Es gibt Entwicklungen, die schon lange, bevor die Corona-Krise über uns gekommen ist, Thema waren – und die nicht verschwinden werden wie (hoffentlich) die Pandemie. Entwicklungen, die fundamentale Verschiebungen widerspiegeln und die wir nicht wegdiskutieren, sondern im günstigsten Fall gestalten können.
Dazu gehört die aus demografischen Gründen seit längerem beobachtbare massive Verschiebung der Altersstruktur der (sozialversicherungspflichtig) Beschäftigten in unserem Land. Ältere Semester werden sich noch erinnern: In den 1980er Jahren entstanden zahlreiche Initiativen mit unterschiedlichen Angeboten, die etwas gegen die damals grassierende Jugendarbeitslosigkeit machen wollten. Und es gab damals aus den Reihen der geburtenstarken Jahrgänge (Mitte der 1950 bis Mitte der 1960er Jahre) zahlreiche junge Menschen, die auch mit einem Hochschulstudium in der Arbeitslosigkeit landeten oder mit viel Aufwand an den Arbeitsmarkt „angepasst“ werden mussten. Aber die damals Jungen sind inzwischen älter geworden und sie schieben sich als die quantitativ außergewöhnlich große Generation auf der Zeitachse nach rechts:
Und so verändern sich die Angebots-Nachfrage-Relationen auf den Arbeitsmärkten erheblich. Man muss nachvollziehen, dass die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die zahlreichen Frühverrentungsprogramme der 1980er bis in die 1990er Jahre hinein als zwei Seiten einer Medaille auch die Tatsache reflektiert haben, dass sich die Unternehmen bei einer Vielzahl an jüngeren Arbeitnehmern bedienen konnten, weil es genügend von ihnen gab (zugleich konnte man sich durch eine Sozialisierung der „Freisetzungskosten“ günstig von den älteren Arbeitnehmern trennen). Das hat sich zwischenzeitlich – wenn auch nicht für alle Branchen und Unternehmen, so aber doch für viele – grundlegend gewandelt, was man beispielhaft an der seit einigen Jahren anschwellenden Debatte über zunehmende Mismatch-Probleme auf dem „Ausbildungsmarkt“ ablesen kann. Und an der Tatsache, dass die früher zu einer eigenen Normalität gewordene faktische Altersgrenze von 60 Jahren für den Übertritt in den Ruhestand auch aufgrund der zwischenzeitlich vorgenommenen „Rentenreformen“, die im Kern mehrere Rentenkürzungen waren, vorbei ist, denn die meisten Arbeitnehmer können sich vorzeitige Übergänge in die Rente aufgrund der damit verbundenen lebenslangen Abschlägen bei sowieso überschaubaren Altersrenten gar nicht leisten, sie sind gezwungen, so lange wir möglich auf ihren Arbeitsplätzen „durchzuhalten“, um dann später über die Runden kommen zu können. An diesem grundlegenden Trend ändern auch temporäre Ausnahmen wie die sogenannte „Rente mit 63“ (für nur einige wenige Jahrgänge) nichts.
Und auch der Blick auf die scheinbar trockenen Zahlen verdeutlicht, dass das, was hier in Umrissen als ein fundamentaler Wandel auf vielen Arbeitsmärkten skizziert wurde, seinen Niederschlag in den empirisch erfassbaren Ausprägungen des Beschäftigungsalltags gefunden haben. Dazu liegt es nahe, einen Blick zu werfen auf die Entwicklung der Zahl der Älteren, die erwerbstätig sind. Diese Zahlen werden auch gerne von interessierter Seite ins Feld geführt und dann wird man oft mit einer Rekordmeldung nach der anderen konfrontiert. Nun ist an dieser Stelle Vorsicht geboten, denn wenn von „Jobs“ oder „Arbeitsplätzen“ im Kontext der Erwerbstätigkeit die Rede ist, dann muss man berücksichtigen, dass die Erwerbstätigen eine Sammelkategorie für alle Formen der Beschäftigung bzw. der Erwerbsarbeit darstellen, während die meisten Menschen eher an ganz bestimmte Arbeitsverhältnisse denken, wenn sie lesen oder hören, dass noch nie so viele Ältere einen „Job“ hatten wir heutzutage. Denn bei den Erwerbstätigen zählt der Vollzeit arbeitende abhängig beschäftigte Arbeitnehmer genau so viel wie ein in Teilzeit Beschäftigter, aber auch wie ein ausschließlich geringfügig Beschäftigter (450-Euro- oder Minijobber) oder ein Selbstständiger, mithelfender Familienangehöriger oder Beamter.
Auch mit Blick auf die aus einer regulären, das heißt bei uns sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung abgeleiteten Rentenansprüche macht es Sinn, auf diese Gruppe zu schauen. Und unter Berücksichtigung der seit vielen Jahren immer wieder vorgetragenen Argumente, dass die älteren Arbeitnehmer weiterhin keine oder nur geringe Chancen haben auf dem Arbeitsmarkt, dass sie weiterhin aussortiert werden zugunsten der Jüngeren, muss man tatsächlich zur Kenntnis nehmen, dass sich die Zahlen hinsichtlich einer sozialversicherungspflichtig Beschäftigten anders darstellen:
Stefan Thissen hat die neuesten Zahlen in seinem Artikel Erstmals drei Millionen Beschäftigte über 60 Jahren zusammengefasst: »Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten über 60 Jahren ist im Juni 2020 erstmals über die Drei-Millionen-Grenze gestiegen. Nach aktuellen Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) standen zu diesem Zeitpunkt 3,003 Millionen Frauen und Männer dieser Altersgruppe in einem regulären Arbeitsverhältnis – etwa 185.000 Arbeitnehmer mehr als ein Jahr zuvor und etwa 930.000 mehr als im Juni 2015 … Die Arbeitsmarktperspektiven älterer Beschäftigter und ihre Chancen, bis zur Altersgrenze arbeiten zu können, haben sich damit in der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts insgesamt deutlich verbessert.«
Nun wird der eine oder andere erst einmal völlig zu Recht einwerfen, dass der absolute Anstieg der Zahl der 60 Jahre und älteren Arbeitnehmer nicht bedeuten muss, dass sich auch die Beschäftigungsperspektiven für das Kollektiv insgesamt verbessert haben müssen, denn wenn es aus demografischen Gründen schlichtweg große Jahrgänge gibt, die in die Altersgruppe hineinwachsen, dann kann auch ein absoluter Anstieg relativ anders aussehen. Diesen Aspekt kann man überprüfen, wenn man sich die Beschäftigungsquote anschaut, die die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Relation setzt zur Zahl der Menschen in dieser speziellen Altersgruppe insgesamt. Wenn man das macht, dann kann man für die zurückliegenden Jahre diesen Befund zu Tage fördern:
Allein in den Jahren von 2015 bis 2020 ist die Beschäftigungsquote der Menschen im Alter von 60 bis 65 Jahren um 32 Prozent nach oben gegangen.
Nun sollte man allerdings nicht den vorschnellen Schluss ziehen, dass also alles gut geworden ist bei den älteren Arbeitnehmern. Dass also die vielerorts zu hörenden Klagen, welche Probleme „ältere“ Arbeitnehmer (das beginnt in vielen Branchen und Unternehmen heute schon weit vor den 60 Jahren) haben, wenn sie einen neuen Job suchen müssen. Oder wie schwierig es für den Teil der immer mehr werdenden älteren Menschen ist, wenn sie gesundheitliche Probleme haben oder aus welchen Gründen auch immer den Anforderungen heutiger Arbeitsplätze nicht oder nur schwer entsprechen können. Wie immer im Leben und gerade bei Arbeitsmarktfragen gibt es kein Entweder-Oder, kein Schwarz-Weiß, sondern wir müssen eine Gleichzeitigkeit scheinbar widersprüchlicher Entwicklungen zur Kenntnis nehmen, ein Sowohl-als-auch. Das wurde bereits in diesem Beitrag vom 7. Februar 2020 ausführlicher dargestellt: Zur Gleichzeitigkeit von Licht und Schatten auf dem Arbeitsmarkt: Ältere Menschen zwischen steigender Erwerbsbeteiligung und zunehmenden Arbeitslosigkeitsrisiken, bei denen man genauer hinschauen muss. In diesem Beitrag wurde über eine Studie von Kaboth/Brussig (2020) berichtet, die zu folgendem Fazit kam:
»Die vorgestellten Ergebnisse verdeutlichen, dass die Betroffenheit und auch die Dauer von Arbeitslosigkeit unter den Älteren, vor allem im Alter von 60 bis 64 Jahren, zugenommen haben, während die Erwerbsbeteiligung deutlich gestiegen ist. Das Auslaufen zweier Altersrentenarten hat zwar dazu beigetragen, Erwerbsbiographien zu verlängern, allerdings gelingt dies einem zunehmenden Teil Älterer offensichtlich nicht in Erwerbstätigkeit. Vor allem lange Arbeitslosenzeiten im letzten Drittel des Erwerbslebens führen zu einer Entwertung des vorausgegangenen Erwerbsverlaufs und mindern die Ansprüche in der gesetzlichen Alterssicherung.
Die Betroffenheit von Arbeitslosigkeit wird sowohl durch statistische Indikatoren, als auch durch gesetzliche Regelungen verdeckt. Die hohe Anzahl von Personen in den Sonderregelungen für Ältere untermauert einmal mehr, wie hoch das Verbleibsrisiko und wie gering die Chancen einer Wiederbeschäftigung unter den Älteren ausfallen.«
Und es ist nicht nur dieser differenzierte Befund, den wir zur Kenntnis nehmen müssen. Wenn man sicher davon ausgehen kann und muss, dass allein aufgrund der zahlenmäßigen Besetzung der Altersgruppen 60+ aufgrund der geburtenstarken Jahrgänge, die das befüllen (werden) in den vor uns liegenden Jahren, die Zahl der Arbeitnehmer weiter deutlich ansteigen wird (auch durch den sozialrechtlich gesetzten Druck eines steigenden gesetzlichen Renteneintrittsalters), so kann man erkennen, welche fundamentalen Veränderungen in der vor uns liegenden Arbeitswelt erforderlich sind und dringend angegangen werden müssen, denn auch wenn die den bisherigen „Jugendwahn“ vorangetriebenen Defizit-Annahmen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit älterer Menschen seit Jahren weitgehend widerlegt oder zumindest erheblich relativiert worden sind, so muss man doch zur Kenntnis nehmen, dass elementare Aspekte der Gestaltung der Arbeitsplätze verändert werden müssen, wenn das Durchschnittsalter der Belegschaften nicht mehr bei 25 bis 35 Jahren, sondern bei 60 Jahren liegen wird. Und wenn man des Weiteren berücksichtigt, dass es gerade die so bedeutsamen mittleren Qualifikationen sind, also die Facharbeiter und Fachangestellten, die Handwerker, die qualifizierten Pflegekräfte, die stark vertreten sind unter den geburtenstarken Jahrgängen, die eigentlich alle demnächst in den Ruhestand gehen wollen und werden, dann wird leicht erkennbar, dass es uns gelingen muss, in einer nicht kurzen Übergangsperiode durch positive Anreize möglichst viele zu motivieren und überhaupt in die Lage zu versetzen, länger im Erwerbsleben zu verbleiben. Wohlgemerkt, durch positive Anreize und nicht durch eine (weitere) schematische Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters, die im gegebenen System zahlreiche zusätzliche Ungerechtigkeiten gerade für die Arbeitnehmer produzieren würde, die sowieso schon mehrere Risiken für niedrige Altersrenten auf sich vereinigen.