Man sollte bekanntlich immer vorsichtig sein, wenn Meldungen mit drastischen Überschriften daherkommen – nicht selten steckt dahinter die Absicht, nach den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie den Finger aus dem Ozean der unzählbaren Nachrichten heben zu können, vor allem, wenn es sich um eine schlechte Nachricht handelt, die da platziert wird. Insofern könnte so ein Beitrag in dieser Kategorie eingeordnet werden: „Wir steuern auf eine Katastrophe zu“: Berlins Kinderkliniken sind überlastet – Erkrankte werden nach Brandenburg verlegt: »Wegen des Pflegemangels gibt es zu wenig Betten auf Berlins Kinderstationen – auch für junge Intensivpatienten. Kinder- und Jugendärzte warnen vor einem katastrophalen Herbst.« „Katastrophe“, kranke Kinder – das „zieht“. Aber leider wird hier über ein – bereits seit längerem – real existierendes Problem berichtet, das man nicht (mehr) wegdiskutieren kann.
»Wegen Atemwegsinfekten, kranken Neugeborenen, Unfällen und diversen anderen Erkrankungen sind die Kinderkliniken in Berlin sowie die Kinderintensivstationen schon seit Wochen an ihre Belastungsgrenze gestoßen«, so der Verband der Leitenden Kinder- und Jugendärzte sowie Kinderchirurgen (VLKKD) in einer schriftlichen Stellungnahme.
Derzeit müssen für den Herbstbeginn ungewöhnlich viele Kinder in Krankenhäusern behandelt werden – aber um das hier gleich hervorzuheben: Covid-19 spielt bei den Erkrankungen der Kinder so gut wie keine Rolle. Die meisten Kinder würden derzeit wegen RSV (Respiratorische Syncytial-Virus) behandelt werden. »Eine Erkältungskrankheit, die normalerweise besonders in den Wintermonaten auftritt, doch dieses Jahr vermehrt im Sommer. Ärzte gehen von einem sogenannten Rebound-Effekt aus: Kinder, die durch die ausbleibenden Kontakte im Winter kaum Infektionen durchgemacht haben, holen diese sozusagen verspätet nach, da ihr Immunsystem im Winter nicht ausreichend trainiert wurde. Hinzu kämen diverse andere übliche Krankheiten und Unfälle.«
»Ursache der Überlastung ist … der akute Pflegemangel. Dieser führt dazu, dass auf den Kinderstationen vermehrt Betten gesperrt werden müssen, da sonst keine ausreichende Versorgung garantiert werden kann.«
In dem Artikel wird Beatrix Schmidt zitiert, sie ist Chefärztin der Kinder- und Jugendmedizin im St. Joseph-Krankenhaus in Tempelhof-Schöneberg: „Momentan ist die Situation so akut, dass wir regelmäßig Kinder oder Jugendliche in Krankenhäuser in Brandenburg bringen müssen“. Alleine in ihrer Klinik sind momentan wegen des Pflegemangels 28 von 50 Betten auf der Kinderstation gesperrt. Und das hat auch nichts mit dem aktuellen Streik zu tun, der nur in den landeseigenen Kliniken stattfindet.
In vielen Berliner Kliniken müssten Kinder in fachfremden Abteilungen untergebracht werden, Jugendliche auf Erwachsenen-Intensivstationen oder Mädchen in der Gynäkologie.
Über diese bedenklichen Entwicklungen wurde bereits Anfang September berichtet: Berliner Kinderklinken: Betten in Pädiatrie müssen gesperrt werden: »Wegen des Pflegenotstands können Kinder und Jugendliche zunehmend nicht mehr stationär aufgenommen und behandelt werden, warnen Kinderärzte in einer Mitteilung.«
Was aber wird gefordert? Der Verband Leitender Kinderärzte und Kinderchirurgen fordert, »die Verordnung zu den Pflegepersonaluntergrenzen (PpUGV) außer Kraft zu setzten, sobald die Versorgung der Kinder- und Jugendlichen wegen Bettenmangels nicht mehr gesichert ist. Die PpUGV regelt, wie viele Patienten von einer Pflegekraft versorgt werden dürfen.«
Betten pflegen nicht
Da sind sie wieder, die Pflegepersonaluntergrenzen. Über diesen Notnagel wurde hier mehrfach bereits berichtet, so beispielsweise am 14. September 2019, also vor zwei Jahren, unter der Überschrift Wenn eine als untere Schutzgrenze konzipierte Personalvorgabe zur problematischen und in der Praxis von zahlreichen Kliniken nicht erreichbaren Obergrenze mutiert: Anmerkungen zu den Pflegepersonaluntergrenzen. Es ging und geht um Untergrenzen das Pflegepersonal in bestimmten, ausgewählten „pflegesensitiven“ Bereichen der Kliniken betreffend. Die ersten davon gibt es seit Januar 2019 und bereits die haben für ziemlichen Ärger und handfeste Auswirkungen auf das Versorgungsgeschehen gesorgt.
➔ Exkurs: Zur Geschichte und Grundproblematik der Pflegepersonaluntergrenzen: Der ehemalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) hatte am 1.10.2015 in Berlin die Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“ einberufen. Am 7. März 2017 wurde dann seitens des Ministeriums darüber informiert: Stärkung der Pflege im Krankenhaus. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe, Koalitionsfraktionen und Länder verständigen sich auf die Einführung von Personaluntergrenzen: »In Krankenhausbereichen, in denen dies aus Gründen der Patientensicherheit besonders notwendig ist, sollen künftig Pflegepersonaluntergrenzen festgelegt werden, die nicht unterschritten werden dürfen« – wie beispielsweise auf Intensivstationen oder im Nachtdienst. Die Vorschläge der Expertenkommission (vgl. dazu im Original: Schlussfolgerungen aus den Beratungen der Expertinnen- und Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“ vom 7. März 2017) wurden im April 2017 von der Bundesregierung in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV) unter Beteiligung der Privaten Krankenversicherung (PKV) wurden damit beauftragt, Personaluntergrenzen in sogenannten pflegesensitiven Bereichen verbindlich festzulegen. Man muss sich das unauflösbare Dilemma an dieser Stelle verdeutlichen: Der Gesetzgeber beauftragt ausschließlich die Kostenträger (= Krankenversicherungen) sowie die Leistungserbringer (= Krankenhäuser) mit der Ausarbeitung von Personaluntergrenzen in der Pflege. Man muss keine längeren Überlegungen anstellen, dass es hier eine Menge Interessenkonflikte geben muss, denn die Kostenträger haben vor Augen, dass sie eventuelle Mehrkosten finanzieren müssen und die Krankenhausträger stehen vor dem Problem, dass solche Untergrenzen bei Nicht-Einhaltung dazu führen können bzw. werden, dass sie beispielsweise mit Belegungs- und Aufnahmestopps und den damit verbundenen Einnahmeverlusten konfrontiert sein könnten. Wer von den beiden soll ein Interesse daran haben, kosten- bzw. erlösrelevante Verbesserungen bei der Personalausstattung auf die Gleise zu setzen?
Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was passiert ist: „Kostenträger“ und „Leistungserbringer“ konnten sich nicht verständigen und das Bundesgesundheitsministerium (BMG) hat dann mit einer „Ersatzvornahme“ die ersten Pflegepersonaluntergrenzen in Kraft gesetzt. Denn für den Fall, dass diese Vereinbarung nicht zustande kommt, war vorgesehen, dass das BMG per Rechtsverordnung Pflegepersonaluntergrenzen mit Wirkung zum 1. Januar 2019 festsetzt (Ersatzvornahme). Genau das ist dann auch passiert. Und auch in der zweiten Runde einer Erweiterung der Pflegepersonaluntergrenzen musste das Ministerium zu dieser Notverordnung greifen – und wie wir sehen werden, im Jahr 2021 muss erneut zu diesem Hammer gegriffen werden.
Eine Grundproblematik des ganzen Ansatzes kann man so beschreiben:
➞ Zum einen der grundsätzliche Charakter von Personaluntergrenzen, das hier eben nur das Mindeste normiert werden soll, gleichsam die Vermeidung einer Patientengefährdung, nicht aber eine bedarfsgerechte Versorgung. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) hat dementsprechend darauf hingewiesen, es bestehe nur eine gesetzlichen Vorgabe zur Einführung von Personaluntergrenzen zur Vermeidung von Gefährdungssituationen, nicht aber zur Abbildung einer bedarfsgerechten Pflege. Damit verbunden wird das leider nicht unrealistische Szenario, dass die Untergrenze in der Praxis des Krankenhausalltags aufgrund der generellen Personalkostenproblematik ob bewusst oder schleichend aufgrund der Konkurrenzsituation zu einer Art Referenzgrenze mutiert, man sich also von oben planerisch an der damit verbundenen Mindest- als Normalausstattung orientiert. Dazu gibt es durchaus Analogien aus anderen Bereichen, man denke hier nur an einen vergleichbaren Effekt in manchen Branchen nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns als Lohnuntergrenze, die dort mittlerweile als Bezugspunkt für die Vergütung genommen wird
➞ Zum anderen die betriebswirtschaftliche Dimension der Operationalisierung der Grenze – konkret: Abteilungen oder Stationen (oder was eigentlich logisch wäre, aber derzeit offensichtlich gar nicht vorgesehen ist: einzelne Patienten mit ihrer Fallschwere). Und man muss an dieser Stelle mit Blick auf die Umsetzungspraxis auch etwas problematisieren, das wir beispielsweise aus den Erfahrungen mit dem gesetzlichen Mindestlohn, einer anderen Untergrenze, die nicht unterschritten werden darf, zur Genüge kennen: Umgehungsstrategien im betrieblichen Alltag.
Man kann an den genannten Punkten erkennen, dass es sich bei den Personaluntergrenzen um eine – nett formuliert – ambivalente, skeptisch gesehen um eine höchst gefährliche Angelegenheit handelt.
(Quelle: Stefan Sell: Wenn das aus der Systemlogik definierte Unterste am Ende zum Obersten wird, sollte man sich nicht wundern. Zur Ambivalenz der geplanten Personaluntergrenzen in der Krankenhauspflege, 03.06.20218)
Eine (kurze) Geschichte der „Ersatzvornahmen“ seitens des Bundesgesundheitsministeriums aufgrund der Arbeitsverweigerung der Kostenträger und Leistungserbringer
Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) hatte per Rechtsverordnung Pflegepersonaluntergrenzen mit Wirkung zum 1. Januar 2019 festgesetzt (Ersatzvornahme), da sich die Krankenkassen und die Krankenhausvertreter nicht auf gemeinsame Pflegepersonaluntergrenzen verständigen konnten. Mit Beginn des Jahres 2019 gab es in vier pflegesensitiven Bereichen Personaluntergrenzen: Intensivstationen, Unfallchirurgie, Kardiologie und Geriatrie. Damals wurde beispielsweise für die Intensivmedizin ein Patienten-Pflegekräfteschlüssel von 2,5 zu 1 festgelegt, der ab 2021 auf 2 zu 1 verbessert wurde.
Mit Beginn des Jahres 2020 wurden dann wieder durch eine Ersatzvornahme des Ministeriums weitere Bereiche von Pflegepersonaluntergrenzen erfasst: Herzchirurgie, Neurologie sowie die neurologische Schlagfalleinheit und die neurologische Rehabilitation.
Zum 1. März 2020 wurden die Pflegepersonaluntergrenzen aufgrund der Corona-Pandemie befristet ausgesetzt. Die Regelungen der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV) für die Bereiche Intensivmedizin und Geriatrie wurden daher ab dem 1. August 2020 wieder in Kraft gesetzt. Für die anderen pflegesensitiven Bereiche blieb es bei der Aussetzung bis einschließlich 31. Januar 2021.
Ebenfalls über eine Ersatzvornahme des BMG wurden für das Jahr 2021 die mit Personaluntergrenzen verknüpften Bereiche erweitert um die Allgemeine Chirurgie, die Innere Medizin sowie die Pädiatrie. Alle Pflegepersonaluntergrenzen gelten ab dem 1. Februar 2021.
Und nun geht es weiter – erneut hat das Ministerium eine „Ersatzvornahme“ in Aussicht gestellt hinsichtlich der angestrebten Ausweitung der Pflegepersonaluntergrenzen – und bei dieser Erweiterung spielt die Kindermedizin, deren versorgungskritische Lage am Anfang des Beitrags am Beispiel Berlins beschrieben wurde, auch eine Rolle.
»Das Bundesgesundheitsministerium will für vier weitere Bereiche neue Pflegepersonaluntergrenzen festlegen: Nachdem sich die Selbstverwaltung aus Krankenkassen und Krankenhäusern nicht auf gemeinsame Untergrenzen einigen konnte, bringt das Ministerium nun eine Regelung per Ersatzvornahme auf den Weg«, berichtet das Deutsche Ärzteblatt unter der Überschrift Ministerium will weitere Untergrenzen für Pflegepersonal festlegen. Danach würden dann ab dem 1. Januar 2022 erstmalig Untergrenzen in der Orthopädie und der Gynäkologie gelten. Ebenso soll es eine fachspezifische Ausdifferenzierung in der Pädiatrie geben: So gelten neue Vorgaben für die allgemeine Pädiatrie, die spezielle Pädiatrie und neonatologische Pädiatrie.
Auf der Basis der bislang verfügbaren Informationen hierzu zeigt die Zusammenstellung in der folgenden Tabelle, was hinzu kommen soll:
Man schaue sich hier nur einmal an, was da für die Neonatologie geplant ist an Pflegepersonalvorgaben. Hier geht es um kranke Neugeborene und Frühgeborene. Eine hoch-komplexe und besonders sensible Aufgabenstellung. Und dann eine Untergrenze von 5 dieser kleinsten Patienten auf eine Pflegekraft? Was soll das sein?
»Die Untergrenzen seien rote Linien, unterhalb derer das Patientenwohl in Gefahr sei,« so wurde das Bundesgesundheitsministerium bereits im Jahr 2019 zitiert. Das sollte man sich immer vor Augen führen, wenn auch jetzt erneut und strittig über die Pflegepersonaluntergrenzen diskutiert wird. Pflegepersonaluntergrenzen sind lediglich die absolute Mindestgrenze, um Patientengefährdung zu vermeiden.
»Die wirklich erschreckende Botschaft aus der aktuellen Diskussion über die Pflegepersonaluntergrenzen lautet: Wir leben in einem gefährlichen Mangelland. Und der Mangel spitzt sich allerorten zu. Gleichzeitig sind wir auf einer schiefen Ebene der Reduktion des Erforderlichen auf das absolut Mindeste – und auch das soll noch differenziert, also „flexibel“ ausgelegt werden können. Was als unterste Schutzgrenze gedacht war, entpuppt sich für einen nicht kleinen Teil der Kliniken als eine nicht-realisierbare Herausforderung. Es ist keine Entschuldigung – aber wir ernten jetzt an vielen Stellen die Folgen jahrelanger Einsparungen und Kürzungen und Arbeitsverdichtungen und sonstiger betriebswirtschaftlich motivierter „Optimierungen“. Die wurden soweit getrieben, dass … Untergrenzen als nicht erreichbare Obergrenzen erscheinen.« So das Fazit in dem Beitrag Wenn eine als untere Schutzgrenze konzipierte Personalvorgabe zur problematischen und in der Praxis von zahlreichen Kliniken nicht erreichbaren Obergrenze mutiert: Anmerkungen zu den Pflegepersonaluntergrenzen, der hier am 14. September 2019 veröffentlicht wurde.
Man muss auch in diesen Tagen an den grundsätzlichen Charakter von Personaluntergrenzen erinnern und es beständig wiederholen: Mit solchen Werten wird eben nur das Mindeste normiert, gleichsam die Vermeidung einer Patientengefährdung, nicht aber eine bedarfsgerechte Versorgung.
Vor diesem Hintergrund sollte deutlich geworden sein, wie frag- und kritikwürdig der Vorschlag aus dem Verband der Leitenden Kinderärzte und Kinderchirurgen ist, als Sofortmaßnahme angesichts der gravierenden Versorgungsprobleme in Berlin die sowieso schon mehr als diskussionsbedürftigen Pflegepersonaluntergrenzen auch noch auszusetzen, um „irgendwie“ eine Versorgung zu ermöglichen. Not kennt eben keine Grenzen.
Offensichtlich werden Untergrenzen, die als unterste Haltelinie gegen eine eine ansonsten erwartbare Gefährdung des Patientenwohls definiert werden, nicht nur als „unrealistisch hohe“ Vorgaben wahrgenommen, sondern sie entpuppen sich in der Versorgungsrealität sogar als Obergrenzen, die von mehr als einem Drittel der Kliniken zumindest temporär schlichtweg nicht eingehalten werden können, so dass man sich in der wirklichen Wirklichkeit in der Welt der nicht-vertretbaren Sub-Untergrenzen befindet. Hier wird über das Unterste gestritten, das aber offensichtlich noch eine Kelleretage kennt.