Pflegeheime: Beginnt jetzt die Verwässerungsphase – oder soll wenigstens etwas gerettet werden bis zur Bundestagswahl? Zur geplanten Entlastung beim Eigenanteil für die Pflegekosten

Anfang Oktober 2020 wurde berichtet, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) plane eine Pflegereform, mit der die Eigenanteile, die von den Pflegebedürftigen gezahlt werden müssen, wenn sie in einem Pflegeheim leben, begrenzt werden sollen, denn bislang steigen und steigen sie und immer öfter wird in der Berichterstattung deutlich herausgestellt, dass das so nicht weitergehen kann bzw. darf. Eine mögliche Lösung wurde vom Minister sogleich in den öffentlichen Raum gestellt: „Mein Vorschlag ist, dass Heimbewohner für die stationäre Pflege künftig für längstens 36 Monate maximal 700 Euro pro Monat zahlen“, sagte Spahn der „Bild am Sonntag“. So begann am 5. Januar 2021 dieser Beitrag: Pflegereform 2021: Klappe, die nächste! Auf dem Weg zu einer deutlichen Entlastung der Pflegebedürftigen und der Sozialhilfeträger? Ein Auftragsgutachten gibt Schützenhilfe und ein anderes will den Steuerzahler beunruhigen. Endlich Licht am Ende eines Tunnels mit kontinuierlich steigenden Eigenanteilen für die Pflegebedürftigen, die in einem Pflegeheim leben. Endlich, so schien es, stieß die seit Jahren geforderte Entlastung der Pflegebedürftigen auf offene Ohren bei den politisch Verantwortlichen. Und es geht hier um richtig große Beträge, die jeden Monat neben dem, was aus der Pflegeversicherung gezahlt wird, auf den Tisch gelegt werden müssen:

Im Durchschnitt über alle Bundesländer mussten Pflegebedürftige insgesamt 2.068 Euro pro Monat an Eigenanteilen aufbringen. Schon auf der Ebene der Bundesländer sehen wir eine starke Streuung, die von 1.465 Euro in Sachsen-Anhalt bis 2.460 Euro in Nordrhein-Westfalen reicht. Von besonderer Bedeutung ist hier die bewusste Verwendung des Plurals, also Eigenanteile, denn die Gesamtsumme setzt sich aus drei Eigenanteilen zusammen. Der „Einrichtungseinheitliche Eigenanteil“ (EEE), derzeit im Schnitt 831 Euro pro Monat, bezieht sich auf die reinen Pflegekosten, die nicht durch den Betrag, der von Seiten der Teilleistungsversicherung Pflegeversicherung gezahlt wird, abgedeckt werden können. Hinzu kommen die zu 100 Prozent von den Bewohner/innen der Heime zu tragenden Aufwendung für „Unterkunft und Verpflegung“ sowie die „Investitionskosten“ (was bedeutet, dass die Pflegeheim-Bewohner alleine die „umgelegten“ Kosten für Umbaumaßnahmen, Modernisierungsarbeiten, Instandhaltung des Pflegeheimbetreibers finanzieren müssen).

Der Hinweis auf „die Eigenanteile“ ist deshalb von Bedeutung, weil die meisten Menschen verständlicherweise „den“ Eigenanteil vor Augen haben, den sie insgesamt zahlen müssen. Und insofern denken sie an den Gesamtbeitrag, wenn sie lesen oder hören, die Politik plant, den Eigenanteil auf beispielsweise 700 Euro zu begrenzen. Nur ist das irreführend, denn die Begrenzung, die der Minister schon im Herbst des vergangenen Jahres in Aussicht gestellt hat, bezieht sich auf einen der drei Eigenanteile – eben den EEE.

Zurück zur anfangs zitierten frohen Botschaft des Ministers: „Mein Vorschlag ist, dass Heimbewohner für die stationäre Pflege künftig für längstens 36 Monate maximal 700 Euro pro Monat zahlen“. Da haben und denken sicher viele, dass sie dann nicht mehr als 700 Euro insgesamt zahlen sollen, was ja eine erhebliche Entlastung wäre, wenn man sich die Gesamteigenbeteiligung anschaut. Die für manchen erste Ernüchterung war dann die Erkenntnis, dass sich die Marke von 700 Euro nur auf die durchschnittlich 831Euro EEE pro Monat beziehen, die beiden anderen Posten, also 779 + 458 Euro = 1.237 Euro, bleiben davon völlig unberührt.

Nun zeigt der Blick auf die Streubreite des Eigenanteils für die reinen Pflegekosten, die nicht über die Pflegeversicherung gedeckt werden (können), bereits auf der Ebene der Bundesländer (und die Streuung ist nochmals größer zwischen den einzelnen Pflegeheimen), dass es derzeit (noch) einige Bundesländer gibt, bei denen dieser Eigenanteil unter den 700 Euro liegt, bei immerhin 7 von 16 Bundesländern ist das der Fall. Bei denen würde überhaupt nichts entlastet werden. Andererseits würde eine pauschale und über alle Heime geltende Begrenzung des EEE auf 700 Euro diejenigen überdurchschnittlich stark „entlasten“, die im oberen Preissegment angesiedelt sind, wo also derzeit hohe EEEs verlangt werden. Man muss das natürlich auch vor dem Hintergrund sehen, dass die Entlastung ja nicht im Weltall verdampft, sondern gegenfinanziert werden muss, also ein anderer „Kostenträger“ muss den Entlastungsbetrag für die Pflegebedürftigen übernehmen. Damit das mal vorstellbar wird, um welche Größenordnung es hier geht: allein drei Milliarden Euro müssten nach Schätzungen der Pflegekassen zur Deckelung der Eigenanteile aufgebracht werden. Hinzu kommen noch die anderen Posten, die man mit der nächsten Reform umsetzen und entsprechend gegenfinanzierten muss – summa summarum sprechen wir über gut 9 Mrd. Euro auf der Basis der bislang nur in Umrissen bekannten Pflegereform aus dem Hause Spahn.

Man kann sich vorstellen, dass da einige mehr als unruhig geworden sind. Und vor diesem Hintergrund überrascht dann diese Meldung auch nicht wirklich: Neuer Reformplan von Spahn: Eigenbeteiligung im Pflegeheim soll schrittweise sinken, so ist der Beitrag von Tim Szent-Ivanyi und Eva Quadbeck überschrieben. Darin finden wir diese Hinweise:

»Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat … sein Konzept zur Entlastung der Pflegeheimbewohner überarbeitet. Künftig soll gelten: Je länger ein Bewohner in einem Pflegeheim lebt, desto geringer ist sein Eigenanteil. Das geht aus dem Gesetzentwurf des Bundesgesundheitsministeriums für die Pflegereform hervor … Danach wird der Eigenanteil bei den Pflegekosten im zweiten Jahr im Heim um 25 Prozent reduziert, im dritten Jahr um 50 Prozent und ab dem vierten Jahr dauerhaft um 75 Prozent.«

Das nun liest sich anders als der erste Aufschlag – eine pauschale Begrenzung des Eigenanteils für die Pflegekosten auf 700 Euro für längstens drei Jahre – aus dem Haus des Bundesgesundheitsministers. Mit der folgenden Abbildung soll eine Visualisierung des bestehenden Zustandes sowie der beiden Reformmodelle versucht werden:

Tim Szent-Ivanyi und Eva Quadbeck fassen den Unterschied so zusammen: »Der Hauptunterschied zu den bisherigen Plänen: Die Pflegeheimbewohner werden im zweiten und dritten Jahr im Heim deutlich stärker entlastet, dafür verbleibt danach aber dauerhaft eine Eigenbeteiligung. Dadurch entfällt auch die in der ersten Reformvariante gemachte Zusage, dass der selbst zu zahlende Anteil auch bei längeren Aufenthalten bei maximal 25.200 Euro gedeckelt ist.« Und in einer Gesamtbetrachtung muss man bilanzieren: Mit dem neuen Vorschlag würde die Entlastung zumin­dest längerfristig deutlich geringer ausfallen, im ersten Jahr würde es gar keine Entlastung geben.

Und das es im ersten Jahr überhaupt keine Entlastung geben würde im neuen Modell, das ist leider nicht umbedeutsam, denn viele Pflegeheimbewohner versterben bereits im ersten Jahr des Aufenthalts im Heim, weil heutzutage der Heimeintritt so lange wie irgendwie möglich hinausgeschoben wird.

Wohlgemerkt – es verbleibt eine Eigenbeteiligung (neben den anderen) für die rein pflegebedingten Kosten, die nach der ursprünglichen Konzeption durch Leistungen aus der Pflegeversicherung finanziert werden sollten (und in den Anfangsjahren der Pflegeversicherung nach 1995 auch finanziert wurden, bis das aufgrund einer mangelhaften Dynamisierung der Leistungsbeträge auseinandergelaufen ist).

Im Konzept aus dem Bundesgesundheitsministerium ist noch eine zweite Entlastung enthalten, die bei einem der anderen Eigenanteile ansetzt: Die Bewohner sollen auch bei den Investitionskosten für Erhalt und Modernisierung der Pflegeeinrichtung entlastet werden – und zwar durch einen Zuschuss von 100 Euro im Monat. Dadurch würde der Eigenanteil für Investitionskosten von bundesdurchschnittlich derzeit 458 auf 358 Euro sinken. Dieser Zuschuss soll nach dem Konzept von den Bundesländern finanziert werden, denn die sind (eigentlich) für die Investitionsfinanzierung zuständig, haben sich aber in den vergangenen Jahren weitgehend daraus zurückgezogen.

Die Mehrausgaben werden in dem Entwurf mit 6,3 Milliarden Euro pro Jahr angegeben. Allein die Begrenzung der Eigenanteile wird dabei mit rund 2,5 Milliarden Euro veranschlagt. Zur Deckung der Kosten soll der Bund einen dauerhaften Steuerzuschuss an die Pflegeversicherung von 5,1 Milliarden Euro zahlen. Die Bundesländer müssen sich mit rund einer Milliarde Euro beteiligen.

Man ahnt schon, was uns in den kommenden Wochen und Monaten auf dieser Baustelle bevorstehen wird.

Aus SPD-Kreisen war zu hören, es handele sich bei dem Papier aus dem Haus des Bundesgesundheitsministers um einen in der Koalition (noch) nicht abgestimmten Arbeitsentwurf.

Nachtrag am 16.03.2021:

Und hier der im Beitrag erwähnte „Arbeitsentwurf“ für ein Pflegereformgesetz, den man auf der Seite „Portal Sozialpolitik“ downloaden kann:

➔ Bundesministerium für Gesundheit (2021): Arbeitsentwurf. Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Pflegeversicherung (Pflegereformgesetz), 12.03.2021