Von einem Kellner mit Leistungskürzung, weil er eine kostenlose Mahlzeit bei der Arbeit hätte essen können, zu den „Aufstockern“ im Hartz IV-System allgemein

Aus dem ganz eigenen Hartz IV-Universum, in dem sich Millionen Menschen bewegen müssen, kommen tonnenweise Urteile der Sozialgerichtsbarkeit. Entscheidungen wie diese: »Einem als Hartz-IV-Aufstocker staatlich unterstützten Berliner Kellner darf die Unterstützung gekürzt werden, weil ihn sein Arbeitgeber an jedem Arbeitstag mit Essen versorgt.« Das hat das Bundessozialgericht in Kassel entschieden und wies damit die Revision gegen eine entsprechende Entscheidung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg zurück. »Demnach stellt das im Arbeitsvertrag zugesicherte Essen des Kellners ein Einkommen dar. Dieses dürfe folglich bei der Berechnung der Hartz-IV-Leistungen mit berücksichtigt werden. Der sogenannte geldwerte Vorteil liegt demnach auch dann vor, wenn der Hartz-IV-Bezieher das bereitgestellte Essen gar nicht in Anspruch nimmt.« In dem Artikel Kostenlose Mahlzeit bei der Arbeit darf von Hartz IV abgezogen werden, in dem über diese Entscheidung berichtet wird, findet man zu dem Sachverhalt:

»Im konkreten Fall ging es um eine Berliner Familie mit drei Kindern. Der Mann arbeitete als Kellner, konnte aber mit seinem Einkommen nicht den Lebensunterhalt decken. Das Jobcenter gewährte der Familie daher aufstockendes Arbeitslosengeld II. Laut Arbeitsvertrag stand dem Mann neben seiner regulären Vergütung auch an jedem Werktag eine Mahlzeit an der Arbeit zu. Der Arbeitgeber rechnete dies in Höhe von 3,17 Euro pro Arbeitstag als „Sachbezug“ ab. Das Jobcenter sah in der bereitgestellten Verpflegung ein auf das Arbeitslosengeld II mindernd anzurechnendes Einkommen. Es handele sich um „Einnahmen in Geldeswert“. Entsprechend der Arbeitslosengeld-II-Verordnung berücksichtigte die Behörde die Verpflegung als Einkommen in Höhe von monatlich 30,18 Euro. Ohne Erfolg verwies die Familie darauf, dass der Mann die Verpflegung gar nicht in Anspruch nehme.« Auch andere Artikel haben das Thema aufgegriffen: Kellner darf kostenloses Essen von Hartz-IV-Unterstützung abgezogen werden oder dieser Beitrag: Staat darf kostenloses Essen für Arbeitnehmer mit Hartz IV verrechnen. Daraus dieser Hinweis zum Sachverhalt: »Laut dieses Urteils hatte der 1962 geborene Kläger von 2008 bis 2018 in Berlin in Vollzeit als angestellter Kellner im Schichtdienst gearbeitet. Jeden Tag stellte ihm der Arbeitgeber demnach kostenfrei Getränke und Verpflegung zur Verfügung. Zugleich bezog der Mann zusammen mit seiner Frau und den drei Kindern staatliche Unterstützung nach Sozialgesetzbuch II … (2017) zog der Mann vor das Berliner Sozialgericht … Er nehme die kostenlose Verpflegung gar nicht in Anspruch, sondern esse lieber mit seiner Familie. Seine Tochter sei behindert, er wolle so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen, zitiert das Urteil den Kläger: „Ein tatsächlicher Zufluss des Sachbezugs sei mithin nicht gegeben.“ Die Klage blieb sowohl vor dem Sozialgericht als auch in der nächsthöheren Instanz ohne Erfolg.« Und landete nun schlussendlich vor dem Bundessozialgericht.

In den Worten des Bundessozialgerichts selbst wird die Entscheidung so begründet: »Es besteht kein Anspruch auf höhere Grundsicherungsleistungen«, denn das beklagte Jobcenter habe die vom Arbeitgeber des Klägers als Sachbezug abgerechnete Verpflegung als Einkommen berücksichtigt. Dieser Sachbezug stellt eine als Einkommen zu berücksichtigende Einnahme in Geldeswert nach § 11 Abs 1 Satz 2 SGB II dar, weil sie im Rahmen einer Erwerbstätigkeit erbracht wird.« Und dann der Schlüsselsatz: Ein Zufluss von (zu berücksichtigenden) Einkommen liege bereits vor, »wenn der Arbeitgeber den Sachbezug – wie hier – vereinbarungsgemäß bereit stellt, und hängt nicht davon ab, ob die Möglichkeit einer Inanspruchnahme auch tatsächlich realisiert wird.«

Unabhängig von der konkreten Entscheidung des BSG wird bei dem einen oder anderen aus der Schilderung des Sachverhalts hängen geblieben sein, dass es sich um einen Hartz IV-„Aufstocker“ handelt, der „von 2008 bis 2018 in Berlin in Vollzeit als angestellter Kellner im Schichtdienst gearbeitet“ und der offensichtlich so wenig verdient hat, dass er (bzw. korrekter: die Bedarfsgemeinschaft mit Frau und drei Kindern) vom Jobcenter noch aufstockende Leistungen beziehen musste.

Die „Aufstocker“ und der Vorwurf einer Subventionierung des Niedriglohnsektors

Da ist sie dann, die in regelmäßigen Abständen in den Medien immer wieder mal aufgegriffene Debatte über die „Subventionierung des Niedriglohnsektors“ durch (aufstockende) Hartz IV-Leistungen. Nur ein Beispiel aus dem Juli des vergangenen Jahres: Linke kritisiert hohen Anteil von Aufstockern in bestimmten Branchen: »Reinigungskräfte und Lebensmittelverkäufer müssen trotz Job besonders oft auf staatliche Hilfen zurückgreifen. Die Linke fordert bessere Bezahlung.« Sabine Zimmermann von der Linksfraktion im Bundestag wird mit diesen Worten zitiert: „Insgesamt sei es nicht hinnehmbar, dass rund eine Million Menschen in Deutschland ihr niedriges Einkommen mit Hartz IV aufstocken müssten.“

Ob nun bewusst oder eher unbewusst – bei vielen Menschen werden solche Aussagen die Assoziation hervorrufen, dass Menschen mit einem Vollzeit-Job so skandalös wenig verdienen, dass sie sogar noch auf ergänzende Sozialhilfe-Leistungen des Staates angewiesen sind und damit der Staat letztendlich die Funktionalität des Niedriglohn-Segments in unserem Land über Steuermittel gewährleistet.

Das Thema wurde auch hier immer wieder mal aufgegriffen, so in diesem Beitrag vom 14. November 2019: Die „Aufstocker“ im Hartz IV-System: 10 Milliarden Euro im Jahr 2018 für die „Subventionierung von Lohndumping“? Eine Spurensuche in den offiziellen Daten. Darin findet man diese Hinweise (damals bezogen auf das Jahr 2018): »2018 gab es insgesamt 3,1 Mio. Bedarfsgemeinschaften mit einem Zahlungsanspruch von 35,84 Mrd. Euro. Und davon entfielen 10,51 Mrd. Euro auf 1,01 Mio. Bedarfsgemeinschaften mit mindestens einem erwerbstätigen „ELB“, so werden die „erwerbsfähigen Leistungsberechtigten“ im Jobcenter-Jargon offiziell genannt. Die also irgendeiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sind und daraus auch Erwerbseinkommen bezogen haben.« Und die genannten 10,51 Milliarden Euro wurden dann von als Volumen der steuerfinanzierten „Subventionierung“ des Niedriglohnsektors in der politischen Debatte verwendet.

Auch wenn die Aufstockerei auf tatsächliche Probleme im Niedriglohnsektor verweist (für eine aktuelle Übersicht vgl. beispielsweise die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag: Niedriglöhne in der Bundesrepublik Deutschland, BT-Drs. 19/32223 vom 26.08.2021), so wurden bereits in dem Beitrag aus dem Jahr 2019 zwei Punkte hervorgehoben, die für eine Einordnung der Zahlen bedeutsam sind:

➔ Die 10,51 Mrd. Euro sind die Hartz IV-Leistungen, die an 1,01 Mio. Bedarfsgemeinschaftenausgezahlt wurden, in denen mindestens einer oder eine erwerbstätig war. Betrachtet werden hier erst einmal nicht einzelne Personen, sondern Haushalte, in denen auch mehr als nur eine Person leben können. Anders formuliert: Weil die anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft bedürftig sind, fließen hier Leistungen – selbst wenn der einzelne Erwerbstätige möglicherweise allein gerade an der Grenze der Bedürftigkeit wäre. Und das kann auch sein, wenn der Erwerbstätige ein an sich ordentliches Erwerbseinkommen hätte. Und da die 10 Mrd. Euro an alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft fließen, kann man diese Summe auch nicht so einfach als eine Subventionierung niedriger Löhne bezeichnen.

➔ Und die generalisierende Aussage, dass es sich um eine „Subventionierung von Lohndumping“ handelt – also man muss Hartz IV-Leistungen beziehen, weil seitens der Arbeitgeber so schlecht bezahlt wird -, ist nicht zwingend (und kann aus den Daten auch nicht abgelesen werden, denn dazu müsste man die genauen Stundenlöhne der Aufstocker kennen). Aber selbst mit einem halbwegs ordentlichen Stundenlohn kann es Konstellationen geben, bei denen man Anspruch auf aufstockende Leistungen aufgrund der Bedürftigkeit des gesamten Haushalts hat. Und nicht nur die Lohnhöhe ist ein unsicheres Terrain – hier wäre auch zu berücksichtigen, dass es ganz unterschiedliche Beschäftigungsformen und vor allem -umfänge gibt. Der normale Bürger wird – ob bewusst oder eher unbewusst – davon ausgehen, dass hier Löhne von „normalen“ Jobs aufgestockt werden müssen, also aus einer sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeit. Nun gibt es aber auch andere Beschäftigungsformen, wie die sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeit, die Selbstständigkeit oder die ausschließlich geringfügige Beschäftigung, also die berühmten 450 Euro-Jobs. Und das sollte einleuchten – wenn man „nur“ einen Minijob hat, dann wird man davon alleine nicht leben können, es kann sich gerade hier oder auch der Teilzeitarbeit nur um einen „Zuverdienst“ handeln. Der dann weitere Einkommensquellen erforderlich macht, um über die Runden kommen zu können.

Wie sehen die aktuelle Zahlen die „Aufstocker“ betreffend aus und wie die Entwicklung der vergangenen Jahre?

Die erste Abbildung verdeutlicht die Entwicklung der „Aufstocker“ seit dem Jahr 2014:

Fast jeder vierte erwerbsfähige Leistungsberechtigte hatte im vergangenen Jahr Einkommen aus einer eigenen Erwerbstätigkeit. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das aber erst einmal nur eine Oberkategorie darstellt, unter der ganz unterschiedliche Beschäftigungsformen versammelt sind – von der Vollzeitbeschäftigung bis hin zu einer ausschließlich geringfügigen Beschäftigung. Also schauen wir uns die Verteilung auf unterschiedliche Beschäftigungsformen genauer an:

Und schlussendlich zur Abrundung der Datenaufbereitung ein Blick auf die Entwicklung seit 2014:

Über einen Aspekt der seit längerem geführten Debatte über eine „Reform“ des Hartz IV-Systems sollte man sich bewusst sein: Wenn die gegenwärtig und vielkritisierten harten Anrechnungsregelungen eigenen Erwerbseinkommens deutlich gelockert werden würden, dann hat das im bestehenden System einer Berechnung von Regelbedarfen den Effekt, dass die Zahl der „Aufstocker“ deutlich ansteigen müsste, denn tatsächlich ist der Niedriglohnsektor in Deutschland gerade an der bisherigen Schwelle knapp oberhalb der Hartz IV-Grenze gut besetzt, noch mit Menschen, die gerade so aus einem (theoretischen) Anspruch auf aufstockende Grundsicherungsleistungen herausfallen. Und das viele von denen einen Anspruch auf ergänzende Sozialhilfeleistungen bekommen würden, muss man auch für eine deutliche Anhebung der SGB II-Regelleistungen, die von vielen Sozialverbänden aus der Perspektive einer bedarfsgerechten Ausgestaltung des Grundsicherungssystems immer wieder gefordert wird, konstatieren, denn auch dann vergrößert sich die Schnittmenge zwischen dem Niedrigstlohnsektor und den Regelbedarfen im Sozialhilfesystem. Das mag sicher einiges erklären, wenn es um die vielkritisierte unzulängliche Höhe der Grundsicherungsleistungen geht. Erklären, nicht legitimieren.