In den vergangenen Wochen wurde im Kontext der stark gestiegenen Inflation immer wieder das Noch-Gespenst einer „Lohn-Preis-Spirale“ an die Wand gemalt. In der bisherigen Entwicklung der Löhne kann man einen Inflationsturbo nicht wirklich erkennen, ganz im Gegenteil sehen wir flächendeckend Reallohnverluste bei den Beschäftigten. Abgelenkt wird zudem von der Tatsache, dass wir es wenn, dann mit einer „Preis-Lohn“-Spirale zu tun bekommen könnten. Das ist nicht nur ein semantischer Unterschied. Dennoch ist es gelungen, durch das mediale Dauerfeuer eine Sensibilisierung für die angeblich drohende Gefahr von „zu großen“ Lohnsteigerungen herzustellen – und alle scheinbaren Belege für diese These werden aufgegriffen und verbreitet. So beispielsweise das hier: Tarifverhandlungen mit Volkswagen: IG Metall fordert acht Prozent höhere Löhne: »Die IG Metall will in den anstehenden Tarifverhandlungen für die rund 125.000 Beschäftigten bei Volkswagen in Westdeutschland acht Prozent höhere Löhne durchsetzen. Die große Tarifkommission der bei dem Autobauer besonders stark vertretenen Industriegewerkschaft begründete die Forderung am Mittwoch mit der gestiegenen Inflation und hohen Gewinnen von Volkswagen. Der neue Tarifvertrag soll zwölf Monate laufen.« Die Forderung für den Haustarifvertrag mit VW entspricht von der Größenordnung acht Prozent der Zielvorgabe der IG Metall für die bundesweit 3,9 Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustriefür. Aber da ist schon der wichtige und einschränkende Hinweis: Es handelt sich um die Forderung der Gewerkschaft. Und eine Forderung ist noch lange kein Abschluss und man kann gesichert davon ausgehen, dass wie immer der tatsächliche Lohnabschluss geringer, möglicherweise sogar deutlich niedriger ausfallen wird.
Wenn man es lieber handfester mag, dann lohnt gerade in diesem Jahr der steigenden Preise der Blick auf die Entwicklung des gesetzlichen Mindestlohns, der am 1. Januar 2015 mit 8,50 Euro brutto pro Stunde für (fast) alle als Lohnuntergrenze gestartet ist. Denn von außen betrachtet ist es wirklich beeindruckend: Im Jahr 2022 wird der gesetzliche Mindestlohn um über 20 Prozent angehoben. Ab dem 1. Oktober 2022 wird die Schwelle von 12 Euro brutto pro Stunde erreicht werden – dank eines „einmaligen“ Eingreifens der Politik im Sinne einer Außerkraftsetzung der bisherigen Anpassungsmechanik, für die nach außen die Mindestlohnkommission zuständig ist. Denn auf die Anhebung auf 12 Euro pro Stunde hatten sich SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag von Ende November 2021 zur Umsetzung eines Versprechens von SPD und Grünen aus dem Bundestagswahlkampf des vergangenen Jahres verständigt (natürlich mit einem Preis, denn die FDP hat sich das zähneknirschend abkaufen lassen, u.a. mit einer Anhebung – und nicht etwa einer von vielen geforderten Abschaffung bzw. Begrenzung – der Verdienstgrenze bei den Minijobs und einer zukünftig automatischen Anhebung im Gefolge von Mindestlohnerhöhungen. Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Ein klassisches Tauschgeschäft: Der eine bekommt einen höheren Mindestlohn, der andere eine Verfestigung und Ausweitung der Minijobs. Trotz vieler Gegenargumente vom 24. November 2021).
Natürlich muss man korrekterweise darauf hinweisen, dass es sich sowohl bei den Forderungen der Gewerkschaften wie auch bei den Anhebungen des gesetzlichen Mindestlohns um prozentuale Veränderungen ganz unterschiedlicher Ausgangsniveaus handelt. Also ein Prozent mehr bei den sehr gut bezahlten Beschäftigten in der Automobilindustrie ist eine ganz andere Hausnummer als wenn wir uns ein Prozent Anhebung eines Mindestlohns anschauen, der jahrelang unter neun bzw. zehn Euro pro Stunde eingemauert war.
Aber wie dem auch sei – aber eine über 20-prozentige Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns ist schon ein ordentlicher Sprung, den man sicher gut begründen kann aus der Perspektive, dass die bis Anfang 2022 erreichte Mindestlohnhöhe viel zu niedrig war und die bisherigen Anhebungen, dann auch noch gefangen im Korsett einer politisch vorgegebenen nachlaufenden Abbildung von Tarifentwicklungen, die Erblast eines tiefen Einstiegs 2015 mit sich trägt. Die „andere“ Seite allerdings wird aus ihrer Sicht durchaus nachvollziehbar anmerken, dass die am aktuellen Rand erfolgten bzw. demnächst anstehenden deutlichen Anhebungen der Lohnuntergrenzen in den den Branchen, in denen viele Mindestlöhner eingesetzt werden, einen erheblichen Anstieg der Personalkosten bewirken werden. Außerdem – das treibt viele Unternehmen deutlich stärker um als die Anhebung des Mindestlohns selbst – wird der Lohndruck nach oben erheblich verschärft, denn viele Arbeitnehmer werden darauf bestehen, dass die heute schon vorhandenen Abstände zum Mindestlohn fortgeschrieben werden.
Vor diesem Hintergrund ist es natürlich von Interesse zu erfahren, ob denn nun viele Betriebe und Beschäftigte von der Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns betroffen sind bzw. mit Blick auf den Oktober betroffen sein werden. Dass wir hier offensichtlich nicht über eine Maßnahme reden, die „nur“ Randgruppen betreffen, kann man an solchen Äußerungen erkennen: Für Niedrigverdiener sei es „der größte Lohnsprung ihres Lebens“, so wird der Bundesarbeitsministerr Hubertus Heil (SPD) zitiert. In einem Beitrag, der schon in der Überschrift eine ziemlich große Zahl transportiert: Hubertus Heil spricht von Lohnsprung für sechs Millionen Menschen. Der Minister: „Wer bisher Vollzeit auf Basis des Mindestlohns brutto 1.700 Euro verdient, der kriegt zukünftig 2.100 Euro. Das ist immer auch noch nicht die Welt, aber es ist spürbar im Portemonnaie.“
Wie viele Beschäftigungsverhältnisse und welche werden von der Anhebung des Mindestlohns betroffen sein?
Der Bundesarbeitsminister hat ja bereits eine Zahl, eine große Zahl, in den Ring der öffentlichen Berichterstattung geworfen. Sechs Millionen. Schauen wir einmal genauer hin. Eine Abschätzung der Größenordnung hat das IAB der Bundesagentur für Arbeit (BA) versucht. Herausgekommen ist das hier:
Anfang Juli meldet das IAB: 12 Euro Mindestlohn betreffen mehr als jeden fünften Job: »Die von der Bundesregierung beschlossene Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro pro Arbeitsstunde betrifft insgesamt rund 22 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse, ausgehend von der Entlohnung im Jahr 2021. Das sind etwa doppelt so viele wie bei der Mindestlohneinführung im Jahr 2015.« Das habe eine neue Studie ergeben, die man hier im Original abrufen kann:
➔ Erik-Benjamin Börschlein et al. (2022): Mindestlohnerhöhung im Oktober 2022: 12 Euro Mindestlohn betreffen mehr als jeden fünften Job. IAB-Kurzbericht Nr. 12/2022, Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), 2022
Nun können „Jobs“ sehr unterschiedlich sein. Viele Menschen denken an wie auch immer ausgestaltete „normale“ Jobs, wobei die landläufige Vorstellung von „normal“ immer noch auf die „normale“ Arbeitszeit im Sinne eines Vollzeitjobs abstellt. Der unterscheidet sich aber von einem „normalen“ Halbtagsjob und noch mehr von den geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, die aber alle – oftmals unreflektiert – gleichgewichtig als Jobs behandelt werden. Das man hier unterscheiden muss, machen auch die Ergebnisse der neuen Studie aus dem IAB deutlich:
»Die Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro pro Arbeitsstunde betrifft vor allem Minijobs: Der hochgerechnete Stundenlohn 2021 liegt in mehr als 70 Prozent der Minijobs unter 12 Euro. Demgegenüber betrifft die Mindestlohnerhöhung 13,4 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse. Dabei sind Teilzeitjobs im Vergleich zu Vollzeitjobs stärker von der Mindestlohnerhöhung betroffen. So beträgt der Anteil der Teilzeitjobs, die 2021 unterhalb von 12 Euro entlohnt werden, rund 24 Prozent, bei Vollzeitjobs dagegen nur knapp 9 Prozent.«
Die Mindestlohnbetroffenheit ist außerdem keineswegs gleichverteilt über alle Branchen, ganz im Gegenteil, wie man es auch erwarten würde:
»Unter den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen sind das Gastgewerbe und die Landwirtschaft mit etwa 50 Prozent der von der Mindestlohnerhöhung am stärksten betroffen. Im Verarbeitenden Gewerbe sind es dagegen mit knapp 10 Prozent deutlich weniger.«
Und wie viele sind das in absoluten Zahlen? Das IAB hat unter Verwendung von Daten aus der Verdienststrukturerhebung (VSE) des Statistischen Bundesamtes mehr als 8,3 Mio. Beschäftigungsverhältnisse (ohne Auszubildende), die unter der 12-Euro-Schwelle liegen, ermittelt. 3,97 Mio. geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sowie 4,34 Mio. sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse (davon 1,92 Mio. Vollzeit- und 2,42 Mio. Teilzeit-Jobs).
Die Autoren der Studie geben in einem Interview – Höherer Mindestlohn betrifft mehr als jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis – einige ergänzende Informationen zur Einordnung der Ergebnisse. Die Anzahl der in diesem Jahr betroffenen Arbeitnehmer wird deutlich größer sein als zur Mindestlohneinführung 2015. Dabei muss berücksichtigt werden, »dass die Zahl der Beschäftigten, die zum bisherigen Mindestlohn entlohnt wurden, im Zeitverlauf sogar gesunken ist. Diese Entwicklung ist plausibel, weil unsere Auswertungen zeigen, dass die Erhöhungen des Mindestlohns bis 2021 bislang hinter der allgemeinen Lohnentwicklung zurückgeblieben sind.«
Auch der hier bereits angesprochene Lohndruck nach oben wird theamtisiert: »Die Mindestlohnforschung, etwa zur Mindestlohneinführung in Deutschland, hat gezeigt, dass sich der Mindestlohn vereinzelt auch auf Löhne weiter oben in der Lohnverteilung auswirkt und so im Durchschnitt der gesamte Niedriglohnbereich profitiert. Ob das jetzt wieder der Fall sein wird, hängt jedoch ganz wesentlich davon ab, ob sich die Arbeitgeber solche Lohnsteigerungen über den Mindestlohn hinaus leisten können. Durch die gestiegene Inflation wird der Druck auf Löhne entlang der gesamten Lohnverteilung zwar steigen, es wird sich jedoch zeigen, ob das wirtschaftliche Umfeld in den nächsten Monaten so positiv bleibt, dass solche nicht unmittelbar durch den Mindestlohn hervorgerufenen Lohnsteigerungen möglich sind.«
Und neben Unterschieden zwischen den Branchen stellt sich die Frage nach regionalen Unterschieden – solche haben wir ja bereits bei der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 gesehen, vor allem in Form einer überdurchschnittlich starken Betroffenheit in Ostdeutschland (übrigens haben die überwiegend sehr positiven Effekte der Mindestlohneinführung dann dazu geführt, dass sich die Monatslöhne zwischen Ost und West einander ein Stück weit angenähert haben).
»Eine regional differenzierte Betroffenheit der Mindestlohnanhebung zeigt sich deutlich und beschreibt ein klares Ost-West-Gefälle. Die Diskrepanz reicht nach unseren Berechnungen von fast 32 Prozent betroffener Beschäftigter in Brandenburg bis knapp 18 Prozent in Baden-Württemberg. Innerhalb der westdeutschen Flächenländer treten Nord-Süd-Unterschiede auf. So liegt die hochgerechnete Betroffenheit von der Anhebung auf 12 Euro in Schleswig-Holstein bei rund 24 Prozent und in Bayern beispielsweise nur bei rund 18 Prozent.«
Natürlich muss man in diesem Jahr der steigenden Preise auch die Rückwirkungen der Inflation auf die (nominalen) Mindestlohnanhebungen berücksichtigen. Dazu Mario Bossler vom IAB: »Wenn wir mittlerweile von einer Preissteigerung in Höhe von 7,9 Prozent ausgehen, bedeutet das eine reale Entwertung des ab 1. Oktober dieses Jahres geltenden Mindestlohns um rund einen Euro – und damit eine Abschwächung der Erhöhung des Mindestlohn gegenüber 2021. Die reale Kaufkraft der Mindestlohnbeschäftigten sinkt deutlich durch die hohe Inflation. Es bleibt deshalb abzuwarten, wie sich die Inflation auf die gesamte Lohnentwicklung in den kommenden Jahren auswirken wird – und natürlich auf die nächste Entscheidung der Mindestlohnkommission, die im Juni 2023 ansteht.«