»An Beispielen für Altersdiskriminierung mangelt es nicht – auf dem Arbeitsmarkt und am Arbeitsplatz, im Versicherungsbereich und im Gesundheitssektor, im Produktdesign und vielen Dingen des Alltags. Das belegen zahlreiche und vielfältige Fälle, über die beispielsweise die Deutschen Seniorenliga oder die Antidiskriminierungsstelle des Bundes berichten. So ist es trotz Fachkräftemangel für Menschen ab 55, teilweise sogar schon ab 50, schwieriger als für Junge einen Job zu finden. Versicherungen erhöhen die Beiträge für Versicherte im Seniorenalter oder verweigern ihnen gar bestimmte Behandlungen. Banken gewähren älteren Menschen selten Kredite. Ganz zu schweigen von Behinderungen im Straßenverkehr und fehlendem barrierefreien Zugang zu öffentlichen Orten«, so das Deutsche Institut für Menschenrechte unter der Überschrift Alt und ausgegrenzt? Altersdiskriminierung entgegenwirken. In Deutschland verbietet das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) jeder Art von Altersdiskriminierung, aber nicht für alle Lebensbereiche. Schaut man in den § 1 AGG, dann taucht dort explizit die Kategorie „Alter“ auf: »Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.« Alter im Sinne des AGG ist das Lebensalter, nicht etwa die Dauer einer Beschäftigung.
Das hört sich eindeutiger an, als es dann in der Vielgestaltigkeit unseres Lebens ist. Das Verbot der Benachteiligungen wegen des Alters ist das Ergebnis einer neuen Rechtsentwicklung und insofern ist es auch nicht überraschend, dass das Verbot der Altersdiskriminierung auf viele bestehende gesetzliche, tarifliche und vertragliche Regelungen stößt, die Altersgrenzen enthalten oder Arbeitnehmer altersbedingt besser oder schlechter stellen. Das AGG enthält Ausnahmen vom Grundsatz des Verbots der Altersbenachteiligung, die man im § 10 AGG findet: „Zulässige unterschiedliche Behandlung wegen des Alters“, so ist der Paragraf überschrieben. Danach ist eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters zulässig, wenn sie objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Dazu gehören beispielsweise die Festlegungen von Mindest- wie auch von Höchstaltersgrenzen, wenn diese notwendig und erforderlich sind. Neben dem § 10 AGG ist ergänzend der § 8 AGG „Zulässige unterschiedliche Behandlung wegen beruflicher Anforderungen“ zu berücksichtigen. Dieser Paragraf besagt, dass eine Abweichung von den an sich verbotenen Diskriminierungsgründen dann zulässig ist, »wenn dieser Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt.«
Die der Juristerei zugeneigten Leser ahnen schon, dass es in der Praxis kompliziert werden kann, denn hier wird seitens des Gesetzgebers munter mit zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffen hantiert, die dann im Lichte der Einzelfälle durch die Rechtsprechung mit konkretem Leben gefüllt werden müssen. Und auch für die richterlichen Experten wird es schwierig, wenn dem durchaus hoch anzusetzenden Diskriminierungsverbot – beispielsweise wegen des Merkmals Alter – ein anderes ebenfalls hoch anzusetzendes Recht gegenübersteht, so dass man eine Abwägung treffen muss zwischen den beiden Rechtsgütern.
Und so eine durchaus harten Nuss ist auf den Schreibtischen der höchsten deutschen Arbeitsrichter gelandet – und im Bundesarbeitsgericht hat man offensichtlich lange und ohne abschließendes Ergebnis an der Nuss herumgefummelt, dass das Knacken an die nächste Instanz delegiert wird. Um was genau geht es? Dazu werfen wir einen Blick in diese Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 24.02.2022: Persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderungen – Diskriminierung wegen des Alters?, so ist die überschrieben.
Auf der Anklagebank sitzt ein Assistenzdienst. Dieser bietet Menschen mit Behinderungen Beratung, Unterstützung sowie Assistenzleistungen in verschiedenen Bereichen des Lebens (sog. Persönliche Assistenz) an.
➔ »Assistenzleistungen nach § 78 SGB IX werden für Menschen mit Behinderungen zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltags einschließlich der Tagesstrukturierung erbracht. Sie umfassen insbesondere Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen. Sie beinhalten die Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen. Assistenzleistungen, die oft von mehreren Personen in Schichten, teilweise rund um die Uhr, geleistet werden, können von einem Assistenz- oder Pflegedienst erbracht oder durch die leistungsberechtigte assistenznehmende Person – im sog. Arbeitgebermodell – selbst organisiert werden. Die Kosten werden in beiden Fällen vom zuständigen öffentlich-rechtlichen Leistungs-/Kostenträger getragen.«
Was soll der Assistenzdienst „verbrochen“ haben? Ausweislich eines im Juli 2018 von dem Aissistenzdienst veröffentlichten Stellenangebots suchte eine 28jährige Studentin „weibliche Assistentinnen“ in allen Lebensbereichen des Alltags, die „am besten zwischen 18 und 30 Jahre alt sein“ sollten.
Auf diese Stellenanzeige hat sich nun eine im Jahr 1968 geborene Frau – die Klägerin im vorliegenden Verfahren – beworben. Ohne Erfolg. Sie lag von ihrem Alter her mit damals 50 Jahren auch deutlich über der in der Stellenanzeige explizit genannten Altersspanne von „am besten zwischen 18 und 30 Jahre“.
Die ausdrücklich an Assistentinnen im Alter „zwischen 18 und 30“ Jahren gerichtete Stellenausschreibung des Assistenzdienstes begründe die Vermutung, dass die erfolglose Bewerberin bei der Stellenbesetzung wegen ihres – höheren – Alters nicht berücksichtigt und damit wegen ihres Alters diskriminiert worden sei. Vor dem Hintergrund dieser Sichtweise hat sie dann den Assistenzdienst verklagt wegen Altersdiskriminierung – der Assistenzdienst sei nach § 15 Abs. 2 AGG zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet. Die unterschiedliche Behandlung wegen des Alters sei bei Leistungen der Assistenz nach § 78 SGB IX unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt gerechtfertigt.
Das sieht der beklagte Assistenzdienst natürlich anders. Von ihm wird die Ansicht vertreten, die Ungleichbehandlung wegen des Alters sei nach dem AGG gerechtfertigt. Bei der Beurteilung einer etwaigen Rechtfertigung seien nicht nur die Bestimmungen des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK), sondern auch zu berücksichtigen, dass die eine persönliche Assistenz in Anspruch nehmenden Leistungsberechtigten nach § 8 Abs. 1 SGB IX ein Wunsch- und Wahlrecht auch im Hinblick auf das Alter der Assistenten/innen hätten. Nur so sei eine selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu erreichen.
Zuerst landete das vor dem Arbeitsgericht und mit ArbG Köln, 27.03.2019 – 20 Ca 7129/18 hat das Arbeitsgericht dann der Klage teilweise stattgegeben. Es hat den beklagten Assistenzdienst zur Zahlung einer Entschädigung an die Klägerin in Höhe eines potentiellen Bruttomonatsengelts von 1.770,00 Euro verurteilt. Mit welcher Begründung?
»Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, durch die Stellenausschreibung werde die Klägerin wegen ihres Alters ungerechtfertigt benachteiligt. Das Alter stelle keine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung für die Assistenz eines behinderten Menschen dar. Die Beklagte könne sich nicht auf das Selbstbestimmungsrecht des Behinderten berufen, denn deren Selbstbestimmungsrecht werde nicht berührt. Bei persönlichen Assistenzleistungen komme es in erster Linie auf die vom Alter unabhängige zwischenmenschliche Beziehung und Empathie an. Die Vorstellung ältere und jüngere Menschen könnten schlechter miteinander umgehen als Gleichaltrige mag ein gesellschaftliches Vorurteil sein, dieses abzubauen sei aber gerade das Ziel des AGG. Schließlich verfolge die Beklagte auch keine sozialpolitischen Ziele, die im Interesse der Allgemeinheit stünden, sondern nur die Umsetzung von Kundenwünschen.«
Diese Zusammenfassung des Urteils der ersten Instanz findet man in der Entscheidung der nächsthöheren Instanz, also dem hier zuständigen Landesarbeitsgericht: LAG Köln, Urteil vom 27.05.2020 – 11 Sa 284/19. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des beklagten Assistenzdienstes die Klage vollständig abgewiesen.
Seitens des Assistenzdienstes („Beklagte“) wurde vorgetragen, »der Formulierung der Stellenausschreibung sei zu entnehmen, dass die Einstellung nicht zwingend auf den genannten Altersbereich eingegrenzt gewesen sei. Die Beklagte habe Zweifel an der fachlichen Eignung der Klägerin gehabt … Die Assistenzstelle betreffe keine reine Pflegedienstleistung, sondern eine höchstpersönliche, allumfassende Alltagsbegleitung. Der behinderte Mensch solle sich auch auf der persönlichen Ebene möglichst gut fühlen, sein subjektives Empfinden sei zentrales Element des Vertrags mit der Beklagten. Die Teilhabe am sozialen Leben werde beeinträchtigt, wenn man sich ständig mit einer Person einer anderen Generation umgeben müsse. Gerade in dem jungen Alter der Studentin sei die Persönlichkeitsentwicklung stark betroffen und die Freiheit der Entwicklung stark eingeengt, wenn sie sich in vollkommener Abhängigkeit und Beobachtung einer Person einer anderen Generation begeben müsse, die altersbedingt die Bedürfnisse und Präferenzen des Hilfsbedürftigen nicht nachvollziehen könne und andere Wertvorstellungen habe. Es sei das unternehmerische Konzept der Beklagten, den hilfsbedürftigen Behinderten eine persönliche, individuell angepasste Assistenz in allen Lebenslagen an die Seite zu stellen. Die Klägerin verhalte sich rechtsmissbräuchlich. In Kenntnis der aus Sicht der Beklagten auch mangelnden fachlichen Eignung bewerbe sich die Klägerin weiterhin auf Stellenanzeigen im Vermittlungsportal der Beklagten, um sodann Entschädigungsforderungen wegen Altersdiskriminierung zu erheben und gerichtlich geltend zu machen.«
Das Landesarbeitsgericht kam zu dem Ergebnis, dass eine an sich nach dem AGG verbotene Altersdiskriminierung »aufgrund der beruflichen Anforderungen der Tätigkeit der persönlichen Assistenz nach § 8 Abs. 1 AGG gerechtfertigt« sei. »Die Stellenausschreibung knüpft an den individuellen Anforderungen einer 28jährigen Behinderten bezogen auf eine persönliche Assistenz in allen Lebensbereichen des Alltags an. Bei der Bewertung wird differenziert: »Rein subjektive Erwägungen, wie den Willen des Arbeitgebers, besondere Kundenwünsche zu erfüllen, genügen nicht. Es muss ein direkter, objektiv überprüfbarer Zusammenhang zwischen der vom Arbeitgeber aufgestellten beruflichen Anforderung und der fraglichen Tätigkeit bestehen.« Wie begründet das LAG seine Entscheidung, die Klage zurückzuweisen?
»Durch die Assistenzleistungen sollen Menschen mit Behinderungen in die Lage versetzt werden, ein möglichst an den eigenen Vorstellungen ausgerichtetes Leben in ihrem Wohnraum, in der Freizeitgestaltung und mit anderen Menschen führen zu können … Die Begrifflichkeit der Assistenz verdeutlicht den Aspekt des Selbstbestimmungsrechts des behinderten Menschen … Bei der Gestaltung der Leistungen sind die angemessenen Wünsche des behinderten Menschen zu berücksichtigen, wozu auch das Auswahlrecht hinsichtlich der Person des Assistenten gehört. Die persönliche Assistenz unterstützt den Menschen mit Behinderung dahin gehend, mit den gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in Gemeinschaft leben zu können. Sie fördert die Einbeziehung in die Gemeinschaft (Inklusion) und soll Isolation und Ausgrenzung behinderter Menschen verhindern. Zentrales Element der Selbstbestimmung ist die Freiheit, zu entscheiden, mit wem eine Person sich umgibt und sich austauschen will, insbesondere in ihrem eigenen, privaten und intimen Umfeld. Dies ist Ausfluss der Menschenwürde und des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 1, 2 Abs. 1 GG). Der behinderte Mensch kann das Anforderungsprofil für die Tätigkeit der persönlichen Assistenz entsprechend seiner individuellen persönlichen Bedürfnisse im Rahmen des Teilhabegedankens festlegen. Die umfassende persönliche Assistenz in allen Lebensbereichen ist keine rein dienende Tätigkeit, sondern lebt von der persönlichen Interaktion zwischen dem behinderten Menschen und dem persönlichen Assistenten. Da der Teilhabegedanken sämtliche Lebensbereiche erfasst, mithin auch den höchstpersönlichen Alltagsbereich, ist auch der schützenswerte Wunsch nach gemeinsamer Gestaltung der Freizeit oder des persönlichen Austauschs in allen Dingen des Lebens mit einer (etwa) gleichaltrigen Person eine angemessene Anforderung zur Realisierung des Ziels selbstbestimmter Teilhabe.«
»Die Anknüpfung an das Alter ist in diesem Kontext zugleich ein objektiv erforderliches Kriterium der Verwirklichung des Zwecks der persönlichen Assistenz, weil behindertenspezifische Defizite bei privaten Sozialkontakten mit in etwa gleichaltrigen Menschen mit ihren ausgrenzenden Begleiterscheinungen abgemildert werden können.« Die Interessen der lebensälteren Klägerin können und müssen hier zurückstehen, denn ihr stehen »jedoch andere Assistenzdienste, die keine gemeinsame Gestaltung der Freizeit oder keinen persönlichen Austausch in allen Dingen des Lebens umfassen, weiterhin offen.«
Interessanterweise sieht das Landesarbeitsgericht auch eine sozialpolitische Dimension:
»Die Beklagte verfolgt mit der Anstellung persönlicher Assistenten, deren Anforderungsprofil individuell von dem behinderten Menschen vorgegeben wird und deren Beschäftigung zur Erfüllung dieser Vorgaben erfolgt, auch sozialpolitische Ziele, die im Allgemeininteresse liegen. Die Realisierung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung liegt im Allgemeininteresse. Assistenzleistungen sind, wie sich an § 78 Abs. 1 SGB IX zeigt, ein vom Gesetzgeber anerkanntes Mittel zur Verwirklichung des sozialpolitischen Ziels. Das Instrument der persönlichen Assistenz ist – wie bereits ausgeführt – ein angemessenes und erforderliches Mittel zur Realisierung des Ziels, welches die Klägerin nicht übermäßig benachteiligt, da ihr die Beschäftigung in anderen Formen der Assistenz verbleibt.«
Damit war aber noch nicht Schichtende, die nächste Instanz musste sich mit dem Fall auseinandersetzen. Das Verfahren landete beim Bundesarbeitsgericht. Doch deren Richter wollen nicht einfach die Vorinstanz bestätigen oder deren Entscheidung verwerfen, sie sind sich nicht wirklich sicher. Offensichtlich ist das Problem, welche der Normen hier die anderen sticht. Da das AGG die Umsetzung europarechtlicher Vorgaben ist, wendet man sich nun also mit einer zu beantwortenden Fragestellung an die nächste und hier einschlägige Instanz: dem Europäischen Gerichtshof (EuGH):
»Da die Entscheidung des Rechtsstreits davon abhängt, ob die durch die Stellenausschreibung bewirkte unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters nach den Bestimmungen des AGG gerechtfertigt ist und sich im Hinblick auf die Auslegung dieser Bestimmungen in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG Fragen der Auslegung von Unionsrecht stellen, ersucht der Achte Senat des Bundesarbeitsgerichts den Gerichtshof der Europäischen Union, die folgende Frage zu beantworten:
Können Art. 4 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 und/oder Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2000/78/EG – im Licht der Vorgaben der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) sowie im Licht von Art. 19 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) – dahin ausgelegt werden, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters gerechtfertigt werden kann?«
Diese wirklich grundlegende Frage wird irgendwann vom EuGH zu beantworten sein:
➔ Ist das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen mit Behinderung, der eine Assistenz für die eigene Lebensbewältigung und -gestaltung benötigt, höher anzusetzen als das Verbot, wegen seines Alters diskriminiert zu werden?