In der sozialpolitischen Diskussion ist das ein beliebtes Muster: Man schaut (scheinbar) über den nationalen Tellerrand, greift sich – zumeist einzelne – Aspekte dessen, was dort vor sich geht oder diskutiert wird, heraus und präsentiert die als Anregung für unser Land. Die inhaltliche Streubreite dieses Vorgehens ist beträchtlich. Das kann getragen sein von der ehrenwerten Suche nach tatsächlichen Verbesserungen, also echten Reformen, man denke hier an gute Beispiele für die Bereiche Pflege und Rente. Nicht selten aber soll mit dem partikularen Verweis darauf, dass es in anderen Ländern „auch so läuft“, eine als „Reform“ getarnte geplante Verschlechterung legitimatorisch ummantelt werden.
In diesen Tagen kann man das am Beispiel unseres Nachbarlandes Dänemark studieren. Die Dänen gelten gerade in sozialpolitischer Sicht in nicht wenigen Bereichen durchaus als Vorbild, man denke hier an die Organisation und Finanzierung einer in vielerlei Hinsicht besser aufgestellten Langzeitpflege. Aber die skandinavischen Länder haben sich in den zurückliegenden Jahren teilweise erheblich wegentwickelt von dem romantisierten Bullerbü-Bild eines sozialdemokratisch verankerten Wohlfahrtsstaates, was nicht wenige bei uns noch in den Köpfen haben. Besonders auffällig wurde diese angedeutete Entwicklung beim Thema Flüchtlinge, Asylsuchende, Zuwanderung insgesamt.
Mit Blick auf eine ab- und ausgrenzende Ausländerpolitik wird immer wieder Dänemark genannt. Dort wurde schon vor Jahren eine auf Exklusion und Abschottung ausgerichtete Migrationspolitik innenpolitisch dominant und die dänische Sozialdemokratie hat sich hier ganz besonders „hervorgetan“. Dänemark hat die Bedingungen für Einwanderer in den vergangenen Jahren immer wieder massiv verschärft. Die Regierung hat das Ziel ausgegeben, die Zahl der Asylbewerber auf null zu senken. Die dänische Asylpolitik ist bereits eine der härtesten weltweit. Die Regierung will sie auch dadurch weiter verschärfen, in dem Asylverfahren „in Drittländer ausgelagert“ werden sollen.
Vor diesem Hintergrund überraschen dann solche aktuellen Meldungen nicht wirklich:
»Seit Langem verfolgt Dänemark eine restriktive Migrationspolitik. Nun will die dänische Regierung die Bedingungen für staatliche Hilfen an Einwanderer verschärfen. Sie sollen nur noch dann Leistungen bekommen, wenn sie arbeiten.« Und der dänische Arbeitsminister Peter Hummelgard wird in dem Artikel Dänemark will Einwanderer zur Arbeit verpflichten mit diesen Worten zitiert: „Das Wichtigste für uns ist, dass die Menschen aus ihren Häusern herauskommen.“
Die angesprochene Maßnahme die Einwanderer ist Teil eines Reformpakets, das die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen vorgestellt hat. Es gehe um Arbeitslose mit „Integrationsbedarf“, die vom Staat finanzielle Unterstützung bekommen. Die Ministerpräsidentin Frederiksen weiter: „Wir wollen eine neue Arbeitslogik einführen, bei der die Menschen die Pflicht haben, einen Beitrag zu leisten und sich nützlich zu machen. Und wenn sie keine reguläre Arbeit finden, müssen sie für ihre Zuwendungen arbeiten.“
Man kann an dieser Stelle plausibel die Behauptung aufstellen, dass solche allgemeinen Ausführungen auch bei vielen Menschen (und damit Wähler) in Deutschland auf Zustimmung stoßen würden (weshalb ja, wie gleich noch gezeigt wird, sogleich einige Politiker in genau dieses Horn gestoßen haben).
Aber noch einmal zurück nach Dänemark. Geht es ein wenig genauer, was das geplant ist? »Zunächst sei die Regelung für diejenigen vorgesehen, die seit drei bis vier Jahren staatliche Leistungen beziehen und nicht über ein bestimmtes Maß an Schulbildung und Dänischkenntnissen verfügen, sagte die Regierungschefin weiter. Die Arbeitszeiten sollen mindestens 37 Stunden pro Woche betragen. »Das kann ein Job am Strand sein, bei dem man Zigarettenstummel oder Plastik aufsammelt oder Hilfe bei der Lösung verschiedener Aufgaben in einem Unternehmen«, sagte Arbeitsminister Peter Hummelgaard.«
Die dänische Ministerpräsidentin zur Rechtfertigung für die geplante Maßnahme: „Zu viele Jahre lang haben wir vielen Menschen einen schlechten Dienst erwiesen, indem wir nichts von ihnen verlangt haben.“ Außerdem: »Ihre Regierung verweist auch auf die niedrige Erwerbstätigenquote bei Frauen aus dem Nahen Osten, Nordafrika und der Türkei.« Der dänische Arbeitsminister dazu: „Viele nicht-westliche Frauen erleben, dass sie aufgrund der sozialen Kontrolle durch Ehepartner und Söhne nicht vor die Tür gehen dürfen.“
Auch Dänischunterricht und Betriebspraktika könnten in die 37 Stunden einbezogen werden. In einer ersten Phase soll die Arbeitspflicht für rund 20.000 Personen gelten.
Doch was sich für einige Dänen richtig anhört, birgt viele praktische Probleme – deshalb gibt es diesmal eine Menge Kritik auch in Dänemark an den geplanten Maßnahmen, wie man beispielsweise diesem Beitrag entnehmen kann: „Ich habe Angst, dass das zu staatlich gesponsertem Sozialdumping führt“, kritisierte Mai Villadsen, Sprecherin der dänischen Linkspartei.
Und auch aus dem Lager der Kommunen, die das am Ende umsetzen müssen, werden erhebliche Zweifel vorgetragen (die nicht überraschend viele in Deutschland an entsprechende Debatten über einen „zweiten Arbeitsmarkt“ erinnern werden): »Jacob Bundsgaard, Vorsitzende des Nationalen Gemeindeverbandes, hält gemeinnützige Arbeit für arbeitslose Einwanderer auch nicht für den richtigen Weg: „Nach unseren Erfahrungen führt das die Bürger nicht näher an einen Arbeitsplatz.“ Bundsgaard glaubt nicht, dass die dänischen Kommunen überhaupt Jobs zur Verfügung stellen könnten. „Das ist eine sehr, sehr schwierige und große Aufgabe“, sagte er. „Das sind Jobs, die normalen Arbeitnehmern nicht die Arbeit wegnehmen dürfen. Das sind also Jobs, die erfunden werden müssen.“«
»Das Gesetz muss noch durch das Parlament. Rasmus Jarlov von den Konservativen hat bereits Widerstand angekündigt. Er befürchtet, die Maßnahme werde sehr teuer werden und keinen großen Effekt haben.« Von daher sollte man zwischen Ankündigung und einer möglichen Realisierung ein großes Fragezeichen setzen.
Einem Teil des „Kompetenzteams“ von Kanzlerkandidat Laschet gefällt das mit der „neuen Arbeitslogik“ (die in Wirklichkeit ein alter Zopf ist). Und anderen auch
Die skizzierte Debatte in Dänemark wurde sogleich aufgegriffen in Deutschland, denn das Land steht kurz vor Bundestagswahlen und die seit gefühlt Bismarcks Zeiten regierenden Christdemokraten scheinen den Umfragen nach tatsächlich in derart schwere See geraten zu sein, dass sie nach dem 26. September 2021 aus dem Kanzleramt gespült werden. In so einer Gemengelage greifen manche zu jedem populistisch daherkommenden Strohhalm:
»Friedrich Merz (CDU) unterstützt die Idee der sozialdemokratischen Regierung in Dänemark, Arbeitslose zur Arbeit zu verpflichten. In Deutschland habe man sich in letzter Zeit vielleicht zu sehr auf das Fördern und nicht auf das Fordern konzentriert, um Langzeitarbeitslose wieder in Arbeit zu bringen«, so dieser Artikel: Dänemark als Vorbild: Friedrich Merz befürwortet Arbeitspflicht für Arbeitslose. Darin das Menschenbild des Herrn Merz: „Da kann das ein geeignetes Mittel sein, sie einfach nicht allein zu lassen, sondern sie wirklich auch mal ein bisschen an der Krawatte zu ziehen und zu sagen, ihr müsst euch auch mal um euch selber kümmern.“
Und nein, Herr Merz steht nicht allein, folgt man diesem Bericht: Unionspolitiker fordern Arbeitsdienst für Langzeitarbeitslose: »Führende Vertreter von CDU und CSU wollen Langzeitarbeitslose zu gemeinnütziger Arbeit verpflichten. Es gehe darum, „die Wiedereingliederung in das Arbeitsleben zu erleichtern“.«
»Ihm schwebe eine solche Regelung für Menschen vor, „die Leistungen vom Staat erhalten und nicht bereit sind, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren“, sagte der CDU-Vorsitzende von Sachsen-Anhalt, Sven Schulze … Demnach könnten die Arbeitslosen etwa Laub fegen oder Müll sammeln. Dabei gehe es vor allem darum, „die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen in das Arbeitsleben erleichtern“, sagte Berlins CDU-Fraktionschef Burkard Dregger … Der CSU-Innenexperte Michael Kuffer erhofft sich für die Arbeitslosen „Wertschätzung und eine persönliche Beziehung zu unserem Gemeinwesen“. Hamburgs CDU-Chef Christoph Ploß verwies … auf einen Gesetzesentwurf aus Dänemark, wo die Regierung mit einer Pflicht zum Arbeiten die Integration von Einwanderern forcieren will.«
Auch aus Bayern und von außerhalb der Union wird der Vorstoß sekundiert und dann auch noch „angereichert“ um die immer wiederkehrende Abwertung der Arbeit in der Pflege als ein Sammelposten, auf dem man Arbeitslose und Sonstige meint buchen zu können:
»Bayerns Vize-Ministerpräsident und Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger will Langzeitarbeitslose für soziale Dienste verpflichten. Sie könnten zum Beispiel in der Pflege, in Parks oder auf dem Bauhof eingesetzt werden, sagte Aiwanger … Bei Verweigerung könne Hartz IV um 30 Prozent gekürzt werden, „aber man darf die Leute nicht auf null zusammenstreichen“.« Das findet man in diesem Artikel: Aiwanger will Langzeitarbeitslose in Pflege einsetzen. Allein die Überschrift ist einer der vielen Schläge mit dem Vorschlaghammer, mit denen man die vielen, die (noch) in der Pflege arbeiten, bedient werden. Und die übrigens nicht nur aus Teilen der Politik regelmäßig gesetzt werden, sondern auch den Untiefen der Phantasien mancher Journalisten entspringen können, vgl. dazu beispielsweise diesen hier durchaus passenden Beitrag vom 21. August 2021: Frauen (aus Afghanistan) + Altenpflege (in Deutschland) = besser als Dienerinnen unter den Taliban.
Aber lassen wir den Herrn Aiwanger noch weiter zu Wort kommen: »Aiwanger sprach dabei von „Arbeitsanbahnung“. „Es soll auf alle Fälle nicht auf Schikane oder Demütigung rauslaufen“, sagte der 50-Jährige, dessen Partei mit der CSU in einer Koalition in Bayern regiert. Es gehe darum, Menschen wertzuschätzen und ihnen Arbeit zu geben. „Ich würde Leute dort einsetzen, wo wir früher Zivildienstleistende eingesetzt hatten. (…) Wir sind ja mitten in einem Pflegenotstand, jede helfende Hand ist dort dringend gebraucht.“«
Nun muss man zur Abrundung anmerken, dass dieser Vorstoß aus dem Freistaat dort sofort auch auf Kritik gestoßen ist – zumindest, was die unselige Verknüpfung mit der Pflege angeht:
»Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) wies die Forderung am Freitag zurück. „Unser Ziel ist es, die Pflege zu professionalisieren und den Beruf aufzuwerten. Mit Zwangsdiensten wird uns das nicht gelingen, sie würden wahrscheinlich das Gegenteil bewirken.“ Aiwangers Vorschlag zeuge von „völliger Unkenntnis“ der Situation in der Pflege. „Es geht in der Pflege nicht ums Händchenhalten, sondern um den Gesundheitsschutz der Menschen.“ Wer in der Pflege mit alten und hilfebedürftigen Menschen arbeite, müsse gut ausgebildet sein und dies freiwillig machen, „sonst geht der Schuss nach hinten los“ … (Auch die FDP) hielt nichts vom Vorstoß des Wirtschaftsministers. Der gesundheits- und pflegepolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Dominik Spitzer, sagte: „Aiwangers Vorschlag ist schlichtweg eine Unverschämtheit. Er diskreditiert mit diesen Aussagen alle Menschen, die mit großem Engagement in der Pflege arbeiten.“ Er solle einmal einen Tag Pflegekräfte begleiten, dann würde er sehen, dass das ohne eine qualifizierte Ausbildung nicht zu machen sei.«
So wäre die Verknüpfung mit der Pflege wenigstens als das charakterisiert, was sie ist: Eine bodenlose Frechheit und darüber hinaus auch ein Rückschlag für alle, die sich um eine dringend erforderliche Aufwertung der Pflegeberufe bemühen.
Nur als Merkposten: Nichts vergleichbares wurde gesagt zu den Arbeitsdienst-Phantasien gegenüber „den“ Langzeitarbeitslosen. Aber neben allen verfassungsrechtlichen, moralischen oder sonstigen sehr guten Gründen, die gegen diesen offensichtlich feuchten Traum einiger Stammtischbrüder sprechen – er würde sowieso nie Realität werden (können), man befrage dazu nur einmal diejenigen, die das organisieren müssten, also die Kommunen, die Jobcenter. Unabhängig davon geht es selbst den Apologeten der Arbeitsdienst-Forderung gar nicht um eine Verwirklichung, sondern man hebt populistisch das Bein gegen einige da unten, um bei anderen eine Duftmarke setzen zu können. Aber (hoffentlich) funktionieren diese immer wiederkehrenden Instrumentalisierungen heutzutage auch immer weniger wie die Annahme, man habe quasi ein naturgesetzliches Abo darauf, stärkste Partei bei Wahlen zu werden oder dass man nicht wegen Eigenbedarfs anderer aus dem Mietverhältnis im Kanzleramt ratsgekündigt werden kann.
Nachtrag am 13.09.2021:
Es wurde ja bereits in dem Beitrag darauf hingewiesen, dass führende Unionspolitiker die Forderung nach einem Arbeitsdienst aus offensichtlich wahlkampftaktischen Gründen aufgegriffen haben. Ein weiteres Beispiel dafür ist der Fraktionsvorsitzende der CDU im rheinland-pfälzischen Landtag, Christian Baldauf, folgt man dieser Meldung vom 12.09.2021: Baldauf: Gemeinnützige Arbeit für Langzeitarbeitslose: »Die von der dänischen Regierung geplante „Aktivitätspflicht“ für Langzeitarbeitslose könne durchaus ein Modell auch für Deutschland sein. „Auch in unseren Städten und Dörfern liegt die Arbeit buchstäblich auf der Straße“, sagte der Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion. Bei einer solchen Verpflichtung gehe es nicht um eine Sanktionierung, sondern vielmehr um „Hilfe zur Wiedereingliederung“.« Er schafft es sogar, die potenziell betroffenen Langzeitarbeitslosen gegen rührige Rentner in Stellung zu bringen: „Wenn sich in unseren Gemeinden Rentner zusammenschließen, um Parkbänke zu reparieren, Spielplätze zu pflegen oder schlichtweg Müll zu sammeln, dann kann man das auch von Langzeitarbeitslosen verlangen“, fügte Baldauf hinzu.
Nur eine von vielen an sich notwendigen Anmerkungen dazu: Wenn man den jahrelangen Kampf um ein paar wenige öffentlich geförderte Jobs für Langzeitarbeitslose vor Augen hat, wo gerade aus der Union vehementer Widerstand geleistet wurde gegen die Schaffung auch nur einiger weniger Beschäftigungsverhältnisse, die tatsächlich Brücken bauen könnten, dann kann man über dieses populistisch aufgeblasene Wiedergekäue von mehr als fragwürdigen Forderungen nach „gemeinnütziger Arbeit“ nur noch den Kopf schütteln. Manchmal wäre wenigstens Schweigen wirklich Gold wert.