Ein tarifpolitischer Wumms-Abschluss in der Chemie- und Pharmabranche? Und kommt – jetzt aber – die „Lohn-Preis-Spirale“?

Für den September 2022 hat das Statistische Bundesamt eine an der Veränderung des Verbraucherpreisindex gegenüber dem Vorjahresmonat gemessene Inflationsrate von 10 Prozent für Deutschland ausgewiesen. Ein (vorläufiger?) Rekordwert. Aber man muss daran erinnern, dass Preissteigerungsraten, die deutlich über der Zielinflationsrate der EZB von 2 Prozent liegen, bereits seit Mitte des vergangenen Jahres zu beobachten waren. Und bereits damals, vor dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 gab es eine intensive und strittige Debatte über eine (angebliche) „Lohn-Preis-Spirale“, die nun ins Haus stehen würde und die für weiteren Inflationsnachschub sorgen wird. Darüber wurde auch hier berichtet, so am 13. Dezember 2021 in dem Beitrag Von Tarif- und anderen Löhnen, einer Inflation, die das Land spaltet und dem Schlossgespenst der „Lohn-Preis-Spirale“. Und im Mai dieses Jahres wurde dann mit Blick auf die Nominal- und Reallohnentwicklung bis dahin bilanziert: Die Reallöhne schmelzen wie Butter in der Sonne und die nächste teuerungsbedingte Hitzewelle ist auf dem Weg. Eine Aktualisierung der Daten ergibt das folgende Bild – ganz offensichtlich hinkt die Nominallohnentwicklung der Preissteigerung erheblich hinterher, so dass die Arbeitnehmer mit erheblichen Reallohnverlusten konfrontiert sind:

Nun behauptet das Modell der „Lohn-Preis-Spirale“, dass es zu einer lohninduzierten Inflation kommen wird, wenn die Gewerkschaften mit Blick auf ihre Mitglieder sehr hohe Lohnforderungen zum Ausgleich der gestiegenen Preise stellen – und auch durchsetzen können. Die damit einhergehende Kostensteigerung werden die Arbeitgeber dann versuchen, über steigende Preise an ihre Abnehmer weiterzureichen. Unabhängig von Fragen wie der, ob es sich nicht wenn, dann eher um eine „Preis-Lohn-Spirale“ handelt (oder angesichts der von einigen Ökonomen behaupteten zusätzlichen „Gewinnmitnahme“ durch Preiserhöhungen um eine Profit-Preis-Lohn-Spirale, vgl. dazu beispielsweise Kampf gegen die Gierflation), kann man einwenden, dass eine Gesamtbetrachtung der Lohnentwicklung, wie sie vom Statistischen Bundesamt vorgenommen wird mit dem Nominal- und Reallohnindex die gesamte Lohnentwicklung abzubilden versucht, die Gewerkschaften hingegen für die Tarifverdienste zuständig sind. Kann man zumindest für diesen Teilbereich der Lohnentwicklung von starken Lohnsteigerungen berichten?

Schaut man sich die Entwicklung des vom Statistischen Bundesamt ausgewiesenen Index der Tarifverdienste bis einschließlich dem 1. Quartal 2022 an, dann ergibt sich das folgende Bild:

„Bislang ist die Tariflohnentwicklung noch moderat“, so beispielsweise Hagen Lesch, Tarifexperte beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW).

Bereits jetzt sei ein deutliches Anziehen der Tariflöhne zu beobachten. Berücksichtigt man die im ersten Halbjahr erzielten Tarifabschlüsse und die schon in den Vorjahren für 2022 vereinbarten Erhöhungen, so werden die Tariflöhne dieses Jahr nominal um 2,9 Prozent zulegen, hat das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung errechnet. Berücksichtigt man nur die im ersten Halbjahr erzielten Abschlüsse, die schon unter dem Eindruck des Ukrainekriegs und stark anziehender Preise erfolgten, liegt das Plus sogar bei 4,5 Prozent. Aber: Angesichts der hohen Inflation steht gesamtwirtschaftlich für die Beschäftigten wohl das zweite Jahr in Folge mit Reallohnverlusten an. Im vergangenen Jahr gingen die um die Inflation bereinigten Tariflöhne laut WSI um 1,4 Prozent zurück.

Aber jetzt geht’s dann richtig los?

»Die Gewerkschaften haben für die anstehenden Tarifverhandlungen teils zweistellige Forderungen gestellt. Ökonomen erwarten, dass die Runden Auswirkungen auf die Preise haben werden«, kann man diesem Beitrag des Handelsblatts entnehmen, bei dem schon in der Überschrift das Gespenst der Lohn-Preis-Spirale platziert wird: Höchste Tarifforderungen seit Jahren: Droht nun die Lohn-Preis-Spirale? »Acht Prozent mehr Geld fordert die IG Metall in der Metall- und Elektroindustrie, 10,5 Prozent verlangen Verdi und Beamtenbund für den öffentlichen Dienst.« Verdi und Beamtenbund haben mit 10,5 Prozent für die 2,5 Millionen Staatsdiener bei Bund und Kommunen – die Bediensteten der Bundesländer sind in dieser Runde nicht betroffen – die bislang höchste Forderung gestellt.

Und in dem vor wenigen Tagen erst veröffentlichten Artikel findet man auch diesen Branchen-Hinweis: »Auch in der Chemie-Industrie beginnen nun die Verhandlungen über neue Tariflöhne.« Um dann gleich nachzuschieben: »Doch die Industriegewerkschaft IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) will in der Tarifrunde für die chemisch-pharmazeutische Industrie nicht in den Überbietungswettbewerb einsteigen.« Die IG BCE und der Arbeitgeberverband BAVC nehmen die Chemie-Tarifrunde wieder auf, die im April ausgesetzt worden war. »Damals hatten sich beide Seiten auf eine „Brückenzahlung“ von 1400 Euro verständigt, jetzt wird darüber verhandelt, wie ein Inflationsausgleich für die Beschäftigten gelingen kann, ohne den Unternehmen die Luft abzuschnüren.«

Hier geht es nicht um irgendeine Branche, sondern um eine der drei großen Säulen des deutschen Industriemodells: Die Chemiebranche mit 1.900 Betrieben ist Deutschlands drittgrößter Industriezweig nach der Automobilindustrie und dem Maschinenbau. Und die Chemieindustrie ist bekanntlich in schweres Fahrwasser geraten: »Die Chemiebranche ist als größter industrieller Energieverbraucher in Deutschland von den explodierten Energiepreisen stark betroffen. Für die Unternehmen ist Gas nicht nur der wichtigste Energieträger, sondern wird auch in großen Mengen zur Produktion ihrer Produkte benötigt. Ihnen fällt es immer schwerer, steigende Kosten durch höhere Preise an die Kunden abzuwälzen«, berichtet die FAZ.

Und dann kommen solche Meldungen: Bis zu 15,6 Prozent mehr für Chemiearbeiter: »Wegen Inflation und Krise gehen manche Arbeitgeber und Gewerkschaften wild aufeinander los. Die Chemie- und Pharmaindustrie dagegen verständigt sich geräuschlos auf einen Abschluss.« Inmitten von Energiekrise und hoher Inflation einigen sich die Gewerkschaft IG BCE und die Arbeitgeber auf einen Abschluss für 580.000 Beschäftigte in der Chemie- und Pharmabranche.

Und an anderer Stelle heißt es: »Das ging schnell: Arbeitgeber und die Gewerkschaft IG BCE haben sich auf einen Tarifabschluss für die Beschäftigten der Chemie- und Pharmabranche geeinigt. Sie bekommen deutlich mehr Geld.« Der Artikel hat andere Zahlen in der Überschrift: 6,5 Prozent und einmal 3000 Euro für Chemie-Beschäftigte. Dem Beitrag kann man auch entnehmen, dass wir es wieder mit einem Abschluss zu tun bekommen, der als komplex, weil aus unterschiedlichen Komponenten bestehend, zu bezeichnen ist und man muss zugleich bei der Bewertung von Prozentwerten auf die Laufzeit des Tarifabschlusses achten:

»Die Gewerkschaft IG BCE und der Arbeitgeberverband BAVC haben sich mitten in der Energiekrise auf ein neues Tarifpaket für die 580.000 Beschäftigten der Chemie- und Pharmaindustrie geeinigt. Wie beide Seiten am Dienstag in Wiesbaden mitteilten, sieht es als tarifliches Inflationsgeld Sonderzahlungen in zwei Tranchen von jeweils 1500 Euro pro Kopf vor, die spätestens im Januar 2023 und im Januar 2024 fällig werden. Ebenfalls jeweils zum Januar 2023 und 2024 greifen zudem tabellenwirksame Entgelterhöhungen von je 3,25 Prozent, in Summe also 6,5 Prozent. Beide Stufen der Entgelterhöhung sind flexibilisiert; sie können aus wirtschaftlichen Gründen jeweils um bis zu drei Monate verschoben werden. Mit dem tariflichen Inflationsgeld wird das Angebot der Bundesregierung, zur Entlastung der Menschen Zahlungen der Arbeitgeber von bis zu 3000 Euro steuer- und abgabenfrei zu stellen, voll ausgenutzt. Sonderzahlungen und tabellenwirksame Entgelterhöhungen erzeugen in Summe für Chemie-Beschäftigte eine Nettoentlastung von durchschnittlich 12,94 Prozent, in der Einstiegs-Entgeltgruppe liegt sie bei 15,64 Prozent.« Wichtig zu wissen: Der Tarifvertrag läuft 20 Monate bis Ende Juni 2024.

»Die Chemie- und Pharmaindustrie einigt sich damit geräuschlos auf einen Tarifvertrag, während die allgemeine Krisenstimmung die Fronten in anderen Branchen sichtlich verhärtet hat. In der Metall- und Elektroindustrie bewegt sich trotz vieler Verhandlungstermine seit Wochen nichts. Arbeitgeberchef Stefan Wolf forderte dort zuletzt eine Nullrunde. Die IG Metall keilt zurück und droht offen mit Warnstreiks von Ende Oktober an. Auch in ein anderen großen Tarifrunde in diesem Winter gelten Streiks als wahrscheinlich: Im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen sorgten Verdi und Beamtenbund mit einer zweistelligen Forderung von 10,5 Prozent für Aufsehen«, so Alexander Hagelüken und Benedikt Peters in der Süddeutschen Zeitung.