Von Sackgassen, Sprungbrettern und einem vor allem im Osten guten Jahr 2019. Zur Entwicklung der Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland

Seit vielen Jahren veröffentlicht das Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen Zahlen über Umfang, Struktur und Entwicklung der Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland. Nun wurden die Berechnungsergebnisse für das Jahr 2019 veröffentlicht:

➔ Thorsten Kalina und Claudia Weinkopf (2021): Niedriglohnbeschäftigung 2019 – deutlicher Rückgang vor allem in Ostdeutschland. IAQ-Report 2021-06, Duisburg: Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ), 2021

»Erstmals seit Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland ist der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten im Jahr 2019 unter die 20 %-Marke (auf 19,9 %) gesunken«, kann man dieser Zusammenfassung entnehmen: Deutlicher Rückgang in Ostdeutschland. Niedriglohnbeschäftigung unter 20 Prozent. Der bisherige Höchststand der Niedriglohnbeschäftigung wurde im Jahr 2011 mit 24,1% ausgewiesen. 2019 arbeiteten noch 25,3 % der ostdeutschen und 18,9 % der westdeutschen Beschäftigten für weniger als 11,50 € brutto pro Stunde. Das waren rund 7,2 Millionen Beschäftigte, die mit einem Niedriglohnjob über die Runden kommen mussten.

Kalina und Weinkopf (2021) weisen darauf hin, dass in den Jahren 2011 bis 2019 der Niedriglohnanteil in Ostdeutschland von 39,4% auf 25,3% erheblich zurückgegangen ist. Allein von 2018 auf 2019 gab es eine Reduktion der Niedriglohnbeschäftigten im Osten um sieben Prozentpunkte. Als ein Erklärungsansatz dafür wird vorgetragen, dass in den meisten Branchen die zuvor unterschiedlich hohen tariflichen Verdienste in West- und Ostdeutschland inzwischen angeglichen worden sind.

»In Westdeutschland erreichte der Niedriglohnanteil seinen höchsten Wert im Jahr 2011 (20,9%) und schwankte danach zwischen 19,6% und 20,6%. Von 2016 bis 2019 ist die Niedriglohnquote von 20,4% auf 18,9% gesunken, was aber immer noch deutlich über dem EU-Durchschnitt von rund 15% liegt. Von 2014 bis 2019 ist das Niedriglohnrisiko in Deutschland insgesamt um 14,3% gesunken.«

Auf eine Verringerung des Niedriglohnsektors hat auch Markus M. Grabka vom DIW hingewiesen:

➔ Markus M. Grabka (2021): Einkommensungleichheit stagniert langfristig, sinkt aber während der Corona-Pandemie leicht, in: DIW Wochenbericht Nr. 18/2021

»Positiv ist die jüngste Entwicklung im Niedriglohnsektor, zu dem man Beschäftige zählt, deren Bruttostundenlohn weniger als zwei Drittel des Medianlohns beträgt … Dabei lassen sich drei Phasen unterteilen. Zwischen 2000 und 2007 wuchs der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohn- sektor von rund 19 auf knapp 24 Prozent deutlich. Diese Entwicklung dürfte unter anderem auch den Arbeitsmarktreformen der damaligen Bundesregierung und hierbei insbesondere Hartz I bis III geschuldet sein. Danach stagnierte der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten bis etwa 2012. Anschließend ging ihr Anteil sukzessive bis auf 20,7 Prozent im Jahr 2019 zurück.« (Grabka 2021: 310).

Wieder zurück zu den Befunden aus dem IAQ: »Im Zeitverlauf ist die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten von rund 5 Millionen Mitte der 1990er Jahr auf 7,8 Millionen in den Jahren 2009 bis 2011 gestiegen. Nach einem leichten Rückgang wurde in den Jahren 2016 und 2017 mit jeweils 7,9 Millionen ein Höchstwert erreicht. Seitdem ist die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten auf 7,2 Millionen im Jahr 2019 wieder recht deutlich zurückgegangen.« (Kalina/Weinkopf 2021: 7).

Zur Struktur der Niedriglohnbeschäftigung erfahren wir:

Besonders häufig arbeiteten im Jahr 2019 für einen Stundenlohn von unter 11,50 Euro
➞ vor allem Minijobber (77 Prozent)
➞ unter 25-Jährige (fast 48 Prozent),
➞ Beschäftigte ohne abgeschlossene Berufsausbildung (44 Prozent),
➞ befristet Beschäftigte (knapp 37 Prozent),
➞ fast 31 Prozent der Ausländer und
➞ ein Viertel der Frauen.

Lesehilfe: Von allen Minijobbern haben im Jahr 2019 44,0 Prozent weniger als 11,50 Euro pro Stunde (= Niedriglohnschwelle 2019) verdient.

Niedriglöhne werden oft mit niedriger Qualifikation in Verbindung gebracht. Mit 29,3 Prozent gehörte fast jeder dritte Niedriglöhner zu der Gruppe der abhängig Beschäftigten, die keinen Berufsabschluss vorweisen können. Das bedeutet aber eben auch: Im Jahr 2019 verfügten 60,2 Prozent der Niedriglohnbeschäftigten in Deutschland über eine abgeschlossene Berufsausbildung, 10,6 Prozent über einen akademischen Abschluss

Zu den Branchen: 16,1 Prozent der Niedriglohnbeschäftigten waren im Einzelhandel, 9,2 Prozent in der Gastronomie, 9,1 Prozent in der Gebäudebetreuung (Gebäudereinigung und Hausmeistertätigkeiten), 8,5 Prozent im Gesundheitswesen und 4,8 Prozent im Bereich Erziehung und Unterricht beschäftigt. In diesen fünf Branchen war zusammen genommen fast die Hälfte aller Niedriglohnbeschäftigten in Deutschland tätig.

Eine andere Perspektive ist das „Niedriglohnrisiko“ in den einzelnen Branchen: »Das Risiko, für einen Niedriglohn zu arbeiten, ist in den genannten Branchen sehr unterschiedlich. In der Gastronomie waren im Jahr 2019 mit rund 62,5 % fast zwei Drittel der Beschäftigten zu einem Lohn unterhalb der Niedriglohnschwelle beschäftigt. An zweiter Stelle folgt die Gebäudebetreuung, in der gut 61 % der Beschäftigten einen Niedriglohn erhielten. Auch im Einzelhandel ist das Niedriglohnrisiko mit rund 40 % überdurchschnittlich hoch, aber deutlich niedriger als in der Gastronomie oder der Gebäudebetreuung. Im Gesundheitswesen und im Bereich Erziehung und Unterricht hingegen ist das Niedriglohnrisiko mit 16,4 % bzw. 11,7 % unterdurchschnittlich. Diese Branchen sind für den Niedriglohnsektor aber gleichwohl relevant, weil sie gesamtwirtschaftlich ein großes Gewicht haben.« (Kalina/Weinkopf 2021: 13).

Ist das vielleicht nur vorübergehend oder bleibt das so auf Dauer? Zur Debatte über Sprungbrett oder Sachgasse

Nun wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die in bzw. für ein bestimmtes Jahr erhobenen Zahlen (nur) einen Querschnitt abbilden, man ihnen also nicht entnehmen kann, ob der Zustand, einen Niedriglohn zu bekommen, lediglich vorübergehend oder aber auf Dauer ist.

Vor genau einem Jahr veröffentlichte die Bertelsmann-Stiftung zu dieser Frage die Ergebnisse einer von ihr in Auftrag gegebenen Studie, zu der unter der zuspitzenden Überschrift Niedriglohnsektor: Sackgasse statt Sprungbrett mitgeteilt wurde: »Rund 7,7 Millionen und damit mehr als ein Fünftel aller abhängig Beschäftigten in Deutschland verdienten 2018 weniger als 11,40 Euro brutto pro Stunde und arbeiteten damit im Niedriglohnsektor … Seit den 1990er Jahren ist Deutschlands Niedriglohnsektor um gut 60 Prozent gewachsen – in keinem anderen europäischen Land mit vergleichbarer Wirtschaftsleistung nimmt der Niedriglohnsektor ein solches Ausmaß an. Inzwischen haben einige Branchen ihr Geschäftsmodell auf niedrigen Löhnen aufgebaut … Immer mehr Beschäftigte erhalten auch für mittel- bis hochqualifizierte Tätigkeiten nur einen Niedriglohn. Ihre Zahl ist seit Mitte der 1990er Jahre um knapp eine Million auf über drei Millionen angewachsen. Dies entspricht rund 40 Prozent aller Niedriglohnbeschäftigten.«

➔ Markus M. Grabka und Konstantin Göbler (2020): Der Niedriglohnsektor in Deutschland. Falle oder Sprungbrett für Beschäftigte? Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2020

Und wie sieht es mit der Mobilität aus?

»Die Studie zeigt …, dass sich die Hoffnung eines Aufstiegs in besser bezahlte Tätigkeiten für die Hälfte der Niedriglohnbeschäftigten nicht erfüllt hat: Jeder zweite von ihnen verharrte auch vier Jahre nach Beginn des Beobachtungszeitraums noch im Niedriglohn, jeder Zehnte wurde arbeitslos oder war nicht mehr am Arbeitsmarkt aktiv. Lediglich 27 Prozent gelang der Sprung über die Niedriglohnschwelle.«

Für die einen „nur“, für die anderen „immerhin“ 27 Prozent, die den Absprung aus dem Niedriglohnsektor geschafft haben. Auch hier muss man natürlich in einer zweiten Runde die unterschiedlichen Ausprägungen genauer anschauen, so ist ein klarer Alterseffekt zu erkennen: So kann man sagen, dass sich der Niedriglohnsektor für Berufseinsteiger zwischen 18 und 29 Jahren als Sprungbrett erweisen kann. Zuletzt überwand laut Studie jeder dritte von ihnen innerhalb von vier Jahren die Niedriglohnschwelle, bei den über 50-Jährigen schaffte es nur jeder fünfte.«

Um den Niedriglohnsektor einzudämmen, haben Grabka und Göbler in ihrer Studie für die Bertelsmann-Stiftung vor allem für eine Reform plädiert, die den Übergang der Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse fördert. Eine Option hierfür wäre, die Schwelle für Minijobs von 450 Euro abzusenken, sodass Beschäftigte bereits ab einer geringeren Höhe von beispielsweise 250 Euro Sozialversicherungsbeiträge zahlen und so auch in Krisenzeiten besser abgesichert wären.

Kalina/Weinkopf (2021) halten eine einmalige deutliche Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns für empfehlenswert. Außerdem wird angeregt, dass die Mindestlohnkommission bei Entscheidungen zur Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns künftig auch das Prüfkriterium „angemessener Mindestschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ sowie den Aspekt der Armutsgefährdung stärker berücksichtigen soll. Diese den gesetzlichen Mindestlohn betreffenden Forderungen muss man vor diesem Hintergrund sehen: »Der gesetzliche Mindestlohn lag im Jahr 2019 bei 9,19 € pro Stunde und damit weiterhin deutlich unter der Niedriglohnschwelle … von 11,50 € in diesem Jahr. Bei der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 lag der Abstand zwischen der Niedriglohnschwelle (10,22 €) und der Höhe des Mindestlohns (8,50 €) bei 1,72 €. Bis 2019 hat sich die Differenz zwischen der Höhe des Mindestlohns und der Niedriglohnschwelle auf immerhin 2,31 € pro Stunde (9,19 € gegenüber 11,50 €) vergrößert.« Die Entwicklung der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland ist seit 2015 deutlich hinter der allgemeinen Lohnentwicklung zurückgeblieben.

Mit Blick auf einen Vergleich zur Tariflohnentwicklung bestätigen das Börschlein/Bossler/Wiemann (2021) in ihrem Beitrag: »Seit Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 ist dieser langsamer gestiegen als der Tariflohnindex.« Genauer: »Im Januar 2017 wurde der Mindestlohn erstmals angehoben. Mit 4 Prozent blieb diese Anhebung aber um 1,2 Prozentpunkte hinter dem im selben Zeitraum zu verzeichnenden Anstieg des Tariflohnindex zurück … Auch für die zweite Anpassung des Mindestlohns zum 1. Januar 2019 … lag die Entwicklung des Mindestlohns jedoch bereits um 2,6 Prozent hinter der bis dahin realisierten Tariflohnentwicklung zurück. Der Abstand zwischen Mindestlohn- und Tariflohnentwicklung hatte sich also weiter vergrößert. Bei der dritten Anpassung des Mindestlohns zum 1. Januar 2020 lag der gesetzliche Mindestlohn dann um 3,9 Prozent unter dem Niveau, das sich bei einer exakten Orientierung am Tariflohnindex ergeben hätte.«

Und dann nehmen auch Kalina/Weinkopf die Minijobs ins Visier: »Ein möglicher Ansatzpunkt zur Verringerung des vergleichsweise hohen Anteils von Niedriglöhnen in Deutschland besteht darin, die Zahl der Minijobs deutlich zu reduzieren, weil geringfügige Beschäftigungsverhältnisse besonders anfällig für Verstöße gegen den Mindestlohn sind. Um dies zu erreichen, könnte die Geringfügigkeitsgrenze auf z.B. 250 oder 300 € pro Monat abgesenkt werden. Alternativ oder auch ergänzend könnte die Ausübung von Minijobs auch auf bestimmte Beschäftigtengruppen … begrenzt werden, die meist nur eine gewisse Zeit in dieser Beschäftigungsform verbleiben.« (Kalina/Weinkopf 2021: 15; unter „bestimmten Beschäftigtengruppen“, auf die man die Option einer geringfügigen Beschäftigung begrenzen könnte, verstehen die Autorinnen Schüler, Studierende und Rentner).