Neben, unter oder über dem „Großstreiktag“ wird auch noch gestreikt. Aber nicht für mehr Geld

Was wurde da mit Blick auf den gemeinsamen Streiktag der Gewerkschaften Verdi, die sich in Tarifverhandlungen für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in Bund und Kommunen befindet, und der Eisenbahnergewerkschaft EVG, die mit der Deutschen Bahn AG verhandelt, an die Wand gemalt: Stillstandsszenarien, von einem „Generalstreik“ wurde gefaselt, ein (verbotener) „politischer Streik“ wurde einfach mal so behauptet. Und manche Medienvertreter hyperventilierten im Kontext eines eintägigen Warnstreiks in zwei normalen Tarifrunden in nicht-normalen Zeiten von der angeblichen Notwendigkeit, das Streikrecht in Bereichen der „Daseinsvorsorge“ müsse eingeschränkt werden. In vielen Berichten wurde über ebenfalls angeblich völlig überzogene Lohnforderungen hergezogen und gewerkschaftliche Forderungen wurden behandelt wie bereits vor der Tür stehende Lohnabschlüsse.

Aber bei der ganzen Fixierung auf diesen großen Tarifkonflikt wird wieder einmal übersehen, dass auch an anderer Stelle gestreikt wird – und das in einem Kernbereich der vielbeschworenen Daseinsvorsorge, von den einst systemrelevanten Helden der Pandemie-Jahre. Gemeint ist der Krankenhausbereich.

Und bei diesem Streik geht es nicht um 10 oder mehr Prozent Lohn für die Beschäftigten. Es geht (erneut) um Entlastung für die, die (noch) da sind und den Laden am Laufen halten.

»Im Tarifstreit um Entlastungen und Beschäftigungssicherung am Uniklinikum Gießen und Marburg haben … zum Auftakt des unbefristeten Streiks nach Gewerkschaftsangaben Beschäftigte mehrerer Abteilungen die Arbeit niedergelegt. Der Streik sei am Morgen gegen 6 Uhr angelaufen, sagte Verdi-Gewerkschaftssekretär Fabian Dzewas-Rehm. Rund 600 Teilnehmer aus den Bereichen Operationen, Anästhesie, Radiologie, Neuroradiologie, Endoskopie sowie der Herzkatheter-Labore an beiden Standorten seien dem Streikaufruf zum Auftakt gefolgt. „Die Beteili­gung ist gut“, so Dzewas-Rehm.« So eine der (wenigen) Meldungen vom 27. März 2023 zu diesem Arbeitskampf: Streik an Uniklinik Gießen und Marburg angelaufen. Und das ist erst der Anfang: Von Mittwoch an will die Gewerkschaft ver.di dann Beschäftigten aus allen nicht ärztlichen Bereichen zum Streik aufrufen. Bereits am Montag »seien durch die Aktionen rund 90 Prozent der planbaren Operationen am Standort Marburg ausgefallen. Vorab waren Notdienstvereinbarungen getroffen worden.«

Um was genau bei wem geht es hier?

➔ Die Uniklinik Gießen-Marburg (UKGM) ist einer der größten Arbeitgeber in Mittelhessen und die drittgrößte Universitätsklinik in Deutschland. Rund 436.000 Patienten werden an den Standorten Gießen und Marburg jährlich versorgt. 2006 wurde das Krankenhaus von der damaligen schwarz-gelben Landesregierung an den privaten Klinikbetreiber Rhön-AG verkauft. Seit 2020 ist die Krankenhauskette Asklepios Mehrheitsgesellschafter. Es ist das bundesweit einzige Uniklinikum in privater Hand. Das Land Hessen hält noch fünf Prozent daran.

»Hintergrund des unbefristeten Streiks ist vor allem der Konflikt um Entlastungen für das nicht ärztliche Per­sonal des privatisierten Uniklinikums: Im Kern fordern Gewerkschaft und Beschäftigte eine Mindestbesetzung für die Schichten der einzelnen Bereiche. Wird diese unterschritten, sollen die Mitarbeitenden Belastungspunkte sammeln, die in Freizeit abgegolten werden können. In vier Verhandlungsrunden hatte es keine Einigung gegeben, so dass … ein Ultima­tum der Beschäftigten abgelaufen war, mit dem diese sich streikbereit gezeigt hatten.«

➔ Der nun eskalierende Arbeitskampf hat eine lange Vorgeschichte. Am 13. Dezember 2022 berichtete das Deutsche Ärzteblatt unter der Überschrift Forderung nach Entlastung: Uni-Klinik-Be­schäftigte erhöhen Druck: »Beschäftigte des privatisierten Uniklinikums Gießen und Marburg (UKGM) wollen den Druck auf Arbeitgeber und Politik erhöhen, um ihre seit langem vorgebrachten Forderungen nach Arbeitsentlastung und sicheren Jobs durchzusetzen … Mehrere Beschäftigte schilderten … bei einer Pressekonferenz ihren Arbeitsalltag und betonten, dass sich etwas ändern müsse. „Ich kann so nicht mehr arbeiten. Es muss mehr Personal her“, sagte etwa eine Krankenschwester. Patienten seien auf sie angewiesen und würden durch den Personalmangel gefährdet … Dzewas-Rehm zufolge soll ein 100-Tage-Ultimatum bis 24. März 2023 gesetzt werden. So lange hätten Arbeitgeber und Politik Zeit, „die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass es einen Tarifvertrag gibt, der alle Kolleginnen und Kollegen sichert und der gleichzeitig auch Entlastung schafft“. Komme es dazu nicht, will die Gewerkschaft demnach Streiks organisieren.«

Die Arbeitgeberseite hat die 100 Tage offensichtlich verstreichen lassen.

Die Verhandlungen betreffen die mehr als 7.000 nicht-ärztlichen Beschäftigten des privatisierten Uniklinikums, das insgesamt rund 9.600 Mitarbeiter hat.

Die Uniklinik Gießen-Marburg wäre keineswegs Pionier im Kampf um einen Entlastungstarifvertrag. In dem Beitrag Pflegemangel: Entlastung durch Tarifverträge von Frank Osterloh, der bereits im Februar 2022 veröffentlicht wurde, konnte man zum bisherigen Vorgehen der Gewerkschaft Verdi lesen: »Erstmals im Jahr 2016 hat sie mit der Berliner Charité einen sogenannten Entlastungstarifvertrag abgeschlossen. Der Vertrag sah eine dezentrale Personalbemessung auf den Normalstationen mithilfe der PPR vor, mit der in den 1990er-Jahren für einige Zeit der Pflegeaufwand in deutschen Krankenhäusern errechnet wurde. Anhand der so erhaltenen Orientierungswerte sollte die Charité neues Pflegepersonal einstellen. Fand die Charité trotz Bemühens nicht genügend Pflegekräfte, griff eine Kaskade von Vorgaben: von der Übernahme bestimmter Tätigkeiten durch andere Berufsgruppen bis zur Sperrung von Betten. Bis heute hat Verdi mit verschiedenen Krankenhausträgern weitere Entlastungstarifverträge vereinbart, in erster Linie mit Universitätskliniken. Neben der Charité gehören die Unikliniken in Heidelberg dazu, in Tübingen, Freiburg, Ulm, Jena, Düsseldorf, Essen, Mainz und Augsburg sowie das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein mit den Standorten Kiel und Lübeck und das Universitätsklinikum des Saarlands. Hinzu kommen das private SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinach und Vivantes, der größte kommunale Krankenhausträger Deutschlands.« Und damals noch in der Ankündigung, mittlerweile vollzogen: „In Nordrhein-Westfalen haben sich die Beschäftigten der sechs Unikliniken – Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster – in diesem Jahr auf den Weg gemacht, für Entlastung zu kämpfen“.

Und bei den Vorreitern der Entlastungsbewegung gibt es bereits neue Entwicklungen, über die im Februar des vergangenen Jahres so berichtet wurde: »Zum Jahresbeginn sind in Berlin zwei neue Entlastungstarifverträge in Kraft getreten, der „Tarifvertrag Gesundheitsberufe“ in der Charité und der Vertrag „Pro Personal Vivantes“ bei Vivantes. „Ziel des Tarifvertrags ist es, Belastungssituationen von Beschäftigten im Pflege- und Funktionsdienst zu identifizieren, zu vermeiden und zu beseitigen und dadurch eine deutliche, nachhaltige und messbare Verbesserung der Arbeitsbedingungen und damit einhergehend der Qualität der Patientenversorgung herbeizuführen“, erklärt eine Sprecherin von Vivantes … „Dies geschieht, indem für Bereiche wie die bettenführenden Stationen und unterschiedliche Funktionsabteilungen konkrete Besetzungsregelungen vereinbart wurden. Werden diese unterschritten, erhalten die Beschäftigten sogenannte Vivantes-Freizeitpunkte, die nach einem gestaffelten System in Freizeit oder Entgelt umgewandelt werden können.“«

Seit Januar 2022 ist an der Charité der Entlastungstarifvertrag in Kraft, ausgehandelt zwischen dem Uniklinikum und der Gewerkschaft Verdi; auch das Vivantes-Netzwerk hat sich mit der Gewerkschaft auf einen eigenen Hausvertrag geeinigt. Es sind hart erkämpfte Vereinbarungen: Mehr als 30 Tage lang hatten Mitarbeitende der Charité und Vivantes im Frühherbst 2021 gestreikt, waren auf die Straße gegangen, haben in Interviews auf ihre Lage aufmerksam gemacht, sich zu einer eigenen Initiative, der Berliner Krankenhausbewegung, zusammengefunden.

Ein Jahr später wird eine grundsätzlich positive Bilanz gezogen, bei der aber auch kritische Stimmen zu vernehmen sind. Mehr dazu in diesem Beitrag: Ein Jahr Entlastungstarifvertrag und was sich verändert hat: »Mehr Entlastung, mehr Wertschätzung, mehr Bewerbungen – ein Jahr nach Inkrafttreten zeigt der Entlastungstarifvertrag erste Wirkungen bei Charité und Vivantes. Nur wenig erinnert noch an die holprigen Anfänge.«