Von den präviralen Ungleichheiten nach einer kurzen Unterbrechung in eine postvirale Klassengesellschaft? Daten und Spekulationen über Armut und Ungleichheit

»Wer in Deutschland einmal unter die Armutsgrenze rutscht, bleibt immer öfter länger arm. So beträgt der Anteil dauerhaft von Armut bedrohter Menschen an allen Armen 44 % – und ist damit mehr als doppelt so hoch wie noch 1998. Zudem droht die Corona-Pandemie die finanzielle Situation benachteiligter Gruppen zu verschärfen: Auch wenn höhere Einkommensgruppen im ersten Lockdown häufiger Einkommenseinbußen hatten, kämpften neben Selbstständigen besonders Menschen mit niedrigen Einkommen, Geringqualifizierte und Alleinerziehende mit finanziellen Schwierigkeiten.« Das konnte man einer Mitteilung des Statistischen Bundesamtes entnehmen, die im März 2021 veröffentlicht wurde: Armutsrisiken haben sich in Deutschland verfestigt, so ist die überschrieben. Darin wird über den neuen Datenreport 2021 – Sozialbericht für Deutschland berichtet. Der Datenreport ist ein Sozialbericht, den die Bundeszentrale für politische Bildung zusammen mit dem Statistischen Bundesamt, dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, dem Sozio-oekonomischen Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung sowie 2021 erstmals mit dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung herausgibt (vgl. dazu auch den Beitrag Eine Verfestigung von Armutsrisiken und mehr: Der Datenreport 2021. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland vom 10. März 2021).

Während sich die einen schon bei der Überschrift der Pressemitteilung zum neuen Sozialbericht bestätigt fühlen hinsichtlich ihrer Wahrnehmung einer zunehmenden Ungleichheit in unseres Gesellschaft, ließ die Reaktion „der anderen Seite“ nicht lange auf sich warten, also derjenigen, die das alles ganz anders sehen: Zerrbild der Realität, so vorwurfsvoll schon in der Überschrift haben beispielsweise Christoph Schröder und Maximilian Stockhausen vom arbeitgebernahen Institut der der deutschen Wirtschaft (IW) ihre Verarbeitung des neuen Sozialberichts überschrieben.

»Das Statistische Bundesamt hat heute den Datenreport 2021 – den Sozialbericht für Deutschland – vorgestellt. Die Pressemitteilung zeichnet ein düsteres Bild: Die Armutsgefährdung habe sich verfestigt, benachteiligte Gruppen könnten durch die Corona-Pandemie weiter zurückfallen, nur jeder Zweite empfinde den eigenen Bruttolohn als gerecht. Ein Zerrbild – denn der Bericht selbst zeigt auch viele positive Trends auf«, so der Einstieg von Schröder und Stockhausen. Wo finden die beiden Autoren die positiven Botschaften? Sie weisen darauf hin, der »Datenreport 2021 wirft … einen Blick auf die Zeit vor Corona und erinnert daran, dass sich viele Daten bis zu Beginn der Krise sehr positiv entwickelt hatten. So verzeichnete Deutschland bis zum Jahr 2019 immer neue Beschäftigungsrekorde bei der sozialversicherungspflichtigen Voll- und Teilzeitbeschäftigung. Die Reallöhne waren substanziell gestiegen, die Einkommens- und Vermögensverteilung seit mindestens einer Dekade stabil.« Die beiden Vertreter des Instituts der deutschen Wirtschaft versuchen den Blick zu lenken auf das letzte Jahr vor der Corona-Krise, dem letzten Jahr einer langen Aufschwungperiode: »Im Jahr 2019 war die allgemeine Lebenszufriedenheit in Ost- und Westdeutschland so hoch wie nie seit der Wiedervereinigung. Auch die Zufriedenheit mit dem persönlichen Einkommen war seit der ersten Erhebung der Daten im Jahr 2004 nie höher.«

Und selbst das erste Corona-Jahr, also 2020, wird in warmen verteilungspolitischen Farben gezeichnet: »Dabei hat sich der sozialstaatliche Ausgleich in der Corona-Pandemie bewährt. Wenngleich die Markteinkommen einiger Gruppen – beispielsweise Geringqualifizierte und Migranten, aber auch Selbstständige – besonders stark betroffen waren, haben sozialstaatliche Unterstützungen wie das erweiterte Kurzarbeitergeld, der vereinfachte Zugang zum Kinderzuschlag, zum Wohngeld oder zur Grundsicherung in Verbindung mit Überbrückungshilfen für Selbständige für einen erheblichen sozialen Ausgleich gesorgt und Einkommensverluste abgefedert.«

Man ahnt schon, dass es andere Sichtweisen gibt. »Driftet Deutschland wirtschaftlich auseinander – oder wird der soziale Graben schmaler? Für beides scheint es Belege zu geben«, so die Überleitung auf die andere Seite, hier in den Worten von Thomas Fricke in seinem Beitrag Deutschlands unterschätzte Spaltung, dessen Überschrift schon andeutet, dass er neben der (angeblichen) Sonnenseite auch eine erkennt, die im Schatten liegt. Und er richtet den Blick auf die Zeit nach Corona, denn in der Krise ist vor der nächsten Krise: »Dabei droht sich das Gefälle in der nächsten Krise dramatisch zu verschärfen.« Wenn man genauer hinschaut, dann »taugt das lediglich auf den ersten Blick zur Entwarnung.«

Auch Fricke berichtet von (scheinbar) positiven Entwicklungen, was die Ungleichheitsstrukturen beispielsweise bei der Lohn- und Einkommensverteilung angeht, im Sinne einer Abnahme der Ungleichheit. Aber: »Wenn das Lohngefälle in den vergangenen fünf Jahren nachgelassen hat, scheint das weniger daran zu liegen, dass die Wertschöpfung der Wirtschaft per se plötzlich besser verteilt wird. Entscheidend war nach mittlerweile gängigen Schätzungen, dass 2015 Zwang eingeführt wurde – in Form des Mindestlohns. Das könnte auch den Rückgang der Niedriglohnquote erklären.« Fricke lässt sich einen passenden Seitenhieb an dieser Stelle nicht entgehen: »Man kann jedenfalls nicht für gut befinden, dass es weniger Gefälle zwischen den Löhnen gibt – und gleichzeitig den Mindestlohn für Unsinn halten, wie es viele orthodoxe Ökonomen tun.«

Und zum genauer Hinschauen gehört auch das: »Dass die Bruttostundenlöhne nicht (mehr) stärker auseinander driften, ist ohnehin nur die halbe Wahrheit. Wenn manche am Ende des Monats kaum etwas übrighaben – und andere sehr viel mehr, liegt das auch daran, dass so viel mehr als früher in Mini- und anderen Teilzeitjobs arbeiten.« Und unter Berücksichtigung dessen, was vorher war: »Dazu kommt: auch wenn sich in jüngster Zeit das eine oder andere eher etwas gebessert hat, gleicht das nur einen Teil des vorangegangenen Auseinanderdriftens der Neunziger- und Nullerjahre wieder aus. Sprich: Zwischen Top- und Geringverdienern liegt heute ein zum Teil viel größerer Abstand als früher … Und: Der Befund gilt noch mehr, wenn man die Abstände für die Haushaltseinkommen insgesamt misst. Die Einkommen mögen seit 2005 nicht mehr sehr viel stärker auseinandergedriftet sein – nur sind die Verhältnisse damit einfach auch viel ungleicher (geblieben), als dies noch in den Achtziger- und Neunzigerjahren der Fall war.«

Auswertungen zeigen, so Fricke, dass »die oberen zehn Prozent der Haushalte 2018 knapp 25 Prozent mehr Einkommen als 2000 (hatten) – die unteren zehn Prozent immer noch weniger als damals; allem Aufholen seit 2015 zum Trotz.«

Das Einkommen – bei den meisten Menschen immer noch überwiegend oder ausschließlich Lohneinkommen – ist das eine. Wie aber sieht es mit dem Vermögen und seiner ungleichen Verteilung aus? Da läuft doch alles weiter auseinander, oder? »Auch hier scheint die eine oder andere Statistik zwar erst einmal eher gegen den Befund vom ewigen Auseinanderdriften zu sprechen. So ergibt die statistisch gemessene Verteilung von Vermögen unter denen, die überhaupt Vermögen haben, dass diese in den vergangenen knapp zehn Jahren nicht ungleicher geworden ist.« So Fricke, der dann aber auch gleich eine Menge Wasser in den angeblichen Wein schüttet.

Nicht nur, dass trotz langjährigen Aufschwungs vor Corona Ungleichheit nicht abgebaut wurde, was an sich schon ernüchternd ist. »Zum anderen wird bei näherem Hinsehen klar, weshalb das statistisch ausgewiesene Auseinanderdriften der Vermögen überhaupt gestoppt wurde: weil die Preise für Immobilien in den vergangenen zehn Jahren stark gestiegen sind, sind die ziemlich unverhofft deutlich reicher geworden, die Häuser oder Wohnungen haben – und in der Regel ohnehin schon zur gehobenen Mittelschicht zählen. Das hat dazu geführt, dass die Verteilung zwischen Mittelschicht und Reichen nicht ungleicher geworden ist. Allerdings gilt das eben nur im Vergleich zwischen denen, die überhaupt nennenswert Vermögen und Häuser haben.«

In solchen Messungen bleiben all jene statistisch außen vor, die kaum oder kein (Netto-)Vermögen haben – was in Deutschland immerhin rund 40 Prozent aller Haushalte sind. Erweitert man folgerichtig die zu betrachtenden Verteilungsrelationen auf die Gesamtheit, dann ergibt sich der folgende mehr als bedenkliche Befund: »Der Abstand zwischen den reichsten zehn Prozent und der gesamten unteren Hälfte der Bevölkerung, die so gut wie nichts gespart hat, ist seit Ende der Neunzigerjahre im Schnitt vom 50- auf das Hundertfache gestiegen.«

Fricke schlussfolgert: »Während diejenigen, die Häuser haben, weitgehend leistungslos reicher werden, müssen andere einen steigenden Anteil ihrer Einkommen dafür aufwenden, Miete zu zahlen, haben also weniger übrig. Bei niedrigeren Einkommen gehen dafür mittlerweile 40 Prozent des verfügbaren Geldes drauf. Wenn das kein gesellschaftlich heikles Auseinanderdriften der Verhältnisse ist.«

Und er bilanziert fragend: »Was passiert, wenn die nächste Krise kommt? Und die Arbeitslosigkeit wirklich steigt? Und auch die Industrie Leute entlässt? Und es auf Anhieb nichts gibt, das beim Auseinanderdriften der Vermögen den Trend umkehren könnte – schon weil der durchs Vererben eher noch bestärkt wird, wenn die unteren 50 Prozent ja nichts zu vererben haben?«

➔ Apropos Erbschaften und deren die bestehenden Ungleichheitsstrukturen nicht nur verfestigenden, sondern gleichsam potenzierenden Wirkungen: »Rund zehn Prozent aller Erwachsenen in Deutschland haben in den vergangenen 15 Jahren mindestens eine Erbschaft oder größere Schenkung erhalten. Die durchschnittliche Höhe dieser Erbschaften beläuft sich dabei real auf etwas mehr als 85.000 Euro pro Person, jene der Schenkungen auf 89.000 Euro, wie Daten des Sozio-oekonomischen Panels zeigen. Gegenüber dem Jahr 2001 haben sich die Erbschaften und Schenkungen im Durchschnitt real um etwa 20 Prozent erhöht. Intergenerationale Transfers sind ungleich verteilt: So fließt die Hälfte aller Erbschafts- und Schenkungssummen an die reichsten zehn Prozent der Begünstigten. Erbschaften und Schenkungen erhöhen damit die absolute Ungleichheit. Vor diesem Hintergrund sollte die Zehnjahresfrist – Freibeträge können alle zehn Jahre erneut in Anspruch genommen werden – aufgehoben werden, damit Freibeträge nicht mehrmals geltend gemacht werden können. Gleichzeitig aber haben kleine und mittlere Erbschaften und Schenkungen eine dämpfende Wirkung auf die Vermögenskonzentration, also die relative Ungleichheit. Daher sollten die Freibeträge bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer – auch vor dem Hintergrund der zunehmenden Zahl von Patchworkfamilien – gleichmäßiger über die verschiedenen Personengruppen und Verwandtschaftsgrade verteilt werden.« (Kira Baresel et al. (2021): Hälfte aller Erbschaften und Schenkungen geht an die reichsten zehn Prozent aller Begünstigten, in: DIW Wochenbericht, Nr. 6/2021).

»Eine neue Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Einkommensunterschiede durch die Krise kleiner wurden. Betrachtet man die Gründe, gibt es jedoch wenig Grund zur Freude«, so Marcel Fratzscher in seinem Beitrag Corona verringert die Ungleichheit – aber nur kurzfristig. »Die Einkommensungleichheit in Deutschland verringert sich in der Corona-Pandemie – so lautet das für manche überraschende Resultat.« Fratzscher bezieht sich hier auf diese Studie aus dem DIW:

➔ Markus M. Grabka (2021): Einkommensungleichheit stagniert langfristig, sinkt aber während der Corona-Pandemie leicht, in: DIW Wochenbericht Nr. 18/2021:
»Sowohl Löhne als auch bedarfsgewichtete Haushaltseinkommen sind im Zeitraum 2013 bis 2018 real um gut zehn Prozent gestiegen. Hiervon profitierten alle Einkommensgruppen. Die Ungleichheit der Löhne ist seit mehreren Jahren rückläufig und liegt wieder auf dem Niveau wie zu Beginn der 2000er Jahre. Parallel dazu ist der Niedriglohnsektor um zwei Prozentpunkte geschrumpft. Anders verhält es sich bei den Haushaltseinkommen, bei denen sich die Ungleichheit seit vielen Jahren kaum verändert hat. Auch die Niedrigeinkommensquote stagniert. Allerdings ist der Anteil der Personen, die von essentiellem Mangel (materieller Deprivation) betroffen sind, auf ein im europäischen Vergleich niedriges Niveau gesunken. Seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie hat die Einkommensungleichheit in Deutschland leicht abgenommen, was vor allem an den rückläufigen Einkommen bei den Selbstständigen liegen dürfte. Die Pandemie birgt aber die Gefahr, dass durch eine steigende Zahl von Insolvenzen und Arbeitslosen die Einkommen in der Breite wieder sinken. Die Politik sollte die Hilfen an Selbstständige und Unternehmen nicht zu früh einstellen und deren Zielgenauigkeit nachjustieren.«

»Zunächst ist es positiv, dass die verfügbaren Haushaltseinkommen in Deutschland in der Pandemie nicht ungleicher geworden sind. Bei genauem Hinsehen gibt dies aber wenig Anlass zur Freude: Denn die sinkende Einkommensungleichheit in Deutschland ist der Tatsache geschuldet, dass die Einkommen der fast fünf Millionen – häufig überdurchschnittlich verdienenden – Selbstständigen in der Pandemie spürbar gesunken sind. Und nicht – wie zwischen 2015 und 2019 – das Resultat von stärker steigenden Haushaltseinkommen der einkommensschwächeren Menschen«, so Marcel Fratzscher.

Fratzscher hebt hervor, »dass die Einkommensungleichheit heute noch immer auf dem Niveau von 2005 liegt, also dem Jahr, als Deutschland als „kranker Mann Europas“ mit mehr als fünf Millionen fast doppelt so viele Arbeitslose hatte wie heute. Dies bedeutet, dass trotz des Wirtschafts- und Beschäftigungsbooms der 2010er Jahre, der mehr als drei Millionen zusätzliche Jobs geschaffen hat, die materielle Ungleichheit nicht abgenommen hat. Mehr noch, das einkommensschwächste Fünftel der Menschen in Deutschland hat heute inflationsbereinigt nicht mehr, sondern zum Teil weniger Einkommen als vor zwanzig Jahren.«

Außerdem dürfe man nicht nur auf eine Zahl bzw. eine Entwicklung schauen: »So sind zwar die Löhne und Einkommen in den letzten Jahren ordentlich gestiegen, gleichzeitig sind aber die Mieten und die Wohnkosten in vielen Städten regelrecht explodiert, sodass dort zahlreiche Menschen mit geringem Einkommen heute weniger Geld für das tägliche Leben übrig haben als noch vor ein paar Jahren.«

»Anfangs hat die Pandemie die Schere zwischen Arm und Reich sogar etwas geschlossen. Das bleibt aber nicht so, im Gegenteil«, meint auch Lisa Nienhaus in ihrem Beitrag unter der interessanten Überschrift Die postvirale Klassengesellschaft. Auch hier wird die gute Botschaft an den Anfang gestellt: »Bisher hat die Corona-Krise die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland nicht vergrößert. Nach allen Zahlen, die den Ökonomen bislang dazu vorliegen, ist der Unterschied in der Netto-Einkommensverteilung, also nach Steuern und Transfers, sogar kleiner geworden.« Die Entwicklung läuft auch in den meisten anderen westlichen Ländern so ähnlich.

»Die wichtigste Ursache der neuen Gleichheit sind die Milliarden-Rettungsprogramme der Staaten. Die großzügigen Hilfen, die in allen westlichen Ländern angeboten wurden, haben die Einbußen insbesondere der Ärmeren weitgehend kompensiert, nicht für jeden, aber im Durchschnitt. Das Kurzarbeitergeld war in Deutschland wohl das wirkungsvollste Instrument dafür.«

➔ Apropos Bedeutung der Kurzarbeit in diesem Kontext (im Zusammenspiel mit anderen staatlichen Auffang- bzw. Kompensationsmaßnahmen): Dazu diese neue Studie:
Michael Christl, Silvia De Poli, Tine Hufkens, Andreas Peichl, and Mattia Ricci (2021): The Role of Short-Time Work and Discretionary Policy Measures in Mitigating the Effects of the COVID-19 Crisis in Germany. CESifo Working Paper No. 9072, Munic: CESifo, May 2021
»Die 2020 von der Bundesregierung beschlossenen Corona-Zuwendungen für Familien und die Ausweitung des Kurzarbeitergeldes haben die Bruttoerwerbseinkommen der Deutschen stabilisiert. Das ergeben aktuelle Berechnungen des ifo Instituts zusammen mit dem Joint Research Center der Europäischen Kommission. Das Bruttoerwerbseinkommen war im Jahr 2020 eigentlich um circa 5 Prozent gefallen. Aber staatliche Sondermaßnahmen und die ‚automatischen Stabilisatoren‘ des Steuer- und Sozialsystems verkleinerten diesen Verlust auf 0,8 Prozent. „Diese Ergebnisse bestätigen unsere ersten Erkenntnisse aus dem Sommer. Es ist gelungen, den Anstieg von Einkommensungleichheit und das Armutsrisiko abzufedern“, sagt Andreas Peichl.« Dazu diese Pressemitteilung des ifo Instituts: Zuwendungen und Kurzarbeitergeld fangen 80 Prozent der Corona-Einkommenseinbußen auf. »„Ein Verlust von 100 Euro Markteinkommen konnte durch die Maßnahmen und das bestehende System in einen Verlust von 20 Euro an real verfügbarem Einkommen gemildert werden“, erläutert Peichl. Zu den Corona-Sondermaßnahmen gehört der Kinderbonus von 300 Euro. Zudem wurde für 2020 und 2021 der steuerliche Entlastungsbetrag für Alleinerziehende um mehr als 100 Prozent auf 4008 Euro (zuvor 1908 Euro) erhöht. Durch diese Zuwendungen konnten die Empfänger die gestiegenen Lebenshaltungskosten während der Pandemie besser schultern. Außerdem wurde der Zugang zur Grundsicherung erleichtert. Kurzarbeitergeld und die Sondermaßnahmen kommen einkommensschwachen Haushalten besonders zugute, während einkommensstarke Haushalte von der progressiven Einkommensbesteuerung profitieren. „Da einige dieser Maßnahmen 2020 ausgelaufen sind, verringert wurden oder 2021 auslaufen werden, ist davon auszugehen, dass einkommensschwächere Haushalte negativ betroffen bleiben, solange die Pandemie nicht gestoppt ist. Daher erscheint es erforderlich, weitere Maßnahmen zur Armutsbekämpfung und zum Ausgleich für die Pandemie-Verlierer zu treffen“, empfiehlt Peichl.«

Nienhaus lenkt die Aufmerksamkeit auf eine besondere Gruppe: »Viele Unternehmer und Selbstständige, die im Schnitt eher zu den Besserverdienern gehören, verloren hingegen ihr Einkommen ganz oder teilweise. Zwar gab es auch für sie großzügige Hilfsprogramme. Diese ersetzten allerdings in Deutschland nur einen Teil der zusätzlich anfallenden Kosten, nicht aber die Gewinne der Unternehmer oder das, was die Selbstständigen sich normalerweise selbst auszahlen: den Unternehmerlohn.«

Dabei zeigt sich eine gewaltige Spreizung der (Nicht-)Betroffenheit von der Corona-Krise schon auf der Einkommensebene: »Während Beamte und Angestellte 2021 im Schnitt fünf Prozent mehr Nettoeinkommen im Monat hatten als 2019, verloren Selbstständige im gleichen Zeitraum 16 Prozent oder monatlich 457 Euro. Das sind erhebliche Einbußen für eine Gruppe, die im Durchschnitt zu den Besserverdienern gehört.« Und daran anschließend auch hier erneut der Befund: Die Ungleichheit ist also gesunken – nicht weil die Schlechtverdiener viel gewonnen hätten, sondern weil ein Teil der Gutverdiener verloren hat.

Schon mit ihrem Titel – Die postvirale Klassengesellschaft – deutet Nienhaus an, dass der Blick in die mögliche Zukunft Sorgenfalten auf das Gesicht zeichnet: »Viele Ökonomen haben den Verdacht, dass die soziale Kluft in den kommenden Monaten und Jahren deutlich größer wird. Sie sehen das als eine Spätfolge der Pandemie.« Wie das? »Im vergangenen Jahr hat sich nämlich eine neue Achse der Ungleichheit aufgetan: die digitale Achse.« Sie hängt das auf an den beiden Phänomenen Homeoffice und Homeschooling.

»Es trägt zur Ungleichheit bei, wenn mehr Menschen im Homeoffice arbeiten. Das liegt daran, dass es eher gut situierte Menschen sind, die überhaupt im Homeoffice arbeiten können. »Während der Corona-Krise hatten Menschen mit Homeoffice-fähigen Jobs klare Vorteile. Sie konnten trotz Virus ähnlich produktiv weiterarbeiten wie bisher. Sie waren besser vor Kündigung und Kurzarbeit geschützt. Zugleich waren sie besser vor dem Virus geschützt. Innerhalb der großen Gruppe der Angestellten waren es also vor allem gut verdienende Büroangestellte, die mit geringem Ansteckungsrisiko durch die Krise kamen.« Und auf der anderen Seite der Medaille stehen die unterdurchschnittlich, häufig schlecht bezahlten Jobs, bei denen es gar keine Möglichkeit gibt, sie von zu Hause zu erledigen. Und viele der dort beschäftigten Menschen – man denke hier nur an die Gastronomie – haben dann auch noch die schlecht bezahlten Jobs verloren, denn sie waren von tatsächlicher Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich betroffen.

»Tatsächlich hat die Corona-Krise deshalb die Bruttoeinkommen, also die Einkommen vor Steuern und Transfers, in vielen Ländern ungleicher gemacht … Es sind die Hilfsprogramme, die diesen Effekt für den Nettolohn gedreht haben«, so Nienhaus. »Wenn die Corona-Hilfen eines Tages aber auslaufen, zeigt sich das wahre Bild. Dann dürfte viel von der gestiegenen Brutto-Ungerechtigkeit auch aufs Netto durchschlagen.«

Die „neue Achse der Ungleichheit“ werde auch durch das Homeschooling vorangetrieben, so Nienhaus, die sich hier vor allem auf die bildungsökonomische Argumentation von Ludger Wößmann bezieht. Der wird mit diesen Worten zitiert: „Infolge der Pandemie wird die Ungleichheit steigen: zwischen Arm und Reich und zwischen Alt und Jung. Und das hat mit den Schulschließungen zu tun.“ Wößmann prognostiziert: Selbst wenn die Schulen bald wieder öffnen und alle Schüler zurückkehren, dürften die Lernlücken nicht wieder ganz zu schließen sein. Sie können zu niedrigeren Bildungsabschlüssen führen für eine ganze Generation, aber insbesondere für Kinder, die es zuvor schon schwer hatten.

➔ Die nicht unumstrittene Argumentation von Wößmann, dessen Kritiker vor allem die Schul- und (formale) Abschlusszentrierung beklagen und das Hochrechnen von formalen Schulzeitverlusten auf angeblich lebenslang wirkende Effekte auf Wertschöpfung und Markteinkommen, kann man in diesen Veröffentlichungen beispielhaft nachvollziehen:
➞ Ludger Wößmann et al. (2021): Bildung erneut im Lockdown: Wie verbrachten Schulkinder die Schulschließungen Anfang 2021?, in: ifo Schnelldienst Nr. 5/2021: »Während der mehrwöchigen Corona-bedingten Schulschließungen Anfang 2021 verbrachten die Schulkinder im Durchschnitt 4,3 Stunden pro Tag mit schulischen Tätigkeiten. Das zeigt eine Befragung von über 2.000 Eltern. Zwar ist das eine knappe Dreiviertelstunde mehr als während der ersten Schulschließungen im Frühjahr 2020, aber immer noch drei Stunden weniger als an einem üblichen Schultag vor Corona.«
➞ Ludger Wößmann (2020): Folgekosten ausbleibenden Lernens: Was wir über die Corona-bedingten Schulschließungen aus der Forschung lernen können, in: ifo Schnelldienst, Heft 6/2020

Und dann ist da ja noch dieser neue Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung

Eine Betrachtung der Debatten über die Frage, wie sich die Ungleichheitsentwicklung in den zurückliegenden Jahren, inmitten der Corona-Krise und möglicherweise in der vor uns liegenden Post-Corona-Zeit darstellt und bewerten lässt, kann nicht ohne Berücksichtigung des diese Tage vom Bundeskabinett beschlossenen nunmehr sechsten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung beendet werden.

Lebenslagen in Deutschland. Der Sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2021)
Kurzfassung
➔ Weitere Informationen auf der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales betriebenen Website, dort findet man auch die zahlreichen Studien und Expertisen, die im Vorfeld erstellt wurden: www.armuts-und-reichtumsbericht.de.

Und auch hier erleben wir das gleich Pingpong-Spiel zwischen den unterschiedlichen Lagern: »Rekordbeschäftigung, sinkende Langzeitarbeitslosigkeit, steigende Realeinkommen und eine recht stabile Verteilung – die positiven Entwicklungen der Jahre vor der Pandemie spiegeln sich auch im sechsten Armuts- und Reichtumsberichts (ARB) wider«, so Judith Niehues und Maximilian Stockhausen vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) unter der positiven Überschrift Größtenteils gute Nachrichten. Auch hier ahnt man bereits, dass das an anderer Stelle ganz anders gesehen wird. So wie generell die regelmäßige Veröffentlichung von – übrigens hoch offiziellen und in der Armutsforschung international abgesicherten – „Armutsgefährdungsquoten“ (so heißt die Quantifizierung des relativen Einkommensarmutsrisikos im amtlichen Statistiker-Sprachgebrauch) in einschlägigen Kreisen für sofortige Schnappatmung sorgt und man dort mit zahlreichen Klimmzügen versucht, nachzuweisen, dass es bei uns eigentlich gar keine Armut geben würde (vgl. als ein Beispiel für die reflexhaften Reaktionen auf „Armutszahlen“ den Kommentar Hässliches Deutschland? Dieses Bild ist vollkommen falsch von Dorothea Siems in der WELT), so wird auch die Publikation des neuen Armutsberichts der Bundesregierung sofort ins Visier genommen. Bezeichnend in seiner Deutlichkeit die Kommentierung von Dietrich Creutzburg in der FAZ unter der Überschrift Dieser Armutsbericht muss weg: »Der Armuts- und Reichtumsbericht der Regierung wird von Interessenvertretern missbraucht. Als Wahlkampfmunition und Bestätigung vorher festgelegter Forderungen«, so seine Sichtweise.

Einen differenzierteren Zugang ermöglicht dieses Interview mit Jürgen Schupp, er ist Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin und Wissenschaftler beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Von 2011 bis 2017 leitete Schupp dort das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), eine wesentliche Datengrundlage aller Armuts- und Reichtumsberichte: Polarisierung bei den Einkommen wächst weiter, so ist das Gespräch mit ihm überschrieben. Dabei wird auch auf die Geschichte der Armuts- und Reichtumsberichte eingegangen. Schon beim Weltsozialgipfel 1995 in Kopenhagen hatte sich die Bundesrepublik zur Erstellung eines Armutsberichtes verpflichtet. Erst 2001 wurde dann der erste Armuts- und Reichtumsbericht veröffentlicht. Warum erst mit dieser Verzögerung? Dazu Schupp: »Die damals neue rot-grüne Koalition beschloss im Bundestag, dass die Regierung zur Mitte jeder Legislaturperiode künftig einen Armuts- und Reichtumsbericht zur Frage der Einkommen und Vermögen vorlegen soll. Die Regierung Kohl hatte Armut sozusagen geleugnet und von »bekämpfter Armut« oder von »Niedrigeinkommen« gesprochen. Auslöser für den ersten Bericht war der politische Wechsel.«

Auf die Frage, ob die Ungleichheit zugenommen habe, antwortet Schupp: »Von dem Wachstum unserer Volkswirtschaft und unserer Einkommen insgesamt haben eher die oberen Einkommensschichten profitiert und weniger die unteren. Die Polarisierung, insbesondere durch das Wachstum in den oberen Einkommensgruppen, hat in den letzten Jahren zugenommen. Dazu kommt, dass noch in den 1980er Jahren etwa 40 Prozent der armen Menschen dies auch vier Jahre später noch waren. Dieser Anteil ist mittlerweile auf 70 Prozent angestiegen. Die Verkrustungen, die dazu führen, dass man in Armut verbleibt, haben zugenommen.«

Nun heißt der Bericht ja nicht ohne Grund Armuts- und Reichtumsbericht. Wie sieht es mit der Abbildung des Reichtums aus? Dazu Schupp: »Schon im ersten Bericht war das Thema Reichtum ein Stück weit unterbelichtet, das hat man zu verbessern versucht. Im jüngsten Bericht hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung eine neue Datenbasis gerade für die Hocheinkommensbeziehenden vorgelegt. Da konnte im Bereich der Vermögen eine größere Ungleichheit identifiziert werden als sie im letzten Bericht noch angenommen wurde. Nichtsdestotrotz ist die Datenlage im Bereich der hohen und höchsten Einkommen nach wie vor sehr schlecht. Es fehlt eine Zählung aus einem Bestandsregister, wie dies in Zeiten der Erhebung der Vermögenssteuer noch möglich war. In anderen Ländern gibt es mehr Daten von hohen Einkommen und Vermögen, in Deutschland ist die Berichtspflicht beschränkt.«

Die von Schupp angesprochene Erweiterung der Datenbasis und die darauf gewonnenen Befunde hinsichtlich der „Hocheinkommensbeziehenden“ kann man hier nachlesen:
➔ Carsten Schröder, Charlotte Bartels, Konstantin Göbler, Markus M. Grabka und Johannes König (2020): MillionärInnen unter dem Mikroskop: Datenlücke bei sehr hohen Vermögen geschlossen – Konzentration höher als bisher ausgewiesen, in: DIW Wochenbericht, Nr. 29/2020: »Personen mit Vermögen in Millionenhöhe waren bislang in Bevölkerungsbefragungen kaum vertreten – entsprechend wenig wusste man über sie. Auch blieb das exakte Ausmaß der Vermögenskonzentration unklar. Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) hat nun eine Spezialstichprobe integriert, in der Menschen mit hohen Vermögen stark überrepräsentiert sind, um die bisherige Datenlücke zu schließen. Neue Berechnungen auf dieser Grundlage und unter Hinzunahme öffentlich zugänglicher Reichenlisten ergeben, dass die Konzentration der individuellen Nettovermögen in Deutschland höher ist als bislang ausgewiesen: Die oberen zehn Prozent besitzen demnach gut zwei Drittel des gesamten individuellen Nettovermögens, zuvor war man von knapp 59 Prozent ausgegangen. Das reichste Prozent der Bevölkerung vereint rund 35 (statt knapp 22 Prozent) des Vermögens auf sich. Etwa 1,5 Prozent der Erwachsenen besitzen ein individuelles Nettovermögen von mindestens einer Million Euro. Sie unterscheiden sich nicht nur in der Vermögenshöhe von der übrigen Bevölkerung: Es handelt sich häufiger um Männer, die älter, besser gebildet, selbständig und zufriedener mit ihrem Leben sind. Die Vermögensbildung von Personen aus der unteren Hälfte der Vermögensverteilung könnte beispielsweise in Form von Vermögenskonten gefördert werden, in die auch der Staat einzahlt.«