Amazon mal wieder: Scheinselbstständigkeit und der „Beifang“ der ununterbrochenen Erfassung der Arbeit der Beschäftigten

Seit Jahren wird immer wieder und sehr kritisch über die Arbeitsbedingungen bei Amazon berichtet – auch in diesem Blog. Das Unternehmen – das die meisten als Online-Händler kennen (und viele nutzen) – hat viele Geschäftsfelder, die über den reinen Online-Handel hinausgehen. Eine Unternehmensanalyse zeigt: Das Kerngeschäft von Amazon basiert weiterhin auf der e-Commerce-Plattform. Die Hälfte aller Einnahmen wird durch den Online-Handel generiert. Hier werden allerdings die geringsten Margen generiert. Das Wachstum der Betriebserträge war vor allem durch die hohen Margen in den anderen Geschäftssegmenten möglich wie Amazon Web Services (AWS). AWS bietet hunderte von Cloud-basierten Services an, unter anderem Datenspeicherung, Analytics oder auch Künstliche Intelligenz. Konkurrenz hierfür sind Unternehmen und ihre Angebote wie Google Cloud und Microsoft Azure. Abonnement-Dienstleistungen sind ein lukratives und wichtiges Geschäft für Amazon. Das bekannteste Abo ist Prime.

Wenn man sich die zurückliegenden Jahre anschaut, dann hat Amazon eine beispiellose Erfolgsgeschichte geschrieben, gemessen an der Umsatz- und Beschäftigungsentwicklung.

Im vergangenen Jahr wurde nach einem extremen Wachstumsschub in den beiden Jahren der Corona-Pandemie 2020 und 2021 ein erster (noch) überschaubarer Beschäftigungsrückgang registriert, den man einordnen kann und muss als eine „Konsolidierung“ nach dem starken Umsatz- und Beschäftigungswachstum vor und während der Corona-Jahre.

Hier aber soll es nicht um die Entwicklung der Geschäftsmodelle von Amazon gehen, sondern wieder einmal um die Situation der Beschäftigten. Dazu erreichen uns solche Berichte:

Amazon (& Co.) in Spanien: Schluss mit der Scheinselbstständigkeit

»Online-Handelsplattformen und Lieferdienste gehörten zu den Krisengewinnern in der Corona-Pandemie. Gleichzeitig sind sie für ein hartes Vorgehen gegen Gewerkschaften und für schlechte Arbeitsbedingungen sowie Bezahlung bekannt«, so Ralf Streck in seinem Beitrag Happige Strafen gegen Amazon & Co. Dann aber kommt der Hinweis, dass in Spanien der Druck auf Unternehmen wie Deliveroo, Glovo oder Uber Eats zunimmt. Das ist die Folge eines harschen Urteils gegen den US-Onlineriesen Amazon: »Das Sozialgericht in der Hauptstadt Madrid entschied, dass das Unternehmen des Milliardärs Jeff Bezos fast 2200 Paketauslieferer fest einstellen muss, da es sich bei diesen um Scheinselbstständige handle. Geklagt hatte die spanische Arbeiterunion (UGT), die sich auf das im vergangenen August in Kraft getretene »Rider-Gesetz« berief.«

Nun wird der eine oder andere fragen, was denn Amazon mit diesem Bereich zu tun hat. Die Antwort ist ein weiteres Geschäftssegment des Konzerns: Amazon Flex.

»Im aktuellen Fall ging es um die Fahrer von Amazon Flex. Laut UGT war deren Scheinselbstständigkeit offensichtlich, denn sie seien von der Firma gezwungen worden, mit ihren eigenen Fahrzeugen zu arbeiten und Pakete unter Mithilfe der Unternehmens-App zu verteilen, über die sie ihre Anweisungen bekamen. Aus Sicht von immer mehr Gerichten in Spanien handelt es sich angesichts der Tatsache, dass die Fahrer den Unternehmen komplett ausgeliefert sind, um allgemeine Arbeitsverhältnisse. So hat nun auch das Sozialgericht in Madrid festgestellt, dass Amazon Flex kein bloßer Vermittler zwischen Geschäften und Auslieferungsfahrern sei, wie die Firma behauptete.«

Letztendlich hat das Sozialgericht in Madrid nur die Vorgaben des Obersten Gerichtshofs in Spanien umgesetzt. Dieses hatte im September 2020 geurteilt, dass auch die Fahrer des spanischen Lieferdienstes Glovo nur Scheinselbstständige sind.

➔ Man kann durchaus sagen, dass Spanien zum Vorreiter internationaler Gesetzgebung geworden ist. Und auch die Kontrollen wurden erheblich ausgeweitet. »Die Arbeitsaufsicht hat Tausende Verstöße gegen das Verbot der Scheinselbstständigkeit registriert und verhängte gerade ein Bußgeld in Höhe von 57 Millionen Euro gegen den Lieferdienst Glovo, der inzwischen in etwa 1500 Städten in 25 Ländern operiert. Dieser setzt laut der Behörde auch Fahrer ohne gültige Arbeitserlaubnis ein. Glovo ist Wiederholungstäter, die Bußgelder und Nachzahlungen an die Sozialversicherung summieren sich mittlerweile schon auf mehr als 200 Millionen Euro. Im vergangenen Jahr wurde der Lieferdienst gezwungen, die Arbeitsverhältnisse von 10.000 Fahrern zu regeln, die allein in Valencia und Barcelona scheinselbstständig für Glovo tätig waren.«

Amazon Flex ist auch in Deutschland ein Thema (gewesen) – und Gegenstand kritischer Berichterstattung

Auf der Website von Amazon Flex können Interessierte keine Produkte kaufen, sondern sich darüber informieren, wie sie Amazon ihre Arbeitskraft anbieten können. »Die Tätigkeit wird dabei in blumigen Wort beschrieben: „Verdiene in deiner Freizeit Geld dazu“, heißt es. „Mach es auf deine Weise. Fahr mit deinem Auto, höre deine Musik und werde dafür bezahlt.“ Als Verdienst winken nach Amazon-Angaben Verdienste von 25 Euro je Stunde. Basis für diese Kalkulation sind demnach Zustellblöcke mit einem jeweils vorab geschätzten Zeitaufwand für die Auslieferung der darin enthaltenen Pakete«, so dieser Bericht: Womit Amazon seine Fahrer anlockt: »Amazon liefert viele Pakete in Deutschland mit seinem eigenen Lieferdienst aus. Häufig kommen dabei selbstständige Fahrer zum Einsatz. Die dabei kalkulierte Bezahlung von 25 Euro pro Stunde wirkt nur auf den ersten Blick attraktiv.«

25 Euro pro Stunde? Das hört sich doch wirklich attraktiv an. Der gesetzliche Mindestlohn liegt derzeit bei 12 Euro pro Stunde. Aber man muss ein Menge Wasser in den scheinbaren Wein gießen: »Die in Aussicht gestellten 25 Euro Durchschnittsverdienst pro Stunde decken etwa nicht die Anfahrt zum Auslieferungslager und die Heimfahrt nach dem letzten ausgelieferten Paket ab … Für Amazon Flex zu arbeiten, ist nicht mit einer Festanstellung zu vergleichen. Es gibt keine zugesagte Mindestarbeitsdauer. „Es handelt sich nicht um eine Vollzeittätigkeit“, heißt es dazu von Amazon. Und: Die Fahrer agieren als Selbstständige. Für Kranken-, Renten- oder Arbeitslosenversicherung müssen sie also selbst aufkommen.«

Und es geht noch weiter: »Außerdem müssen Interessenten ein Gewerbe anmelden und den Gewerbeschein spätestens 90 Tage nach Beginn der Tätigkeit bei dem Unternehmen einreichen. Das Fahrzeug zum Transport der Pakete muss der Mitarbeiter ebenfalls selbst stellen. Dazu kommen die Kosten für die Abnutzung und den Unterhalt wie zum Beispiel eine höhere Kraftfahrzeugversicherung wegen des gewerblichen Einsatzes. Auch die Kraftstoffkosten und alle weiteren Aufwendungen wie beispielsweise Strafzettel gehen auf das Konto des Auslieferfahrers.« Hinzu kommt eine Pflichtmitgliedschaft in der Berufsgenossenschaft (BG) Verkehr mit einem „natürlich“ selbst zu tragenden Jahresbeitrag. Denken muss man auch an eine Berufshaftpflichtversicherung, denn: „Falls bei der Auslieferung ein Paket beschädigt oder verloren geht, trägst du die Verantwortung“, gibt Amazon Flex auf der Website den Interessierten mit auf den Weg.

Man kann das auch so kompakt zusammenfassen: So gut wie alle Risiken liegen beim Auftragnehmer des Unternehmens Amazon, der oder die als „Selbstständige“ (genau über diesen Status läuft ja die Verlagerung der typischen Arbeitgeberrisiken) agieren (müssen) – auch wenn die Tätigkeit als solche in vielerlei Hinsicht auf illegale Scheinselbstständigkeit hindeutet.

Die Kritik der Gewerkschaft wird in dem Artikel so zitiert: »Die Gewerkschaft sieht besonders die Beschäftigung einer großen Zahl von Auslieferungsfahrern ohne Anstellung kritisch. „Die große Zahl an Logistik-Partnern, die das Unternehmen in seinem Kerngeschäft einsetzt, verhindert große Belegschaften und in der Folge Betriebsratsgründungen und Tarifbindung“, so die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Andrea Kocsis.« Und dann der Bezug zu der angesprochenen Problematik mit der unechten Selbstständigkeit: »Zudem müssten die Sozialversicherungsträger bei allen Amazon-Flex-Fahrern Statusfeststellungsverfahren einleiten, um Scheinselbstständigkeiten aufzudecken und zu beenden.«

➔ Das es hier offensichtlich ein Problem mit der Scheinselbstständigkeit nach deutschem Recht gibt, hat das Unternehmen wohl selbst eingesehen. Denn im Sommer des vergangenen Jahres wurde Amazon Flex in Deutschland von heute auf morgen eingestellt. »Amazons Lieferdienst Amazon Flex ist ab sofort in Deutschland nicht mehr verfügbar. Die Landingpage leitet auf die allgemeinen Amazon-Jobangebote um, die das Unternehmen anbietet. Die Amazon Flex App ist im Apple Store nicht mehr auffindbar«, so Mark Steier am 7. Juni 2022 unter der Überschrift Amazon Flex in Deutschland eingestellt. »Der Lieferdienst war 2018 in Deutschland gestartet und richtete sich im wesentlichen an Soloselbständige, die einfach durch die Warenauslieferung Geld verdienen wollten.« Steier führte dann weiter aus, man könne »nur mutmaßen, warum das Programm in Deutschland eingestellt worden ist. Ein Grund mag der Verwaltungsaufwand sein oder auch mögliche Bewertungen, dass der Service in die Scheinselbständigkeit führt. Wir können nur in die Glaskugel schauen.« Vom Unternehmen wird die Glaskugel auch nicht erleuchtet, von Amazon kam nur diese Mitteilung: Wir bedanken uns bei allen ehemaligen Amazon Flex Delivery Partner:innen: »Eine unserer Innovationen war das Amazon Flex Programm. Wir hatten es geschaffen, um den wachsenden Erwartungen von Kund:innen nach schnellen und flexiblen Lieferoptionen entgegenzukommen. Wie üblich, entwickeln wir kontinuierlich bestehende Programme weiter und evaluieren sie. Auf dieser Basis haben wir die schwierige Entscheidung getroffen, das Amazon Flex Programm in Deutschland nicht weiterzuführen und stattdessen auf die Zustellung durch bestehende Lieferunternehmen zu setzen. Wir danken den ehemaligen Amazon Flex Delivery Partner:innen, dass sie uns auf der Reise von Amazon Flex begleitet haben.« Man hat also „evaluiert“, aber was genau nun das Ergebnis war, wird weiter ein Geheimnis von Amazon bleiben. Man liegt allerdings sicher nicht falsch, wenn man davon ausgeht, dass der naheliegende Verstoß im Sinne einer Beschäftigung von Scheinselbstständigen das ausschlaggebende Motiv für die Einstellung dieser „Innovation“ war. Nunmehr setzt Amazon (wieder bzw. noch stärker auf die zahlreichen Subunternehmen, die am Tropf des Auftraggebers Amazon hängen. Da kann man dann gleich weitermachen mit der kritischen Berichterstattung, so wie beispielsweise ebenfalls im Juni 2022 das Politikmagazin „Panorama 3“ (NDR-Fernsehen) mit dem Beitrag Miese Arbeitsbedingungen bei Subunternehmer von Amazon vom 21.06.2022: »Unbezahlte Überstunden, Anstellung ohne Arbeitsvertrag, schreiende Chefs und Druck durch Tracking Apps: Paketzusteller berichten von miesen Arbeitsbedingungen bei Subunternehmern, die im Auftrag von Amazon Pakete ausliefern.«

Und dann auch noch das Dauer-Thema „gläserner Arbeitnehmer“ bei Amazon

Bereits im September 2021 wurde aus dem Mutterland des Konzerns, also den USA, berichtet: »Der Bundesstaat Kalifornien in den USA hat ein Gesetz durchgewinkt, das Unternehmen wie Amazon künftig verbietet, Lagermitarbeiter zu bestrafen, wenn sie Performancevorgaben nicht erreichen – etwa, weil sie Pausen machen oder essen.« So dieser Beitrag: Kalifornien geht gegen Überwachung von Amazon-Lagermitarbeitern vor. Auslöser für dieses Gesetz waren immer wieder Berichte über skandalöse Arbeitsbedingungen bei dem Online-Giganten: »Amazon ist dafür in den vergangenen Jahren vielfach in Kritik geraten. So gaben Mitarbeiter immer wieder an, in Flaschen zu pinkeln, um ihre Ziele erfüllen zu können und den Job nicht zu verlieren. Die Mitarbeiter unterliegen hierbei einer Echtzeitüberwachung: Sie müssen ihre Arbeitsschritte parallel scannen. Vorgesetzte haben jederzeit einen Zugriff auf die Aufzeichnungen und können einsehen, ob der oder die jeweilige Lagerbeschäftigte eine bestimmte Durchschnittsgeschwindigkeit erreicht. Ist jemand mehrere Minuten lang nicht im Dienst, wird das ebenso angezeigt. In solchen Fällen greifen dann die Vorgesetzten ein. Zudem wird die Belegschaft auf diese Weise in Echtzeit miteinander verglichen. Wer zu wenig oder weniger als die anderen leistet, muss mit einer Kündigung rechnen – entschieden wird dies von einer Software. Wer schnell ist, bleibt; wer zu langsam ist, muss gehen – wodurch allerdings der Druck steigt und die Durchschnittsrate so immer mehr in die Höhe schnellt.«

Das kalifornische Gesetz sieht vor, dass Unternehmen wie Amazon diese Algorithmen transparenter gestalten müssen – was aber nur ein erster Einstieg in eine Begrenzung der beschriebenen Praxis sein kann, so auch die Einschätzung in den USA – »es handle sich um einen der ersten Versuche, Arbeitskräfte in durch Algorithmen forcierten Umfeldern zu schützen und Transparenz zu schaffen.«

Auch in Deutschland wird das Thema immer wieder aufgerufen. »Mit Apps, Scannern und Kameras sammelt Amazon permanent Daten über seine Beschäftigten. So ist der Versandhändler darüber informiert, wo sich einzelne Angestellte befinden, ob sie sich mit Kolleginnen und Kollegen unterhalten, wann sie pausieren oder wie viel Zeit sie für eine Aufgabe benötigen. Die Kontrolle reicht bis zur Zustellung der Pakete an der Wohnungstür«, so der Artikel Wie Amazon seine Beschäftigten kontrolliert, der über einen Beitrag von Tina Morgenroth informiert, der in dem 2022 veröffentlichten Atlas der digitalen Arbeit veröffentlicht wurde. »Das Geschäftsmodell von Amazon basiere „auf einer Steuerung und Kontrolle der Arbeit durch Vernetzung und künstliche Intelligenz“, heißt es in dem Artikel. Das gelte nicht nur in den USA, sondern auch für die 18 Logistikzentren, 5 Sortierzentren und mehr als 50 Verteilzentren in Deutschland. Allein in der Zustellung, auf der sogenannten „letzten Meile“, arbeiteten bundesweit rund 25 000 Fahrerinnen und Fahrer, in der Regel Subunternehmer beziehungsweise Soloselbstständige. Viele von ihnen hätten einen Migrationshintergrund und besäßen wenig Deutschkenntnisse … Die Überwachung der Beschäftigten sei lückenlos, schreibt die Autorin. So würden beispielsweise die Kuriere ganztägig durch die vorgegebene Route in der App „Flex“ gesteuert – die konkreten Vorgaben gelten auch für die solo­selbstständigen Kuriere. In den USA und mittlerweile auch in Deutschland gehe der Konzern mit der App „Mentor“ sogar noch einen Schritt weiter. Diese erfasse Arbeitszeiten, das Fahrverhalten und die Nutzung des Telefons in Echtzeit. So könnten Vorgesetzte Beschäftigte, die nicht schnell genug arbeiten, durch Anrufe und Textnachrichten zu mehr Leistung antreiben. Wer negative Bewertungen bekommt oder Pakete verliert, könne für Tage oder Wochen gesperrt werden, ohne Lohn zu erhalten, oder müsse mit einer Kündigung rechnen. Amazon bereite zudem ein neues Kontrollsystem für das Autofahren vor. Das „Driveri“-Kamerasystem mit vier Videokameras registriere fortlaufend das Fahrverhalten – zum Beispiel, wer wie schnell fährt oder bremst. Das solle Unfälle vermeiden, setze aber zugleich die Fahrer und Fahrerinnen noch mehr unter Druck.«

Und in Deutschland erlaubt ein Verwaltungsgericht Amazon“Leistungsdaten als Beifang“

»Das Verwaltungsgericht hat Amazon erlaubt, die Arbeit der Beschäftigten im Lager in Winsen ununterbrochen zu erfassen – trotz Datenschutzbedenken«, berichtet Gernot Knödler in seinem Artikel Leistungsdaten als Beifang. »Amazon darf die Mitarbeiter in seinem Logistikzentrum in Winsen/Luhe weiterhin engmaschig überwachen«, so das Verwaltungsgericht Hannover. Wie kommen die zu so einer Entscheidung?

Ausgangspunkt war eine Klage. Allerdings hat nicht ein Beschäftigter geklagt, sondern Amazon. Da muss man genauer hinschauen:

»Das Gericht befasste sich mit einer Klage von Amazon gegen die niedersächsische Landesdatenschutzbeauftragte Barbara Thiel. Diese hatte Amazon 2017 untersagt, in seinem Logistikzentrum in Winsen aktuelle und minutengenaue Quantitäts- und Qualitätsdaten seiner Beschäftigten zu erfassen. Amazon tut das, indem es die Warenscans, die die Beschäftigten bei jedem Arbeitsschritt machen, erfasst und auswertet.«

Das Gericht hat sogar die heiligen Hallen der Rechtsprechung verlassen und sich versucht, vor Ort ein Bild zu machen – und hat sich die Perspektive des Arbeitgebers servieren lassen:

»Worum es konkret geht, nahm das Gericht bei einem Ortstermin im Amazon-Logistik-Zentrum in Winsen bei Hamburg in Augenschein. In der 100 mal 650 Meter großen Halle arbeiten durchschnittlich 2.000 Menschen daran, Waren entgegenzunehmen, umzupacken und zu versenden. 80 Sortier- und Verteilzentren des Unternehmens werden von hier aus im Wege der Feinverteilung beliefert.
Betriebsleiter Jörn Asmussen versuchte in Rahmen einer Führung plausibel zu machen, warum jeder einzelne Arbeitsschritt in seinem sogenannten „Fulfillment-Center“ dokumentiert werden muss: Der ganze Prozess sei vom Auslieferungstermin beim Kunden her rückwärts gedacht. Heißt: Wenn die Ware zu einem bestimmten Zeitpunkt ankommen soll, muss sie zwei große Schritte weiter hinten in Winsen zu einer bestimmten Zeit in einem Lkw weggefahren werden.
Um diese Zeit einzuhalten, gibt es in Winsen ein ausgeklügeltes System. Mitarbeiter nehmen große Kartons an, scannen sie und packen den Inhalt wiederum in schwarze Transportkisten, die sie ebenfalls scannen. Die Kisten gehen auf dem Band zu anderen Mitarbeitern, die die Waren aus den Kisten nehmen und in Regalpaletten stecken, die von Robotern in einem großen, eingezäunten Areal geparkt und später zum Warenversand gebracht werden. Dort werden die Päckchen mit dem Amazon-Logo gepackt.
Dadurch, dass die Beschäftigten die Ware bei Annahme und Weitergabe scannen und auch die Transportbänder überwacht werden, ist zum einen stets klar, wo sich die Ware gerade befindet – und zum anderen kann Amazon seine Arbeitskräfte besser disponieren. Mal komme besonders viel Ware herein, mal müsse besonders viel ausgeliefert werden – durch die Erfassung könnten Arbeitskräfte von der einen Stelle abgezogen und anderswo hingeschickt werden. „Wir müssen das während des Tages immer wieder neu austarieren“, sagte Betriebsleiter Asmussen. Das Austarieren sorge im Übrigen für einen ruhigeren Arbeitsablauf, mithin weniger Stress für die Mitarbeiter.
Dabei berücksichtige Amazon auch, wie schnell und gut ein Beschäftigter aktuell an einer bestimmten Stelle arbeitet, um Bereiche zu verstärken oder um Teams auszubalancieren. Wie der Durchsatz an verschiedenen Arbeitsplätzen ist, lässt sich ebenso wie der Betriebszustand des ganzen Logistikzentrums in einer Zentrale mit acht großen Bildschirmen sehen – dem Flow. Hier lässt sich die Leistung jedes Arbeiters ablesen und dokumentieren, was Amazon auch für wiederkehrende Feedback-Gespräche nutzt. Auch bei Vertragsverlängerungen spielen diese Daten eine Rolle.«

»Dass diese Art der Organisation für Amazon vorteilhaft ist, stand auch für das Gericht außer Frage. Die Vorsitzende Richterin Andrea Reccius verwies auf eine Amazon-Zahl aus den USA: Als das FCLM genannte System in einem dortigen Zentrum einmal ausgefallen sei, habe das die Produktivität um 27 Prozent gedrückt.«

Die Frage ist allerdings, »ob dieser Vorteil einen derart weitreichenden Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung rechtfertigt. Die Datenschutzbeauftragte bezweifelt das.« Ihre Behörde hatte das ununterbrochene Erheben von Daten mittels der Scanner untersagt.

Was sich denn die Behörde als Alternative vorstelle, wollte das Gericht wissen. »Es sei nicht Aufgabe der Behörde, hier Vorschläge zu unterbreiten, antwortete deren Anwalt Marcus Helfrich.«

Und Amazon? »Amazon sieht sich … auf der sicheren Seite: Die Überwachung sei keineswegs beabsichtigt und allenfalls ein Nebeneffekt, argumentierten die Anwälte des Unternehmens. Es würden nur Leistungsdaten erhoben, die Privatsphäre der Arbeiter sei nicht betroffen.«

Die Datenschutzbeauftragte argumentiert, dass nicht allen Mitarbeitern das Ausmaß der Datenerhebung bewusst sei. Außerdem beziehe sich die Leistungserhebung auf das persönliche Beschäftigungsverhältnis und müsse daher verhältnismäßig sein. »Eine minutengenaue Überwachung widerspreche den Grundlagen des deutschen Arbeitsrechts. Danach seien Beschäftigte eben nicht verpflichtet, ständig 100 Prozent Leistung zu bringen.«

Amazon hingegen argumentiert, die Datenschutzbeauftragte müsse nachweisen, dass es einen übermäßigen Überwachungsdruck gebe. Das sieht die Richterin offensichtlich ähnlich: „Einfach nur zu behaupten, es gebe einen Anpassungs- und Leistungsdruck, reicht nicht“, so die Vorsitzende Richterin Andrea Reccius.

Die Landesdatenschutzbeauftragte kann Berufung gegen das Urteil einlegen.

Bis es – wenn überhaupt – eine anders gelagerte Entscheidung geben sollte, kann es also weitergehen mit dem Beifang aus dem Datenmeer.