Überall rumort es wegen steigender Preise und Kosten. Teile der ambulanten Pflege sehen sich einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt

Die Klagen über steigende Preise und damit verbunden höhere Kosten ziehen sich durch die ganze Gesellschaft, bei vielen Haushalten und Unternehmen gleichermaßen. Natürlich ist die Betroffenheit der Haushalte von der bisherigen (und absehbaren) Inflationsentwicklung nicht gleichverteilt, gerade die mit unteren und mittleren Einkommen gehen da stärker auf die Knie als andere. Und auch bei den Unternehmen gibt es eine unterschiedliche Betroffenheit, die auch davon abhängig ist, inwieweit man die Kostenanstiege durch die Preisentwicklung beispielsweise bei Energie und Vorprodukten an die eigenen Abnehmer weiterreichen kann oder ob das aufgrund der Wettbewerbsintensität oder der Preissensitivität der Nachfrage nicht oder nur teilweise möglich ist. Nun können aber „normale“ Unternehmen zumindestens versuchen, die Kostenanstiege auf ihre Kunden zu überwälzen. Schwierig bis unmöglich ist das für Unternehmen, die mit administrierten Preisen konfrontiert sind, deren (Nicht-)Anpassung durch andere Interessen wie der Einhaltung vorgegebener Budgetsteigerungen bestimmt werden. Pflegedienste gehören mit Blick auf das, was ihnen von den Kranken- und Pflegekassen gewährt wird, zu dieser „Problemgruppe“.

Die Bayern haben Probleme wie die Pflegedienste in anderen Bundesländern auch – sie leiden aber unter einem „bayerischen Sonderweg

Während die Pflegeheime und zunehmend auch die Pflegedienste in den vergangenen Jahren immer wieder unter dem Stichwort „Fachkräftemangel“ in der öffentlichen Berichterstattung auftauchen, was viele dieser so zentralen Einrichtungen der Daseinsvorsorge in schwere See gebracht hat, wird nun ein weiterer „Mangel“ kritisiert: Verbände sehen ambulante Pflege in Bayern wegen Kostenexplosion gefährdet, meldet das Deutsche Ärzteblatt in seiner Online-Ausgabe: »Der Arbeitskreis privater Pflegevereinigungen sieht die ambulante Versorgung im Freistaat Bayern aufgrund der stark gestiegenen Kosten als gefährdet an.«

Die Berichterstattung geht zurück auf diese Mitteilung: Weil sich Kranken- und Pflegekassen den Verhandlungen über gestiegene Kosten verweigern: Ambulante Versorgung in Bayern vielerorts gefährdet. Hier meldet sich also die Anbieter-Seite zu Wort: »Der Arbeitskreis Privater Pflegevereinigungen (Zusammenschluss der Pflegeverbände in Bayern aus ABVP, bpa, bad, B.A.H., DBfK und VDAB) warnt vor der Gefahr, dass die pflegerische Versorgung vielerorts zum Erliegen kommt. Das Gesundheitsministerium weiß um die Probleme.«

Die explodierenden Benzinpreise und die hohe Inflationsrate haben zu einer dramatischen Sachkostensteigerung von ca. 14 % geführt. Das ist mit den derzeitigen Vergütungen nicht refinanzierbar. »Bei den Verhandlungen im vergangenen Jahr habe niemand diese Preisentwicklung voraussehen können«, so Kai A. Kasri, Landesvorsitzender des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa). Die Verbände der Anbieter von Pflegedienstleistungen reklamieren einen „Rechtsanspruch darauf, bei unvorhergesehenen massiven Kostensteigerungen die erforderlichen Preisanpassungen vorzunehmen.“

In dem Hilferuf der Verbände wird von einem „bayerischen Sonderweg“ gesprochen: »In vielen anderen Bundesländern erkennen die Kassen angesichts der massiven Kostensteigerungen den Rechtsanspruch der Pflegedienste auf die erforderlichen Preisanpassungen an. „Trotzdem bestreiten die Kassen diese Entwicklung und lehnen Verhandlungen zur Refinanzierung ab“, ergänzt Stefanie Renner, stv. Geschäftsführerin des DBfK Südost.«

Und es sind nicht nur die gestiegenen Sprit- und sonstigen Preise, die den Anbietern Sorgen machen:

»Die ambulanten Pflegedienste benötigen auch vor dem Hintergrund der ab September geltenden Tariflohnpflicht monetäre Planungssicherheit.« Vgl. zu der hier angesprochenen Thematik den Beitrag Noch nicht einmal jede dritte Pflegeeinrichtung mit irgendeiner „Tarifbindung“. Erste Zahlen aus einer weitgehend tariflosen Zone – und harte Euro-Beträge einer „Lohnbindung durch die Hintertür“ ab dem Herbst 2022 vom 8. Februar 2022.

➔ Eine Aktualisierung der ersten Daten – die sich auf alle Pflegeeinrichtungen beziehen – aus dem Beitrag, der im Februar 2022 veröffentlicht wurde, ist am 11. Juli 2022 vom AOK-Bundesverband für die Seite der Pflegekassen (die AOK hat die Zusammenführung und Plausibilisierung der Rückmeldungen der Pflegeeinrichtungen übernommen) vorgelegt worden: 25 Prozent der Pflegeeinrichtungen zahlen schon auf Tarifniveau, 53 Prozent werden nachziehen, so ist die entsprechende Meldung überschrieben: »25 Prozent der mehr als 34.000 Pflegeeinrichtungen in Deutschland bezahlen ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereits heute nach Tarif. Weitere 53 Prozent werden den gesetzlichen Vorgaben entsprechend ab dem 1. September 2022 nachziehen und ihre Beschäftigten ebenfalls in Tarifhöhe bzw. in Höhe von kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen bezahlen.« „Damit ist die Bezahlung mindestens auf Tarifniveau in knapp 80 Prozent der Pflegeeinrichtungen in Deutschland aktuell in der Umsetzung oder bereits vollzogen“, so Carola Reimann, die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes. „Klärungsbedarf gibt es noch mit den Pflegeeinrichtungen, die bisher keine Rückmeldungen an die Pflegekassen abgegeben haben, obwohl sie dazu verpflichtet waren.“ Die Regelungen des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) sehen vor, dass die Landesverbände der Pflegekassen ab 1. September Versorgungsverträge nur noch mit Pflegeinrichtungen schließen dürfen, die mindestens in Tarifhöhe bezahlen. Die hier genannten Werte beziehen sich auf die (nicht) eingegangenen Rückmeldungen bis zum 30. April 2022, auch nach diesem gesetzten Termin sind noch weitere Nachmeldungen eingegangen und werden wahrscheinlich noch folgen. Die AOK weist aber auch darauf hin, dass es im bestehenden System der Pflegefinanzierung sehr wohl eine (sogar vollständige) Überwältungsmöglichkeit der Kostenanstiege auf Dritte gibt, denn wenn nicht die Pflegekassen oder wer auch immer die höheren Kosten übernimmt, dann landet das auf der Rechnung der betroffenen Pflegebedürftigen: »Die finanziellen Auswirkungen der neuen Tariftreue-Regelungen sind noch unklar. „Fest steht aber, dass höhere Löhne auch zu höheren Kosten führen werden. Es besteht die Gefahr, dass sie in Form höherer Eigenanteile auf die Pflegebedürftigen abgewälzt werden“, warnt Carola Reimann.« Das bezieht sich nicht nur, aber vor allem auf den Bereich der stationären Langzeitpflege, wo wir sowieso schon ein ganz erhebliches Problem mit gestiegenen „Eigenanteilen“ der Pflegebedürftigen haben.

Zurück zu den Alarmrufen der Anbieter-Seite in Bayern hinsichtlich der bereits realisierten Kostenanstiege: „Kein Pflegedienst hat Ressourcen, um solche Kostensteigerungen auf Dauer aufzufangen“, so Franziska Arsenijevic, Vorsitzende des ABVP. Und Gabriele Obermaier, Vorstandsmitglied des VDAB Landesverbandes Bayern ergänzt, »aus ihren Beratungen bei Pflegediensten, überlegen bis zu 30 % der Pflegedienste ihren Betrieb einzustellen.«

Natürlich sind solche Katastrophen-Szenarien immer mit Vorsicht zu bewerten, dienen sie doch oft dazu, einen entsprechenden Druck in Politik und Öffentlichkeit aufzubauen. Aber viele ambulante Pflegedienste (wo es im Vergleich zur stationären Langzeitpflege und erst recht mit Blick auf die Krankenhauspflege die niedrigste Vergütung für die Pflegefach- und -hilfskräfte gibt) stehen schon seit längerem unter erheblichen Druck (in einer an sich für sie sehr vorteilhaften Ausgangssituation, denn die Nachfrage nach ambulanten Pflegedienstleistungen ist durch gesetzgeberische Verbesserungen bei der Inanspruchnahmemöglichkeit wie auch durch eine steigende Nachfrage aufgrund der Tatsache, dass immer mehr Menschen so lange wie möglich zu Hause verbleiben wollen). Immer öfter wird aus zahlreichen Regionen des Landes gemeldet, dass Pflegebedürftige und ihre Angehörige schlichtweg keinen Anbieter mehr finden (können), der mit ihnen einen Versorgungsvertrag zu schließen bereit ist. Weil das Personal fehlt und auch, weil gerade in den ländlichen und kleinstädtischen Regionen lange Anfahrtswege gegeben sind. Das führt naturgemäß zu ganz anderen Versorgungsfrequenzen als in städtischen Ballungsräumen und entsprechend niedrigeren Einnahmen, denn die werden am Pflegebedürftigen realisiert. Wenn dann noch eine pauschale Erstattung der Fahrtkosten hinzukommt, die nicht zeitnah dynamisiert wird angesichts einer so außergewöhnlichen Preisentwicklung bei den Spritkosten, wie wir sie derzeit seit längerem erlebt haben (und wahrscheinlich noch erleben werden), dann kann man es betriebswirtschaftlich durchaus nachvollziehen, dass längere Anfahrtzeiten in den ländlichen Regionen betriebswirtschaftlich nicht mehr darstellbar sind. Hinzu kommt der Tatbestand, dass sehr viele der gut 15.000 ambulanten Pflegedienste überschaubar kleine Unternehmen sind, denen es oft an jeglichen finanziellen Reserven mangelt und für die es schwer bis unmöglich ist, eine längere Durststrecke mit eigenen Reserven zu stemmen.

Man sollte den Herbst dieses Jahres besonders intensiv vor Augen haben, denn da kommen die Kostenanstiege durch die Lohnanhebungen bei vielen der zumeist tarifungebundenen Pflegedienste (die alle im Grunde ja auch befürworten und die seit langem gefordert wird) sowie die nächsten großen Preissprünge im Energiebereich. Was unbedingt verhindert werden muss ist ein Kollaps von Teilen des sowieso schon fragilen ambulanten pflegerischen Settings wenn auch nicht flächendeckend, aber in bestimmten Gebieten. Hier gibt es eine Sicherstellungspflicht des Staates, die aber auch rechtzeitig eingelöst werden sollte.