Sie tun es immer noch: Krankenkassen üben Druck aus auf Empfänger von Krankengeld. Dabei wurde doch sogar das Gesetz geändert, um das zu verhindern

Springen wir zurück in den Herbst des Jahres 2014. Damals wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Freundliche Nachfrage oder Druck ausüben? Die Krankenkassen und das Krankengeld. Darin musste man von diesen Vorwürfen der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) lesen: »Mitarbeiter der Kassen rufen mitunter Patienten, die lange krankgeschrieben sind, wöchentlich an. „Ob es schon besser gehe? Ob man den Psychotherapeuten wechseln wolle? Oder einen Psychiater aufsuchen? Entsprechende Therapeuten könne man empfehlen, heißt es dann am Telefon … Angeblich hätten Kassenmitarbeiter auch nach medizinischen Diagnosen gefragt und die Betroffenen bedrängt.«

Natürlich wurde damals auch nach möglichen Ursachen gefragt: »Was könnte – wenn die Vorwürfe stimmen – der Hintergrund für ein solches Verhalten der Kassen sein? Wie immer könnte ein Motiv in der Größenordnung des Geldes zu finden sein, das hier von den Krankenkassen aufgebracht werden muss: 9,75 Milliarden Euro Krankengeld zahlten die Kassen 2013 aus … Zudem ist die Dauer des Bezugs gestiegen.«

Das mit den 9,75 Mrd. Euro ist längst Geschichte (nicht aber das mit dem damals kritisierten Verhalten der Krankenkassen).

Aber schon im Jahr 2014 war das keine neue Erkenntnis, so wurde auf den kritischen Artikel Wenn der Krankengeldfallmanager prüft von Argeo Bämayer hingewiesen, veröffentlicht 2010 in der Zeitschrift NeuroTransmitter, Zeitschrift für Nervenärzte, Neurologen und Psychiater. Darin heißt es:

»Arbeitsunfähige psychisch Kranke erleiden häufig eine Verschlimmerung ihrer Erkrankung, wenn ärztlich tätige „Krankengeldfallmanager“ der Krankenkasse als medizinische Laien Anamnesen und psychische Befunde erstellen und anhand dieser Ergebnisse Patienten dahingehend „beraten“, die Arbeit wieder aufzunehmen. Dieses für alle Beteiligten entwürdigende Verfahren stellt in Form einer strukturellen Gewalt den finanziellen Aspekt über alle humanitären Grundsätze … Vorrangiges Ziel ist tatsächlich nicht die „Beratung“, sondern die Einsparung von Krankengeld, weshalb behandelnde Ärzte nahezu vollständig und Ärzte des MDK weitgehend ausgeschaltet werden und das schwächste Glied, der psychisch Kranke, persönlich in die „Mangel“ genommen wird.«

Die Informationslage damals hinsichtlich des Vorgehens der Kassen war dürftig: »Die einen Krankenkassen arbeiten mit „internen Abteilungen“ an der Bearbeitung der Krankengeldfälle, nur wenige wie die AOK Bayern oder die pronova BKK geben eine Beauftragung eines externen Dienstleisters zu.

Die Interessen der Kassen ergeben sich aus der Ausgestaltung des Krankengeldes. Nach der im Regelfall sechswöchigen Lohnfortzahlung des Arbeitgebers setzt normalerweise die Krankengeldzahlung der Kasse ein, die im Prinzip unbefristet ist,  wegen derselben Krankheit jedoch längstens für 78 Wochen innerhalb einer Blockfrist von 3 Jahren. Dadurch kommen – wie oben dargestellt – erhebliche Beträge zusammen.«

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat 2015 sogar im Auftrag der damaligen Bundesregierung ein Sondergutachten vorgelegt, das sich mit der Entwicklung der Ausgaben für Krankengeld und möglichen „Reformen“ beschäftigt hat:

➔ Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Krankengeld – Entwicklung, Ursachen und Steuerungsmöglichkeiten. Sondergutachten 2015, Bonn/Berlin 2015

Dort findet man zuerst einmal eine Relativierung der Ausgabenentwicklung. Dazu aus der Pressemitteilung: »Das Sondergutachten stellt fest: Die Entwicklung der Krankengeldausgaben ist in den letzten 20 Jahren uneinheitlich verlaufen. 1995 wurden 9,4 Milliarden Euro für Krankengeld ausgegeben, der Anteil an den Leistungsausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung betrug 8,1 %. Danach sank der Anteil fast kontinuierlich ab und erreichte 2006 mit 5,7 Milliarden Euro einen Tiefstand von 4,1 % an den GKV-Leistungsausgaben. Seit dem Jahr 2006 ist ein im Verhältnis zu den übrigen Leistungsausgaben überproportionaler Anstieg bei den Ausgaben für Krankengeld festzustellen. 2014 erreichten die Ausgaben für Krankengeld mit 10,6 Milliarden Euro einen bisherigen Höchststand.« Dann kommt der entscheidende Punkt: »Der Sachverständigenrat betont, dass ein erheblicher Teil der Ausgabensteigerungen seit 2006 auf politisch erwünschte Entwicklungen zurückzuführen ist: Zur Berechnung der Höhe eines Krankengeldanspruchs wird das Arbeitseinkommen der Versicherten herangezogen. Somit führten sowohl höhere durchschnittliche Erwerbseinkommen als auch eine größere Anzahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter in der Tendenz zu höheren Krankengeldausgaben. Zugleich wirkte sich die Zunahme von älteren krankengeldberechtigten Mitgliedern mit durchschnittlich höheren Einkommen, aber auch höherer Wahrscheinlichkeit eines Krankengeldfalls steigernd auf die Krankengeldausgaben aus. Diese Entwicklungen sind im Wesentlichen erwünscht und als exogene Faktoren auch nur sehr beschränkt gesundheitspolitisch beeinflussbar.«

Für den verbleibenden Rest haben die Sachverständigen 2015 einen „Reformvorschlag“ vorgelegt, der vorsah, »die Möglichkeit einer teilweisen Krankschreibung (sogenannte Teilarbeitsunfähigkeit) nach skandinavischem Vorbild einzuführen. Damit würde es erkrankten Erwerbstätigen ermöglicht, entsprechend ihrem Gesundheitszustand ihrer Arbeit in Teilen nachzugehen. Derzeit gilt in Deutschland eine „Alles-oder-Nichts-Regelung“. Der Empfehlung des Sachverständigenrats folgend könnte zukünftig der individuellen Situation und Leistungsfähigkeit erkrankter Erwerbstätiger flexibler entsprochen werden: Die Einstufung könnte auf 100 %, 75 %, 50 % oder 25 % Arbeitsunfähigkeit erfolgen und würde mit einer Verringerung der zu leistenden Arbeitszeit einhergehen. Nach Ablauf der Entgeltfortzahlung würde das Arbeitsentgelt entsprechend der Arbeitsunfähigkeit reduziert und durch ein Teilkrankengeld ergänzt.« Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Ein Viertel Krankschreibung könnte doch auch mal gehen. Experten haben sich Gedanken über das Krankengeld gemacht vom 7. Dezember 2015.

In dem Sondergutachten aus dem Jahr 2015 findet man auch ein eigenes Kapitel zum Thema „Krankengeldfallmanagement“ (S. 145 ff.). Dort wird der ambivalente Charakter höflich so formuliert: »Das Krankengeldfallmanagement befindet sich im stetigen Spannungsfeld zwischen dem Service-Image einerseits und dem Kostenmanagement andererseits: Auf der einen Seite kann ein serviceorientiertes Vorgehen während der Fallsteuerung zu einer verstärkten Mitwirkung der Versicherten führen. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Patienten kann einen besseren Behandlungserfolg sowie eine schnellere Reintegration ins Erwerbsleben bewirken. Die Krankenkassen können dabei durch ihre Marktkenntnis und Netzwerke bewährter Leistungsanbieter Informationsbarrieren abbauen und somit wichtige Mittler im Prozess der Optimierung weiterer Behandlungsmaßnahmen darstellen. Auf der anderen Seite kann das Krankengeldfallmanagement im ungünstigen Fall bei den Patientinnen und Patienten auch als Einmischung oder als bedrängende Aktivität seitens der Krankenkassen mit dem Hauptziel der Ausgabenvermeidung wahrgenommen werden. Da ohne Mitwirkung der Betroffenen die Ziele des Krankengeldfallmanagements aber kaum erreicht werden können, handeln Krankenkassen im besten eigenen Interesse, wenn dieser negative Eindruck gar nicht erst entsteht. Das Krankengeldfallmanagement sollte von den Betroffenen im Idealfall als Hilfestellung wahrgenommen werden und nicht als Bedrohung.« (S. 147 f.)

Genau das – die Wahrnehmung als Bedrohung – wurde aber immer wieder berichtet und ist auch heute offensichtlich noch ein Problem.

In dem Sondergutachten 2015 wurden der Politik Empfehlungen mit auf den Weg gegeben, die schon eine Schlagseite zuungunsten der Betroffenen und zugunsten des Krankenversicherungssystems haben, so beispielsweise diese beiden hier (S. 244):

➞ Empfehlung 3: Erweiterte Mitwirkungspflichten der Versicherten nach kassenseitiger Aufforderung, bei geminderter Erwerbsfähigkeit unmittelbar einen Rentenantrag zu stellen
Bisher besteht die Mitwirkungspflicht der Versicherten nur im Hinblick auf die Stellung eines Reha-Antrags (§ 51 SGB V): Wenn sie den Reha-Antrag nicht stellen, entfällt der Krankengeldanspruch. Gleichermaßen sollte der Krankengeldanspruch entfallen, wenn Versicherte, bei denen die Erwerbsfähigkeit deutlich gemindert ist176, der Aufforderung, eine Erwerbsminderungsrente zu beantragen, nicht nachkommen.
➞ Empfehlung 4: Erweiterte Mitwirkungspflichten der Versicherten nach kassenseitiger Aufforderung, einen Antrag auf Altersrente zu stellen
Analog zur Erwerbsminderungsrente sollte auch eine Aufforderung zur Beantragung der Altersrente erfolgen können, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind. Bei Nichtmitwirken seitens der Versicherten sollte auch hier der Krankengeldanspruch entfallen.

Das müsste doch eigentlich alles Geschichte sein – der Gesetzgeber hat auf die langjährige Kritik reagiert

Seit dem 19. Juli 2021 gibt es für die Krankenkassen engere Grenzen, wenn sie Daten zum Krankenstatus abfragen wollen. Da trat das „Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung“ in Kraft. Krankenkassen dürfen laut Gesetz nun Informationen ausschließlich per Brief oder E-Mail einholen. Nur wenn Versicherte einer telefonischen Kontaktaufnahme zuvor schriftlich zugestimmt haben, sind auch Telefonate erlaubt, berichtet Mirko Wenig in einem Artikel, dessen Überschrift aber auf etwas anderes hinweist: Krankenkassen üben weiterhin Druck auf Krankengeld-Empfänger aus. »Gesetzliche Krankenkassen versuchen nach wie vor, sensible Informationen von Patientinnen und Patienten zu sammeln, die Krankengeld beziehen. Dabei schrecken sie auch vor teils aggressiven Kontrollanrufen nicht zurück.« Und an den Ursachen hat sich nichts geändert: »Das Ziel der Krankenkassen: Geld sparen. Denn die Kassen müssen Langzeit-Erkrankten einen Teil des Einkommens als Krankengeld weiterzahlen, in der Regel ab der sechsten Woche. 70 Prozent des Bruttogehalts bis höchstens 90 Prozent des Nettoeinkommens muss der Versicherer dann übernehmen.« Und angesichts der mittlerweile erreichten Größenordnung der Ausgaben der Krankenkassen ist das auch nicht wirklich überraschend:

»16,612 Milliarden Euro gaben die gesetzlichen Versicherer 2021 für Krankengeld aus, so geht aus Daten des Bundesgesundheitsministeriums hervor. Es ist der viertteuerste Posten nach Krankenhaus-Behandlungen (85,128 Milliarden), Arzneimitteln (46,653 Milliarden) und ärztlichen Behandlungen (44,823 Milliarden). So besteht der Verdacht, dass die Krankenkassen die Betroffenen um das Krankengeld bringen wollen — mit juristischen Tricks und Feinheiten.«

Mirko wenig bezieht sich bei seinen Ausführungen auf diese Mitteilung der Verbraucherzentrale Hamburg, die das Vorgehen der Krankenkassen schon vor Jahren kritisiert hat: Krankenkassen üben weiter Druck beim Krankengeld aus. Verbraucherzentrale erreichen trotz neuem Gesetz noch immer viele Hinweise von Versicherten, so ist die Mitteilung vom 19. Juli 2022 überschrieben. Bei den Hamburger Patientenschützern gehen auch ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes noch viele Fragen und Beschwerden von Krankengeldbeziehern ein, die sich von ihrer Krankenkasse bedrängt fühlen. Insbesondere durch Telefonate, die der Gesetzgeber eigentlich verhindern wollte, wird gegenüber Betroffenen anscheinend weiterhin Druck aufgebaut.

Und wie „provoziert“ man eine telefonische Kontaktaufnahme, die eigentlich untersagt ist?

»Krankenkassen dürfen laut Gesetz nun Informationen ausschließlich per Brief oder E-Mail einholen. Nur wenn Versicherte einer telefonischen Kontaktaufnahme zuvor schriftlich zugestimmt haben, sind auch Telefonate erlaubt. „Nach unserer Wahrnehmung lassen die Kassen aber wenig unversucht, um Versicherte ans Telefon zu bekommen“ … So würden Schreiben versendet, die Nachfragen geradezu provozierten. Manchmal seien die Fragen in den Briefen unverständlich, manchmal werde explizit der Medizinische Dienst erwähnt, der immer dann eingeschaltet wird, wenn von Seiten der Krankenkasse Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit oder am Behandlungserfolg bestehen. „Wer einen solchen Brief von seiner Kasse erhält, wird nachvollziehbarerweise nervös und greift schnell zum Hörer. Schließlich ist man auf die Zahlung des Krankengeldes angewiesen“.«

Die Verbraucherzentrale verweist auf weitere Regelungen, die den Krankengeld-Bezieher seit der Gesetzesänderung besser schützen sollen. »Seither sind mit Zustimmung durchgeführte Telefonate beispielsweise für alle Beteiligten zu protokollieren, worauf die Kassen ihre Versicherten auch hinweisen müssen. Darüber hinaus dürfen gesetzliche Krankenkassen nur bereits rechtmäßig erhobene Informationen nutzen, wenn es darum geht, den Medizinischen Dienst zur Begutachtung der Arbeitsunfähigkeit einzuschalten.«