„Nur mit einer guten Pflegepersonalausstattung ist eine sichere und gute Behandlung von Patientinnen und Patienten im Krankenhaus möglich.“ Das schreibt das Bundesgesundheitsministerium auf einer Seite, die den Titel Pflegepersonaluntergrenzen trägt. Der Aussage werden erst einmal alle sicher zustimmen können, wobei wie immer der Teufel im Detail sein Unwesen treibt. Wann ist denn die Personalausstattung in der Pflege eine „gute“? Wenn die Pflegekräfte entspannt arbeiten können? Oder wenn sie im Durchschnitt eine gute Arbeit abliefern könnten? Oder wenn es mindestens eine Mindestbesetzung gibt? Auf den letzteren Ansatz deutet die Überschrift mit den Untergrenzen hin, denn das ist offensichtlich etwas anderes als eine Pflegepersonaloptimalgrenze oder gar eine ideale Ausstattung mit Personal. Nicht ohne Grund erinnert eine Pflegepersonaluntergrenze an den Mindestlohn als Lohnuntergrenze oder an das Existenzminimum, dessen Sicherstellung durch eine Grundsicherung garantiert werden soll.
Eine Unterbesetzung von pflegesensitiven Bereichen im Krankenhaus kann fatale Folgen für Patientinnen und Patienten haben. Darum wurden bestimmte Krankenhausbereiche als „pflegesensitive Bereiche“ festgelegt, in denen Pflegepersonaluntergrenzen gelten, erläutert uns das Ministerium. Um welche Bereiche handelt es sich und wie sehen diese Untergrenzen konkret aus?
»Die Untergrenzen seien rote Linien, unterhalb derer das Patientenwohl in Gefahr sei,« so wurde das Bundesgesundheitsministerium bereits im Jahr 2019 zitiert. Das sollte man sich immer vor Augen führen, wenn auch jetzt erneut und strittig über die Pflegepersonaluntergrenzen diskutiert wird. Denn wie bereits im Vorfeld der für die Jahre 2019 und 2020 anstehenden Entscheidungen über die konkrete Ausgestaltung der Untergrenzen konnten sich die beiden eigentlich für die Festlegung dieser Grenzen zuständigen Akteure, also der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) nicht einigen, so dass das Bundesgesundheitsministerium die Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV) erneut über den Weg einer Ersatzvornahme in Kraft setzen musste.
»Die Weiterentwicklung der Untergrenzen erfolgte per Ersatzvornahme mit der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV). Die Verordnung hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am 9. November 2020 unterzeichnet. Am 13. November 2020 wurde die Verordnung im Bundesgesetzblatt verkündet. Am 14. November 2020 ist die Verordnung in Kraft getreten. Die erweiterten Pflegepersonaluntergrenzen gelten ab dem 1. Februar 2021. Diese Neufassung der PpUGV fußt auf der vorhergehenden Fassung, die am 1. November 2019 in Kraft getreten war. Mit der Ersatzvornahme reagierte das Bundesgesundheitsministerium auf das erneute Scheitern der Verhandlungen zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen zum 31. August 2020 zu diesem Thema.« Und das Bundesgesundheitsministerium zitiert den eigenen Minister mit diesen Worten: „Bereits seit Juli des Jahres 2018 haben die Interessenvertreter von Krankenhäusern und Krankenkassen den Auftrag, Personaluntergrenzen für pflegesensitive Krankenhausbereiche selber festzulegen. Diese Verhandlungen sind in den vergangenen Jahren stets gescheitert. Das Versagen der Selbstverwaltung erfordert unser Handeln zum Schutz sowohl der Patientinnen und Patienten als auch der Pflegekräfte. Daher haben wir die Untergrenzen für pflegesensitive Stationen festgelegt. Denn die Unterbesetzung von z.B. intensivmedizinischen Stationen im Krankenhaus kann fatale Folgen haben.“
Und was sagen die die Vertreter der Krankenkassen und die Krankenhäuser?
„Pflegepersonaluntergrenzen schützen sowohl die Patientinnen und Patienten, als auch die Pflegekräfte. So ist beispielsweise da, wo die Untergrenzen gelten, Schluss damit, dass Pflegekräfte nachts alleine Dienst auf einer großen Station machen müssen. Pflegepersonaluntergrenzen können somit Patientengefährdung vermeiden, sie sind gelebter Patientenschutz. Deshalb ist es so wichtig, dass sie möglichst umfassend gelten. Mit den neuen Untergrenzen für Pflegepersonal ist in ca. 70 Prozent aller bettenführenden Abteilungen eine pflegerische Mindestversorgung vorgeschrieben.“ Mit diesen Worten wird Stefanie Stoff-Ahnis, Vorstand beim GKV-Spitzenverband, in einer Mittelung des Verbandes unter der Überschrift Mehr Patientenschutz durch neue Pflegepersonaluntergrenzen im Krankenhaus – Corona-Ausnahmen bleiben möglich zitiert. »Gerade bei hoher Arbeitsfrequenz im Krankenhaus – wie beispielsweise aktuell während der Corona-Pandemie – zeigt sich, wie notwendig eine angemessene Personaldecke ist. Die Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung ist somit auch ein wichtiges Signal von der Politik, sowohl an die Pflegekräfte als auch an Patientinnen und Patienten.« Und dann wird noch nachgelegt: „Pflegepersonaluntergrenzen sind lediglich die absolute Mindestgrenze, um Patientengefährdung zu vermeiden. In Schulnoten gesprochen eine knappe „4“ – gerade noch versetzt. Unser Ziel ist selbstverständlich eine gute Versorgung, keine schwach ausreichende. Pflegekräfte werden zwar von den Krankenhäusern eingestellt, aber bezahlt werden sie komplett durch die gesetzliche Krankenversicherung. Handeln müssen die Klinikmanager. Das Geld wird von den Krankenkassen zur Verfügung gestellt. Diese Ausrede zählt nicht.“
Aber sind wir nicht in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder konfrontiert worden mit Berichten aus Krankenhäusern, dass dort angesichts der Corona-Pandemie Land unter herrscht? Wie sollen die dann diese Vorgaben einhalten (können)? Dazu der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung mit diesem Hinweis: »Ausnahmen (sind) unter ganz besonderen Bedingungen möglich. Wenn also Krankenhäuser, die Pflegepersonaluntergrenzen-Anforderungen nicht erfüllen können, wie beispielsweise aktuell während der Corona-Pandemie, sind Sanktionen über die Verordnung und auch über unsere Vereinbarungen mit den Selbstverwaltungspartnern ausgeschlossen. Es besteht somit kein Anlass zur Sorge, dass die Pflegepersonaluntergrenzen in der Corona-Pandemie die Krankenhäuser einschränken würden.«
Damit müssten doch auch die Krankenhäuser leben können – oder doch nicht? Schaut man sich die Stellungnahmen der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) an, dann kommt bereits die Überschrift mehr als eindeutig rüber: Pflegepersonaluntergrenzen müssen auch für 2021 in Gänze ausgesetzt werden. Und die beginnt dann so: „Die ab heute geltende massive Ausweitung der Pflegepersonaluntergrenzen auf die Versorgungsbereiche Chirurgie, Innere Medizin und Pädiatrie ist ein absolut unverständliches Signal in die falsche Richtung in diesen Zeiten einer Pandemie. Gerade in diesen Monaten benötigen die Krankenhäuser die maximale Flexibilität beim Personaleinsatz.« Ganz offensichtlich werden die Pflegepersonaluntergrenzen an sich und dann auch noch deren Ausweitung auf weitere Bereiche innerhalb der Krankenhäuser als ein für die Kliniken unmögliches Unterfangen wahrgenommen. Und man kommt auch gleich zur Sache: »Die Methodik der Festlegung führt dazu, dass ein Viertel aller Inneren und Chirurgischen Abteilungen ab 1. Februar 2021 als unterbesetzt gelten muss, egal wie die Besetzung aussieht und wie hoch der Personalbedarf tatsächlich ist. Damit entsteht ein künstlicher zusätzlicher Bedarf von 10.000 Pflegekräften.« Das ist mal eine klare Ansage und vor diesem Hintergrund endet dann die Mitteilung der Vertreter der deutschen Kliniken mit dieser Aufforderung an die Politik: „Die Pflegepersonaluntergrenzen müssen, wie bereits 2020, auch für 2021 in Gänze ausgesetzt werden“, so der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Georg Baum.
Der Blick zurück in die vergangenen Jahren bleibt hoch aktuell
Über die Entwicklung und Einführung von Pflegepersonaluntergrenzen wurde hier in den vergangenen Jahren mehrfach berichtet – und leider hat sich in den dort vorgenommenen Diagnosen offensichtlich nichts grundsätzlich geändert:
»Die wirklich erschreckende Botschaft aus der aktuellen Diskussion über die Pflegepersonaluntergrenzen lautet: Wir leben in einem gefährlichen Mangelland. Und der Mangel spitzt sich allerorten zu. Gleichzeitig sind wir auf einer schiefen Ebene der Reduktion des Erforderlichen auf das absolut Mindeste – und auch das soll noch differenziert, also „flexibel“ ausgelegt werden können. Was als unterste Schutzgrenze gedacht war, entpuppt sich für einen nicht kleinen Teil der Kliniken als eine nicht-realisierbare Herausforderung. Es ist keine Entschuldigung – aber wir ernten jetzt an vielen Stellen die Folgen jahrelanger Einsparungen und Kürzungen und Arbeitsverdichtungen und sonstiger betriebswirtschaftlich motivierter „Optimierungen“. Die wurden soweit getrieben, dass … Untergrenzen als nicht erreichbare Obergrenzen erscheinen.« So ein Fazit in dem Beitrag Wenn eine als untere Schutzgrenze konzipierte Personalvorgabe zur problematischen und in der Praxis von zahlreichen Kliniken nicht erreichbaren Obergrenze mutiert: Anmerkungen zu den Pflegepersonaluntergrenzen, der hier am 14. September 2019 veröffentlicht wurde.
Und auch die den einen oder anderen irritierende Beobachtung, dass das Ministerium mit Hilfe einer Ersatzvornahme eine wiederholte Nicht-Einigung derjenigen, die eigentlich für die Festlegung der Untergrenzen zuständig sind, „heilen“ muss, wurde hier frühzeitig als ein systembedingtes Dilemma aufgerufen:
»Man muss sich das unauflösbare Dilemma an dieser Stelle verdeutlichen: Der Gesetzgeber beauftragt ausschließlich die Kostenträger (= Krankenversicherungen) sowie die Leistungserbringer (= Krankenhäuser) mit der Ausarbeitung von Personaluntergrenzen in der Pflege. Man muss keine längeren Überlegungen anstellen, dass es hier eine Menge Interessenkonflikte geben muss, denn die Kostenträger haben vor Augen, dass sie eventuelle Mehrkosten finanzieren müssen und die Krankenhausträger stehen vor dem Problem, dass solche Untergrenzen bei Nicht-Einhaltung dazu führen können bzw. werden, dass sie beispielsweise mit Belegungs- und Aufnahmestopps und den damit verbundenen Einnahmeverlusten konfrontiert sein könnten. Wer von den beiden soll ein Interesse daran haben, kosten- bzw. erlösrelevante Verbesserungen bei der Personalausstattung auf die Gleise zu setzen?« So der Beitrag Wenn das aus der Systemlogik definierte Unterste am Ende zum Obersten wird, sollte man sich nicht wundern. Zur Ambivalenz der geplanten Personaluntergrenzen in der Krankenhauspflege vom 3. Juni 2018.
Und bereits 2018 wurden drei hoch problematische Punkte angesprochen: 1.) Ein zu niedriges Niveau der Untergrenzen und fehlende Evidenz, 2.) eine Sogwirkung der Pflegepersonaluntergrenzen (nach unten) und 3.) eine mangelhafte Durchsetzung der Untergrenzen und Kontrolle von Verlagerungseffekten innerhalb der Krankenhäuser.
Man muss auch in diesen Tagen an den grundsätzlichen Charakter von Personaluntergrenzen erinnern: Mit solchen Werten wird eben nur das Mindeste normiert, gleichsam die Vermeidung einer Patientengefährdung, nicht aber eine bedarfsgerechte Versorgung.
Und selbst die überaus umstrittenen Untergrenzen der Personalausstattung, die man nicht unterschreiten sollte (weil, um das hier nochmals in Erinnerung zu bringen, dann die Patienten gefährdet werden können aufgrund der zu geringen Personalausstattung), wird seitens der Krankenhaus-Vertreter als eine vielerorts manifeste Überforderung dargestellt. Allein das spricht ja schon Bände. Hier sind wir angekommen im Zentrum des eigentlichen Skandals: Offensichtlich werden Untergrenzen, die als unterste Haltelinie gegen eine eine ansonsten erwartbare Gefährdung des Patientenwohls definiert werden, nicht nur als „unrealistisch hohe“ Vorgaben wahrgenommen, sondern – siehe das Beispiel mit den Intensivstationen – sie entpuppen sich in der Versorgungsrealität sogar als Obergrenzen, die von mehr als einem Drittel der Kliniken zumindest temporär schlichtweg nicht eingehalten werden können, so dass man sich in der wirklichen Wirklichkeit in der Welt der nicht-vertretbaren Sub-Untergrenzen befindet. Hier wird über das Unterste gestritten, das aber offensichtlich noch eine Kelleretage kennt. Das muss man erst einmal zur Kenntnis nehmen.