Der Mindestlohn-Sprung auf 12 Euro und die bange Frage, ob sich die Erhöhung der gesetzlichen Lohnuntergrenze als Inflationstreiber erweisen wird

Der starke Anstieg der am Verbraucherpreisindex (VPI) gemessenen Inflationsrate in der zweiten Jahreshälfte 2021 bewegt verständlicherweise viele Menschen, vor allem mit niedrigen oder mittleren Einkommen. In den Medien wird heftig diskutiert, ob sich die Preissteigerungsrate auf einem hohen Niveau verfestigen wird und die Europäische Zentralbank nicht längst eine zinspolitische Wende hätte einleiten müssen.

Immer noch stehen sich auch bei den Volkswirten zwei Lager gegenüber, die zu sehr unterschiedlichen Vorhersagen hinsichtlich der Inflationsentwicklung im nunmehr begonnenen Jahr 2022 und dann 2023 kommen. Die eine Seite hebt die Sonderfaktoren hervor, die zu dem kräftigen Anstieg der Preissteigerungsrate in der zweiten Jahreshälfte 2021 geführt hat (wie die von Juli bis Dezember 2020 befristete Absenkung der Umsatzsteuer in Deutschland und die entsprechende Rückkehr zum höheren Ausgangsniveau im Januar 2021), die anderen verweisen darauf, dass ja auch in anderen Ländern ohne diese Maßnahme eine hohe Inflationsrate zu verzeichnen ist und dass die Preissprünge vor allem im Energiebereich preistreibend gewirkt haben und auch entsprechend weiter wirken werden.

Schauen wir beispielsweise auf die Perspektiven der deutschen Wirtschaft für die Jahre 2022 bis 2024, wie sie von der Deutschen Bundesbank im Dezember 2021 in ihren Monatsberichten vorgestellt wurden:

»Die deutsche Wirtschaft wird im Projektionszeitraum kräftig wachsen. Zunächst erleidet sie im Winterhalbjahr 2021/22 aber erneut einen Rückschlag. Ausschlaggebend sind verschärfte pandemiebedingte Schutzmaßnahmen. Außerdem halten Lieferengpässe bei Vorprodukten noch an. Ab dem Frühjahr 2022 nimmt die Wirtschaft aber wieder kräftig Fahrt auf. Weil pandemiebedingte Einschränkungen – so die Annahme – dann weitgehend entfallen, legt der private Konsum erheblich zu. Dabei spielt auch eine Rolle, dass ein Teil der während der Pandemie unfreiwillig gebildeten Ersparnisse zusätzlich ausgegeben werden dürfte. Zudem wird davon ausgegangen, dass sich die Lieferengpässe bis Ende 2022 auflösen. Vor allem die Exporte erhalten dann durch Auf- und Nachholeffekte vorübergehend einen starken Schub …Die Inflationsrate steigt gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) im laufenden Jahr kräftig auf etwa 3,25% an. Dies geht nicht nur auf Sondereffekte wie die ausgelaufene Umsatzsteuersatzsenkung oder die Einführung von CO2-Emissionszertifikaten zurück. Vielmehr verstärkte sich der Preisauftrieb auch deshalb, weil die Energiepreise auf den internationalen Märkten kräftig anzogen. Außerdem wurden Kostensteigerungen aufgrund der Liefer- und Transportengpässe auf die Verbraucherinnen und Verbraucher überwälzt und zusätzlich bei starker Nachfrage die Gewinnmargen ausgeweitet. Diese Faktoren und die jüngste Abwertung des Euro führen dazu, dass die Inflationsrate im Durchschnitt des kommenden Jahres sogar noch etwas weiter auf gut 3,5% steigt, obwohl die Sondereffekte weitgehend entfallen. Erst wenn auch diese zusätzlich preistreibenden Faktoren 2023 auslaufen, sinkt die Inflationsrate erheblich. Mit etwa 2,25% bleibt sie aber auch 2023 und 2024 auf vergleichsweise hohem Niveau. Maßgeblich dafür sind kräftig steigende Löhne und die gute Konjunkturlage, aber auch Kosten des Umbaus in Richtung einer klimaneutralen Wirtschaft.«

Auch in dieser Vorhersage taucht der Aspekt einer die Inflation antreibenden Wirkung durch „kräftig steigende Löhne“ auf, den man diese Tage in vielen Einschätzungen zu lesen bekommt. Unter dem Begriff der „Lohn-Preis-Spirale“ wird das oftmals aufgerufen (vgl. dazu als eine erste Auseinandersetzung vor dem Hintergrund der Besonderheiten der Lohnfindung in Deutschland bereits den Beitrag Von Tarif- und anderen Löhnen, einer Inflation, die das Land spaltet und dem Schlossgespenst der „Lohn-Preis-Spirale“ vom 13. Dezember 2021). Das wird auch diese Tage immer wieder thematisiert. Vgl. dazu als ein Beispiel den Beitrag Droht eine Lohn-Preis-Spirale? von Birgit Harprath: »Wenn die Gewerkschaften ein hohes Einkommensplus aushandeln, schlagen die Unternehmen die Mehrkosten auf ihre Preise. Als Antwort würden die Gewerkschaften dann mit noch höheren Forderungen auftreten.« Aber: »Diese Gefahr jedoch sieht niemand ernsthaft in diesem Jahr, auch das das Institut der deutschen Wirtschaft nicht. Experten verweisen auf die verantwortungsvolle Lohnpolitik der Gewerkschaften in der letzten Zeit. Die Gewerkschaften wiederum wissen, dass sie ein sehr hohes Einkommensplus erst einmal am Verhandlungstisch durchsetzen müssten. Der momentane Organisationsgrad stellt das aber in Frage und auch die Tarifbindung nimmt ab.«

Nun könnte der eine oder andere darauf hinweisen, dass das aber nicht gilt für die nunmehr fest in Aussicht gestellte (einmalige) Sonder-Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes, der zum 1. Januar 2022 von 9,60 auf nunmehr 9,82 Euro brutto pro Stunden den Empfehlungen der Mindestlohnkommission folgend regulär angehoben worden ist. Nach den bisherigen Festlegungen würde zum 1. Juli 2022 eine weitere Anhebung auf dann 10,45 Euro pro Stunden kommen. Nun aber hat die neue Ampel-Koalition aus SOD, Grünen und FDP beschlossen, dass zur Umsetzung einer der zentralen Wahlkampfforderungen der SPD der gesetzliche Mindestlohn in einem Zug auf 12 Euro angehoben werden soll. Der alte und neue Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat nun angekündigt, dass das zum 1. Oktober 2022 passieren soll und sogleich einen Referentenentwurf eines Gesetzes zur Erhöhung des Schutzes durch den gesetzlichen Mindestlohn (Mindestlohnerhöhungsgesetz – MiLoEG) aus seinem Ministerium vorgelegt. Der Entwurf regelt, dass der gesetzliche Mindestlohn zum 1. Oktober 2022 einmalig auf einen Bruttostundenlohn von 12 Euro erhöht wird. Und: Über künftige Anpassungen der Höhe des Mindestlohns (mit Wirkung ab 01.01.2024) entscheidet weiterhin die Mindestlohnkommission alle zwei Jahre.

Für eine erste kritische Einschätzung des Entwurfs vgl. beispielsweise den Beitrag von Sebastian Thieme: 12 Euro Mindestlohn schützen nicht vor Armut: »Die Vorschläge zur Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro zielen auf eine konservative Anpassung ab. Mit der einmaligen Erhöhung wird die Chance auf eine grundlegende Weiterentwicklung des Gesetzes verpasst.«

Andere Kritiker des Entwurfs lehnen den Ansatz aus ganz anderen Gründen ab. Für sie ist die Anhebung auf 12 Euro einerseits zu hoch. »Sicher: Von der Erhöhung profitieren 6,2 Millionen Geringverdiener. Doch der staatlich verordnete Lohnsprung … lässt … die Jobchancen von Ungelernten und Menschen mit Handicaps weiter schrumpfen.« So die bekannte Kritik aus den Reihen der Mindestlohn(anhebungs)gegner. Aber der Finger wird in dem Beitrag Diese Kommission braucht keiner von Bert Losse in der Online-Ausgabe der WirtschaftsWoche noch auf eine andere offene Wunde für diejenigen, denen eine strukturelle Begrenzung und Verlangsamung der Anstiege des Mindestlohnes wichtig ist, gelegt: die vorübergehende Stilllegung der Mindestlohnkommission, die eigentlich laut Gesetz „über die Anpassung der Höhe des Mindestlohns befindet“. Denn aufgrund der die Kommission betreffenden Regelungen im Mindestlohngesetz (§§ 4-12 MiLoG) und der entsprechenden Geschäftsordnung der Kommission konnte man bislang gesichert davon ausgehen, dass es zu keinen großen Anhebungen des Mindestlohnes kommen kann, denn die Spielräume für die Kommission die Anhebungsempfehlung betreffend sind von vornherein restriktiv ausgestaltet (§ 9 Abs. 2 MiLoG: „Die Mindestlohnkommission orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung“ – und das eben ausgehend vom Startpunkt mit den 8,50 Euro im Januar 2015). Losse sieht einen »Präzedenzfall: Die populäre Forderung nach einem steigenden Mindestlohn dürfte künftig in keinem Wahlkampf fehlen. Damit wird die Kommission zum Grüßaugust der Politik. Ein solches Gremium aber brauchen wir nicht.«

Auch bei Bert Losse taucht mit Blick auf das hier interessierende Thema Preissteigerungseffekte eine solche Sichtweise auf: Der »staatlich verordnete Lohnsprung … verschiebt mittelfristig das gesamte Tarifgefüge nach oben und treibt so die Inflation an.«

Auch die Arbeitgeber-Seite lässt nicht lange auf sich warten: »Andrea Belegante, Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbands der Systemgastronomie (BdS), kündigte an, dass viele gastronomische Unternehmen die höheren Löhne auf die Preise aufschlagen werden. „Es wird eine Lohn-Preis-Spirale in Gang gesetzt werden“, prophezeite sie«, kann man diesem Artikel entnehmen: 12 Euro ab Herbst: Mindestlohn-Pläne sorgen für Streit. Darin findet man aber auch diesen Hinweis, von einem der Mitglieder der Mindestlohnkommission, dem früheren Vorsitzenden des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (den „fünf Wirtschaftsweisen“), Lars Feld: »Mit Blick auf die Inflation könne es zwar zu einem Einmaleffekt kommen. Eine „größere Inflationsdynamik“ erwartet Feld mit der Anhebung aber nicht.«

Wie dem auch sei: Betrachtet man die Anhebung des Mindestlohns, wie sie nun auf den Weg gebracht wird, dann muss man auf den ersten Blick schon konstatieren, dass der Sprung ein ordentlicher ist, was sich dann auch an den prozentualen Veränderungen darstellen lässt. Zum 1. Januar 2022 ist der Mindestlohn um 2,3 Prozent im Rahmen der bekannten Vorgaben für die Kommission erhöht worden. Wenn man nun von einem Sprung auf 12 Euro ausgeht, dann wäre das gegenüber dem gerade angehobenen Mindestlohn von 9,82 Euro ein Anstieg um mehr als 22 Prozent – und selbst wenn man davon ausgeht, dass die 12 Euro wie beabsichtigt zum 1. Oktober 2022 kommen und zum 1. Juli dieses Jahres ja noch eine reguläre Anhebung auf 10,45 stattfinden soll, dann wären es immer noch 15 Prozent mehr mit den 12 Euro pro Stunde. Natürlich muss man zum einen berücksichtigen, dass das dahingehend zu relativieren ist, dass die steigenden Personalkosten ja nur einen Teil der Gesamtkosten der Unternehmen ausmachen, was die Wucht der 22 Prozent abfedern kann und wird. Auf der anderen Seite gibt es natürlich Betriebe, bei denen wir einen hohen Personalkostenanteil haben und die zugleich oftmals in Branchen unterwegs sind, in denen niedrige Preise vorherrschen und das oft in Verbindung mit einem harten Wettbewerb, der auch dazu beiträgt, dass die gestiegenen Kosten nicht oder nur partiell auf die Kunden überwälzt werden können.

Also doch stark steigende Preise durch die Mindestlohnanhebungsentscheidung der neuen Bundesregierung?

Nun haben Wissenschaftler aus dem gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung gerechnet – und sie sind zum einen eher beruhigenden Ergebnis gekommen, was die möglichen Auswirkungen auf die Inflation angeht:

➔ Sebastian Dullien et al. (2022): Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro beeinflusst Inflation kaum. Makroökonomische Simulationsstudie mit dem NiGEM-Modell. IMK Policy Brief Nr. 116, Düsseldorf: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Januar 2022

Unter der Überschrift Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro sorgt nur überschaubaren Preisauftrieb kann am eine Zusammenfassung der Studie finden:

»Es ist allenfalls mit geringen Auswirkungen auf die Verbraucherpreise zu rechnen. Durch die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro dürfte die Teuerung zur Jahresmitte 2023 kurzfristig um etwa 0,25 Prozentpunkte höher liegen als es ohne die Mindestlohnerhöhung der Fall wäre. Der Effekt auf die Inflation würde schnell wieder abflauen, nach zwei Jahren läge sie genauso hoch wie ohne Mindestlohnanhebung. Zum Vergleich: Die zeitweilige Absenkung der Mehrwertsteuer hat die Inflation 2020 um gut einen Prozentpunkt gesenkt und nach der Wiederanhebung auf das alte Niveau 2021 ebenfalls um gut einen Prozentpunkt erhöht. Dieser Sondereffekt, der Anfang 2022 ausgelaufen ist, war also rund viermal so groß wie die maximalen Auswirkungen der Mindestlohnanhebung.«

Wie kommen die zu diesem Befund?

»Aus theoretischer Sicht könnte ein höherer Mindestlohn in mehrfacher Hinsicht das Preisniveau beeinflussen, schreiben die Ökonomen. Zum einen sei davon auszugehen, dass das Einkommensplus bei den Mindestlohnbeschäftigten die Konsumnachfrage ankurbelt. Zum anderen könnten Betriebe gestiegene Lohnkosten für Preiserhöhungen zum Anlass nehmen. Langfristig müssten auch Auswirkungen auf die Produktivität und das Arbeitsangebot in Rechnung gestellt werden, die wiederum inflationsdämpfend wirken.«

Was hat man vor diesem Hintergrund getan?

»Um die Effekte abzuschätzen, haben die Forscher Simulationsrechnungen mit dem international etablierten NiGEM-Modell durchgeführt, das von verschiedenen Zentralbanken und internationalen Organisationen genutzt wird. Als Zeitpunkt der Mindestlohnanhebung auf 12 Euro haben sie den 1. Oktober 2022 unterstellt. Um die Größenordnung des Lohnimpulses durch diese Anhebung beziffern und in das Modell einspeisen zu können, wurden die neuesten verfügbaren Lohndaten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) aus dem Jahr 2019 bis zum vierten Quartal 2022 auf Basis der vergangenen Entwicklung fortgeschrieben. Auch die ausstehende Erhöhung des Mindestlohns auf 10,45 Euro zum 1. Juli wurde berücksichtigt.«

Was ist rausgekommen?

»Aus den Berechnungen ergibt sich ein gesamtwirtschaftliches Lohnplus von 0,6 Prozent durch die Erhöhung des Mindestlohns von 10,45 Euro auf 12 Euro. Die kurzfristigen Beschäftigungs- und Wachstumseffekte „sind gering und fallen in der Gesamtbetrachtung der Maßnahme kaum ins Gewicht“, stellen die Wissenschaftler fest. „Auch unter Berücksichtigung der Unsicherheit, die mit der Bestimmung des gesamtwirtschaftlichen Lohnimpulses aus Umfragedaten verbunden ist, ist nur mit einem geringen Preisschub und einer vorübergehend etwas höheren Inflationsrate in Deutschland zu rechnen“, so die Ökonomen. Zudem dürften sich die positiven Produktivitätseffekte als Folge der Mindestlohnerhöhung, die nicht in die Simulation eingeflossen sind, mittel- und langfristig dämpfend auf das Preisniveau auswirken.«

Zur Einordnung des moderaten kurzfristigen Effekts von 0,25 Prozentpunkten bei der Inflation verweisen Dullien et al. nicht nur auf die Auswirkungen der vorübergehenden Mehrwertsteuersenkung. Die Einführung der CO2-Bepreisung für Haushalte und Gewerbe, Handel und Dienstleistungen Anfang 2021 habe die Teuerung um etwa 0,3 Prozentpunkte erhöht.

Und was, wenn man berücksichtigt, dass es zusätzlich bei denen, die heute schon knapp über den 12 Euro pro Stunde Lohnangleichungen nach oben geben wird?

»Auch so genannte „Spillover-Effekte“, also ein Lohnanstieg im Zuge der Mindestlohnerhöhung bei jenen, die derzeit schon knapp über 12 Euro verdienen, würden laut IMK und WSI wenig an dem Ergebnis ändern: Wenn man annimmt, dass diese Effekte noch einmal halb so groß ausfallen wie die direkten Effekte, ergibt sich eine um 0,3 bis 0,4 Prozentpunkte erhöhte Inflation.«

Fazit: „Die Angst vor einer durch die Mindestlohnanhebung ausgelösten Lohn-Preis-Spirale und damit einem Befeuern der aktuell durch Sondereffekte temporär stärkeren Preisentwicklung erscheint unbegründet.“