Vom Jobkiller zur Produktivitätspeitsche? Der gesetzliche Mindestlohn von 2015 und seine Evaluierung

Viele werden sich noch daran erinnern, wie im Vorfeld der Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns von vielen interessierten Seiten massiv gegen diese Lohnuntergrenze geschossen wurde – immer wieder kolportierten die Medien die Erwartung von nicht wenigen wortgewaltigen Ökonomen, dass sich der Mindestlohn als „Jobkiller“ erweisen werde, die Rede war von hunderttausenden Jobs, die wegfallen werden, weil die Unternehmen die Lohnkostensteigerung nicht werden tragen können.

Das ist Schnee von gestern, werden im Jahr 2022 viele denken, denn das damalige an die Wand gemalte Horrorszenario ist ausgeblieben, stattdessen haben wir in Deutschland ein Rekord beim Beschäftigungsniveau nach dem anderen erlebt und selbst der Beschäftigungseinbruch in den ersten beiden Corona-Jahren ist mittlerweile nicht nur wieder aufgeholt worden, sondern gemessen an den Erwerbstätigen haben wir nunmehr mehr Beschäftigte als kurz vor Beginn der krisenhaften Entwicklung im Gefolge der im Frühjahr 2020 ausgebrochenen Corona-Pandemie.

Aber wir sind 2022 in einem ganz besonderen Mindestlohn-Jahr (vgl. dazu auch den Beitrag Was ist schon eine Forderung von acht Prozent mehr gegen eine Erhöhung von über 20 Prozent? Zur Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro ab Oktober 2022 vom 10. Juli 2022). Zum 1. Januar 2022 wurde der gesetzliche Mindestlohn von 9,60 Euro auf 9,82 Euro pro Stunde angehoben und bereits sechs Monate später hat er mit 10,45 Euro die 10-Euro-Schwelle überschritten. Aber auch die Erhöhung zum 1. Juli 2022 ist nur eine vorübergehende, denn am 1. Oktober dieses Jahres wird es eine einmalige „Sonder-Anhebung“ auf 12 Euro geben. Nach langen Jahren der eher moderaten Erhöhungen ist das schon eine ordentliche Hausnummer.

Natürlich werden erneut Bedenken vorgetragen, dass es zu negativen Beschäftigungswirkungen kommen wird. Nicht nur vor diesem Hintergrund ist es hilfreich, wenn man sich anschaut, was die umfangreich angelegte Evaluierung des 2015 eingeführten gesetzlichen Mindestlohns ergeben hat. Dazu wurden von der Mindestlohnkommission zahlreiche Studien in Auftrag gegeben und veröffentlicht (vgl. hierzu die Übersicht der Forschungsprojekte). Darunter ist auch eine Studie, die sich mit der Frage beschäftigt hat, welche Auswirkungen auf die Wettbewerbsbedingungen von Unternehmen beobachtet werden konnten, denn in der hitzigen Diskussion über mögliche negative Folgen des Mindestlohns wurde immer wieder die Befürchtung und zuweilen sichere Erwartung vorgetragen, dass Unternehmen aus dem Markt ausscheiden werden, weil sie den Kostenanstieg mit der Mindestlohneinführung nicht werden stemmen können. Die Ergebnisse dieser vom ZEW durchgeführten Analyse sind nun veröffentlicht worden:

➔ ZEW (2022): Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns auf die Wettbewerbsbedingungen. Studie im Auftrag der Mindestlohnkommission, Mannheim: Leibnitz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), Januar 2022

Das ZEW hat eine Zusammenfassung der Befunde unter der Überschrift Mindestlohn hatte nur geringe Auswirkungen auf die Wettbewerbsbedingungen veröffentlicht: »Eine Studie des ZEW Mannheim im Auftrag der Mindestlohnkommission zeigt nun, dass die Mindestlohn-Einführung 2015 sowie die erste Erhöhung im Januar 2017 kaum Marktaustritte von Unternehmen verursacht hat. Die Forscher/innen stellen außerdem fest, dass manche Branchen durch die Lohnuntergrenze teils sogar produktiver wurden – und so den Wettbewerb insgesamt förderten.«

„Hauptaspekt unserer Untersuchung waren die Lohnkostenerhöhungen, die durch den Mindestlohn verursacht werden und am Ende die Wettbewerbsbedingungen von Unternehmen beeinflussen“, so Moritz Lubczyk vom ZEW.

Ein wichtiger Befund der Studie:

»Sowohl die Einführung 2015 als auch die erste Erhöhung des Mindestlohns 2017 hatten nicht zur Folge, dass sich die Wettbewerbsintensität für Unternehmen in Deutschland verändert hat – zumindest nicht wesentlich. In Arbeitsmarktregionen, in denen mehr Arbeitnehmer/innen vor der Mindestlohneinführung weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdienten, verließen zwar Kleinstunternehmen, also Unternehmen mit vier oder weniger Mitarbeiter/-innen, den Markt. Gezeigt hat sich das vor allem in den ehemaligen ostdeutschen Bundesländern, wo der Bruttodurchschnittslohn 2015, zum Untersuchungszeitpunkt, wesentlich niedriger war als im Westen. Aus wirtschaftspolitischer Sicht ist das aber nicht zwingend ein Problem: „Oft sind es die unproduktiveren Unternehmen, die den Markt verlassen. Ein Anstieg der Arbeitslosigkeit konnte jedoch nicht beobachtet werden. Solange die Arbeitsnachfrage hoch ist, finden die betroffenen Arbeitnehmer/innen bei anderen Unternehmen eine Folgebeschäftigung“, so Moritz Lubczyk.«

Ein weiterer Aspekt:

»Auch hat sich gezeigt, dass in Branchen, die besonders von der Einführung des Mindestlohns betroffen waren (etwa die Spiel-, Wett- und Lotteriewesen, die Werbebranche oder das Verlagswesen) die Arbeitsproduktivität – also der Umsatz im Verhältnis zu den eingesetzten Arbeitskräften – angestiegen ist. Die Studie gibt mehrere Erklärungsansätze: „Zum einen kann das damit zusammenhängen, dass Unternehmen verstärkt in Kapital, also Maschinen oder Technologien, investieren und somit ihre Arbeitskräfte produktiver einsetzen; andererseits ist denkbar, dass Unternehmen statt auf geringfügige mehr auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse setzen und auch somit die Produktivität der Arbeitnehmer/innen steigt“, sagt Lubczyk. Ein weiterer Grund: „Wenn vor allem weniger produktive Unternehmen aus dem Markt austreten, dann steigt die durchschnittliche Produktivität der gesamten Branche.“«

Interessant hinsichtlich des Evidenzgrades der Untersuchung sind auch die Hinweise zu den verwendeten Datenquellen: »Als Datengrundlage diente … das Mannheimer Unternehmenspanel (MUP), die Verdienststrukturerhebung (VSE) sowie Datensätze der integrierten Erwerbsbiografien (IEB) für Branchen und Regionen. Um die Bedeutsamkeit der Veränderungen beurteilen zu können, wurden die Daten von 2010, also deutlich vor Einführung des Mindestlohns, bis 2018 miteinander verglichen.«

Fazit: Es wurde gebohrt, hat aber nicht wirklich weh getan.

Wir dürfen gespannt sein, was sich nach der Anhebung auf 12 Euro ab Oktober 2022 ergeben wird. Darüber kann man wie immer nur spekulieren, allerdings mit Blick auf die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns und seinen ersten Anhebungen und der darüber vorliegenden empirischen Erkenntnisse kann man zumindest vor neuen Horrorszenarien nur warnen. Aber auch die Befürworter des Sprungs auf 12 Euro, die gute Argumente haben, müssen mit Blick auf das, was noch kommt, zugestehen, dass es auch anders kommen kann als nach der Installierung der allgemeinen Lohnuntergrenze im Jahr 2015 (auf einem relativ niedrigen Niveau).