Wer soll die Rechnung wie bezahlen? Einige Zahlen zu einer „Solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung“

Die zahlreichen Baustellen im Bereich der Altenpflege waren in den vergangenen Monaten intensiv auf der Tagesordnung der Berichterstattung. Und damit ist nicht nur die Lage der Pflegeheime gemeint, sondern auch die der ambulanten Pflegedienste bis hin zu den pflegenden Angehörigen und – für einen Moment ausgelöst durch eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts wieder einmal – die dunkelste Dauerbaustelle des deutschen Pflegesystems, also die osteuropäischen Frauen in der „24-Stunden-Betreuung“. Und überall wird nach dringend erforderlichen und längst überfälligen Verbesserungen gerufen, in den Sonntagsreden betonen Politiker aller Couleur, dass die Pflegekräfte besser bezahlt werden müssen, dass der Höhenflug der „Eigenanteile“ der Heimbewohner endlich gestoppt und umgekehrt werden soll, dass die Pflegepersonalschlüssel in den stationären und ambulanten Einrichtungen und Diensten verbessert werden und dass die pflegenden Angehörigen mehr finanziellen Spielraum bekommen müssen, beispielsweise bei der Tages- und Nachtpflege und anderen entlastenden Angeboten.

Nun muss man nicht lange nachdenken, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass das alles eine Menge Geld kosten würde. Auch wenn man richtig rechnet und Rückflüsse berücksichtigt – erst einmal müssen Beträge in die Hand genommen werden, die sich im zweistelligen Milliarden-Euro-Bereich bewegen. Aber woher sollen die kommen? Nicht wirklich überraschend schlagen sich die meisten Sonntagsredner spätestens an dieser Stelle in die Büsche und meiden eine Quantifizierung der finanziellen Bedarfe und vor allem eine Aussage zu den Quellen wie der Teufel das Weihwasser.

Oder aber es wird über angeblich 1,4 Milliarden Euro mehr für die Pflege schwadroniert, die man angeblich mit einer kurz vor dem Ende der Legislaturperiode noch schnell auf den Weg durch die Instanzen gebrachten „Pflegereform“ zur Verfügung stellt, um höhere Löhne für die Pflegekräfte und gleichzeitig eine Absenkung der Eigenanteile der pflegebedürftigen Heimbewohner erreichen zu können. Was sich dann bei genauerem Hinschauen als eine ganz große Luftbuchung und ein rechnerischer Schildbürgerstreich entpuppt, denn unterm Strich werden sogar weniger Mittel in das System gegeben. Vgl. zu diesem Husarenstück ausführlicher den Beitrag Wenn aus 1,4 Milliarden Euro mehr am Ende 400 Millionen weniger werden. Pflegepolitik am Ende (der Legislaturperiode) vom 19. Juni 2021.

Im Kontext der Frage, wie die langzeitpflegerische Versorgung (sowie das gesamte Krankenversicherungssystem) in der Zukunft finanziert werden soll – und von wem bezogen auf welche Einkommensbestandteile in welchem Ausmaß -, wird seit vielen Jahren immer wieder mit dem Schlagwort einer „Bürgerversicherung“ operiert (vgl. nur als ein Beispiel den Beitrag Und vor jeder neuen Legislaturperiode grüßt die „Bürgerversicherung“. Über ein fundamentales Umbauanliegen und das Schattenboxen vor dem Haifischbecken, der hier am 10. Dezember 2017 veröffentlicht wurde). Dabei geht es vor allem um die erst einmal abstrakt daherkommende Forderung, dass „alle“ einzahlen sollen, auch diejenigen, die bislang nicht zu einer solidarischen Finanzierung beitragen, weil sie sich der gesetzlichen Kranken- und der sozialen Pflegeversicherung entziehen können. Das trifft das Gerechtigkeitsempfinden vieler, wenn man dann das fordert, was früher mal als „Volksversicherung“ typisiert wurde.

Der hier interessierende finanzierungsseitige Kern des Anliegens besteht aus zwei Komponenten:

➞ Zum einen will man die Finanzierungsbasis des Systems erweitern, also mehr Finanzmittel sollen organisiert werden, durch eine Verbreiterung der Beitragszahlergemeinschaft und – allerdings noch umstrittener – durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage für die Beiträge, beispielsweise durch die Berücksichtigung von Vermögenseinkünften.

➞ Zum anderen soll aber auch die Beitragslast anders verteilt werden, mit dem umverteilungspolitischen Ziel einer Entlastung der unteren und mittleren Einkommen und einer entsprechend stärker ausgestalteten anteiligen Belastung der oberen Einkommen. Hier geht es dann beispielsweise um eine Infragestellung bzw. Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze, die unterm Strich dazu führt, dass in Kombination mit einer prozentual gleichen Belastung der verbeitragten Einkommen eine regressive Verteilungswirkung des bestehenden Systems kritisiert wird.

Die Forderung nach einer „Bürgerversicherung“ mit durchaus unterschiedlicher konkreter Ausgestaltung wird von unterschiedlichen Parteien und Organisationen seit Jahren vertreten. Neben den Grünen und der SPD sind es auch die Linken, die sich seit langem für eine solche Veränderung des Finanzierungssystems stark machen.

➔ Die scheinbar immer vor Bundestagswahlen wiederkehrende Forderung nach einer „Bürgerversicherung“ wird dann auch von anderen aufgegriffen: »SPD, Grüne und Linke werben für eine Bürgerversicherung. Ökonomen haben nun ausgerechnet, ob sich das finanziell lohnt«, so beginnt Angelika Slavik ihren Artikel Was eine Bürgerversicherung bringt – und was nicht. Mit Ökonomen meint sie ganz spezielle Ökonomen, nämlich die aus dem arbeitgeberfinanzierten Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Die haben eine Studie erstellt (Martin Beznoska, Jochen Pimpertz und Maximilian Stockhausen: Führt eine Bürgerversicherung zu mehr Solidarität? Eine Vermessung des Solidaritätsprinzips in der gesetzlichen Krankenversicherung, 2021) und kommen »zu dem Schluss: Die Lasten würden in einem solchen Modell anders verteilt als bisher, die Gruppe der heute gesetzlich Versicherten könnte sich auf geringere Beiträge einstellen – allerdings nur für etwa sechs Jahre. Dann würde der Kassenbeitrag wieder auf das Niveau von heute steigen.«

Und dazu hat sich die Bundestagsfraktion der Linken erneut zu Wort gemeldet – dazu der Beitrag Finanzierung von Gesundheit und Pflege solidarisch gestalten vom 12. Juli 2021:

„Um die Finanzierung von Gesundheit und Pflege solidarisch auszugestalten, wollen wir drei große Schritte gehen“, sagte Susanne Ferschl. „Erstens beteiligen wir die Privatversicherten. Zweitens werden Beiträge auf hohe Einkommen fällig. Drittens erheben wir Beiträge auf Kapitaleinkommen – nicht nur auf Löhne und Renten“, so die stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Leiterin des Arbeitskreises Arbeit, Soziales und Gesundheit. Damit könnten die Beitragssätze in der Krankenversicherung deutlich sinken, ohne dass den Krankenkassen auch nur ein Euro verloren ginge (…) „Kleine und mittlere Einkommen zahlen überproportional Sozialabgaben“, sagte Dietmar Bartsch. „Damit das Land sozialer wird, muss aber gelten: Starke Schultern tragen mehr. Wir wollen konsequent und konkret die übergroße Mehrheit der Menschen entlasten und die reiche Minderheit belasten. Deswegen: eine Kranken- und Pflegeversicherung, in die alle einzahlen.“ Susanne Ferschl erläuterte, was das konkret bedeutet. Menschen mit mittleren und geringen Einkommen würden entlastet, Einkommen ab etwa 6.230 Euro belastet. Wer 3.000 Euro Kapitaleinkünfte erziele, solle jetzt mit einzahlen und nicht nur der, der 3.000 Euro Arbeitseinkommen habe.

Und dann wird mit einem besonderen Blick auf die Pflegeversicherung ausgeführt:

„In der Pflegeversicherung wollen wir die Beiträge nicht senken“, erklärte Ferschl, „sondern lassen den Beitragssatz konstant. Mit den Mehreinnahmen von über 16 Milliarden Euro finanzieren wir geringere Eigenanteile, mehr Leistungen, bessere Bezahlung und mehr Pflegekräfte.“

Neben den wohlfeilen Zielen, was und wen man alles gerne bedienen möchte, tauchen hier zumindest ein paar Zahlen aus, mit Blick auf die Pflegeversicherung immerhin die deutlich ambitioniertere Aussage, dass man 16 Mrd. Euro für die notwendigen Verbesserungen in der Altenpflege zur Verfügung stellen möchte.

Nun hat sich die Bundestagsfraktion der Linken eines beliebten Mechanismus bedient, um die Seriosität ihrer Forderungen zu untermauern: man lässt eine Studie erstellen. Dazu aus der Pressemitteilung der Bundestagsfraktion der Linken: »Eine hochwertige Gesundheitsversorgung für alle ist finanzierbar. Das zeigt ein Gutachten zum Konzept einer Solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung, für die die Fraktion schon lange streitet. Susanne Ferschl und Dietmar Bartsch haben die Studie von Professor Dr. Heinz Rothgang … in Berlin vorgestellt.«

Um diese Berechnungen des Bremer Gesundheitsökonomen geht es:

Heinz Rothgang und Dominik Domhoff (2021): Beitragssatzeffekte und Verteilungswirkungen der Einführung einer »Solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung“. Gutachten im Auftrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE, Berlin, Juni 2021

Eine kurze Übersicht dazu findet man in dem Artikel So soll die Bürgerversicherung der Linken funktionieren, der in der Online-Ausgabe der Ärzte Zeitung veröffentlicht wurde.

Rothgang/Domhoff (2021: 38 f.) kommen auf der Basis ihrer Modellrechnungen mit SOEP-Daten zu diesen Befunden:

➔ »Durch den Einbezug der bislang Privatversicherten in die Sozialversicherung, die Beitragspflicht für alle Einkommensarten und die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze kann der Beitragssatz – ceteris paribus – deutlich gesenkt werden. Dieser Effekt ist in der Pflegeversicherung noch deutlich stärker ausgeprägt als in der Krankenversicherung.«

➔ »Diese Beitragssatzreduktion führt zu einer Beitragsentlastung von 80- 90 % der derzeit Sozialversicherten. Ein besonders starker Effekt zeigt sich bei einkommensschwächsten Versicherten. Diese Entlastung wird durch die Absenkungen der Mindestbemessungsgrenze befördert, die sich diesbezüglich als effektive Maßnahme erweist.«

➔ »Lediglich die 10 % einkommensstärksten Versicherten werden in der Krankenversicherung belastet – insbesondere durch Veränderung der Beitragsbemessungsgrenze. Bei Privatversicherten greift die Belastung schon früher. Dennoch kommt es auch bei diesen in den ersten fünf Dezilen zu einer durchschnittlichen Entlastung. Ein Grund für die weitgehenden Entlastungen ist, dass die Leistungen für bisher Privatversicherte nicht mehr gemäß der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) vergütet werden, die für gleiche Leistungen durchschnittlich höhere Entgelt vorsieht und im Umlageverfahren keine Altersrückstellungen aufgebaut werden müssen.«

➔ Modelliert wird in der Studie der Ersatz der bisherigen Beitragssatzparität durch eine „Globalparität“, durch die eine Verbeitragung aller Einkommensarten ermöglicht wird, ohne dadurch die Arbeitgeber zu entlasten. Hintergrund: Bei Beitragssatzparität führt die Einführung einer Beitragspflicht auf nicht lohnbezogene Einnahmen dazu, dass der gesamte darauf entfallene Beitrag von den Arbeitnehmern allein getragen wird, die so sehr stark belastet werden.

Was würde sich durch eine „Solidarische Gesundheits- und Pflegeversicherung“ ändern? »Es konnte festgestellt werden, dass mit der Erweiterung des Versichertenkreises auf alle Personen, dem Einbezug aller Einkommen in die Beitragsbemessung und der Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau der Rentenversicherung (West) in Höhe von 78.000 Euro für das Jahr 2018 in der Krankenversicherung ein Beitragssatz von 13,3 % resultiert hätte. Im Vergleich zum im Jahr 2018 tatsächlich gültigen GKV-Beitragssatz von 15,6 % entspricht dies einer Verringerung um 2,3 Prozentpunkte. Bei Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze würde der Beitragssatz sogar lediglich 12,1 % betragen und läge damit 3,5 Prozentpunkte unterhalb des Status quo in der GKV.
Bei gleichen Annahmen in einer „solidarischen Pflegeversicherung“ könnte ein Beitragssatz für Versicherte mit Elterneigenschaft von 1,97 % bei einer Beitragsbemessungsgrenze von 78.000 Euro und von 1,78 % bei Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze realisiert werden. Dies entspräche einer Verringerung des im Jahr 2018 gültigen Beitragssatzes von 2,55 % um 0,57 bzw. 0,76 Prozentpunkte.« (Rothgang/Domhoff 2021: 44).

Für die Krankenversicherung kommen Rothgang/Domhoff (2021: 42) zu dem Ergebnis:

➔ Während die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau der Rentenversicherung, die Erweiterung der Beitragspflicht auf alle Einnahmenarten oder der Einbezug der bislang Privatversicherten in die Sozialversicherung – bei konstantem Beitragssatz – rechnerisch Mehreinnahmen von 10-12 Mrd. Euro generiert, ist der Einnahmeneffekt der Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze bereits doppelt so groß. Durch Kombination dieser Maßnahmen resultieren im Grundmodell rechnerisch Mehreinnahmen von gut 44 Mrd. Euro und in Modell 2 sogar solche von mehr als 75 Mrd. Euro.

Und zur Pflegeversicherung erfahren wir:

➔ »Naturgemäß sind die absoluten Beträge bei diesem deutlich kleineren System geringer. Aber auch in der Pflegeversicherung sind durch Einführung der solidarischen Pflegeversicherung rechnerisch Mehreinnahmen von mehr als 11 Mrd. Euro (Modell 1) bzw. sogar mehr als 16 Mrd. Euro (Modell 2) möglich.«

Und beides zusammengenommen:

»Wird der erzeugte Spielraum nicht zur Verringerung des Beitragssatzes genutzt, können die dann resultierenden Mehreinnahmen alternativ zur Ausweitung des Leistungsumfanges der Krankenversicherung und der Pflegeversicherung, beispielsweise durch Abschaffung von Zuzahlungen und Begrenzung von Eigenanteilen, zur besseren Vergütung von Pflegekräften oder zur Erhöhung der Pflegekräftezahl in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen genutzt werden.«

»Der Weg der Leistungsverbesserungen und der Netto-Absenkung finanzieller Belastungen erscheint besonders in der Pflegeversicherung attraktiv, weil deren Teilleistungscharakter bisher dazu führt, dass etwa eine bessere Personalausstattung für Pflegeeinrichtungen oder eine tarifliche Bezahlung der Beschäftigten, die zu höheren Vergütungssätzen führen, vollumfänglich von den Menschen mit Pflegebedarf zu refinanzieren ist.« (Rothgang/Domhoff 2021: 43)

Was könnte man mit den in der Studie modellhaft berechneten Zusatzeinnahmen bei unverändertem Beitragssatz speziell in der Langzeitpflege machen?

➔ Man könnte den Personalmehrbedarf von 115.000 Vollzeitstellen für Pflegekräfte, der sich im Projekt zur Entwicklung des Personalbemessungsverfahrens gezeigt hat, finanzieren (Mehrausgaben der Pflegeversicherung von 4,6 Mrd. Euro bei unterstellten jährlichen Arbeitge- berkosten von 40.000 Euro)

und

➔ die durchschnittliche Entlohnung von (gerechnet in Vollzeitäquivalenten) rund 400.000 Pflegefach- und Hilfskräften in der Langzeitpflege um 550 Euro anzuheben und so die Gehaltslücke zum Krankenhausbereich zu schließen (Mehrausgaben der Pflegeversicherung von 2,6 Mrd. Euro)

und

➔ die monatlichen pflegebedingten Eigenanteile (einschließlich der umgelegten Ausbildungskosten) von derzeit rund 900 Euro für 780.000 Bewohner von Einrichtungen der vollstationären Dauerpflege auf 450 Euro abzusenken (Mehrausgaben der Pflegeversicherung von 4,2 Mrd. Euro) bzw. auf null zu senken (Mehrausgaben der Pflegeversicherung von 8,4 Mrd. Euro).«

Das Fazit der beiden Autoren der Studie (S. 44 f.):

»Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass mit den drei Elementen des vergrößerten Versichertenkreises, der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage sowie der Erhöhung bzw. Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze eine deutliche Verringerung des Beitragssatzes einhergeht, aus dem eine finanzielle Entlastung für einen Großteil der Bevölkerung resultiert.
Wird der erzeugte Spielraum nicht zur Verringerung des Beitragssatzes genutzt, können die dann resultierenden Mehreinnahmen alternativ zur Ausweitung des Leistungsumfanges der Krankenversicherung und der Pflegeversicherung, beispielsweise durch Abschaffung von Zuzahlungen und Begrenzung von Eigenanteilen, zur besseren Vergütung von Pflegekräften oder zur Erhöhung der Pflegekräftezahl in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen genutzt werden.«