitischen Bagger abgetragen werden soll:
Fazit: Die Diskussion über einen „sozialen Pflichtdienst“ ist eine reine Sommerloch-Debatte, die man als solche nach der alten Beamten-Weisheit „gelesen, gelacht, gelocht“ behandeln kann und muss. Anders hingegen die in den Haushaltsplanungen für 2024 vorgesehenen massiven Kürzungen gerade bei den Freiwilligendiensten. Das ist ein überaus realer, schmerzhafter Schlag ins Gesicht derjenigen, die freiwillig das tun (wollen), was das von effektheischenden Politikern als Sommer-Sau durchs Dorf getrieben wird. Zugleich sind diese Kürzungen (neben den vielen anderen Einschnitten in die sozial- und bildungspolitische Landschaft) Ausdruck einer gesellschaftspolitischen Nullnummer, die wir derzeit leider von den Regierenden serviert bekommen.