„Raise the Wage Act of 2021“: Und am Ende gibt es 15 Dollar Mindestlohn für alle in den USA. Wenn das Gesetz endlich verabschiedet wird

Möglicherweise kann demnächst eine im wahrsten Sinne des Wortes Bewegung von unten in den USA einen großen Erfolg feiern – die von ihr geforderte Zahl, die sie in ihrem Namen trägt, soll per Gesetz Wirklichkeit werden, nicht nur für einige und an einigen Orten, sondern für alle Arbeitnehmer im US-amerikanischen Niedriglohnsektor: Einen Mindestlohn von 15 US-Dollar pro Stunde soll es nach einer mehrstufigen Anhebung ab dem Jahr 2025 für jeden Arbeitnehmer mindestens geben. Davon wären Millionen Beschäftigte betroffen. Aber der Reihe nach:

»Als im November 2012 rund hundert Beschäftigte von McDonald’s, KFC und Burger King in New York eine Schicht lang streikten, stieß ihre Forderung auf ungläubiges Staunen: ein Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde? Keine Chance, erklärten selbst wohlmeinende Beobachter. Schließlich war der gesetzliche Niedrigstlohn in der Stadt, die nie schläft, damals mit 7,25 Dollar nicht einmal halb so hoch«, so Ines Zöttl in ihrem am 5. Januar 2019 erschienenen Artikel Warum McDonald’s und Amazon plötzlich 15 Dollar pro Stunde zahlen. Sechs Jahre nach dem Streik der Burger-Brater »hat die Bewegung „Fight for $15“ ihr Ziel erreicht: Seit 1. Januar müssen die Fast-Food-Ketten der Stadt ihren Mitarbeitern mindestens 15 Dollar pro Stunde zahlen, und auch die rund 25.000 Flughafenarbeiter profitieren von der Regelung.« Und New York blieb keine Insel – in 19 Bundesstaaten und 21 Städten wurden zum Jahresanfang 2019 die Mindestverdienstgrenzen erhöht.

Und für das Jahr darauf konnte dann diese Steigerung vermeldet werden: »On January 1, 2020 … the minimum wage will increase in 21 states and 26 cities and counties. In 17 of those jurisdictions, the minimum wage will reach or surpass $15 per hour. Later in 2020, four more states and 23 additional localities will also raise their minimum wages—15 of them to $15 or more. This is the greatest number of states and localities ever to raise their wage floors«, so im Dezember 2019 Yannet Lathrop vom National Employment Law Project in ihrer Bestandsaufnahme unter der Überschrift Raises From Coast to Coast in 2020: Minimum Wage Will Increase in Record-High 47 States, Cities, and Counties This January.

Ines Zöttl bilanzierte Anfang 2019: »In Amerika herrscht nun ein bunter Flickenteppich an Regeln. Denn die Vorgabe des US-Kongresses, der den Mindestlohn 2009 auf 7,25 Dollar festgelegt und seitdem nicht erhöht hat, darf von den Bundesstaaten zwar nicht unter-, aber doch überschritten werden. Und so müssen Unternehmer in Alabama ihrer Belegschaft weiterhin nur 7,25 Dollar zahlen, während es in South Dakota 9,10 Dollar und im Bundesstaat Washington 12 Dollar sind. Die dortige Stadt Seattle, Sitz von Amazon und Starbucks, schreibt sogar ein gesetzliches Minimum von 15 Dollar beziehungsweise 16 Dollar für größere Unternehmen vor.«

Wie konnte sich aus der Arbeitsniederlegung einer Gruppe von Burger-Bratern so eine Bewegung formieren, die nun kurz davon steht, ihre Hauptforderung, einen staatlichen Mindestlohn in der genauen USA von 15 Dollar durchzusetzen, durch den „Raise the Wage Act“ Wirklichkeit werden zu lassen? Ines Zöttl hat diesen Antwortversuch geliefert: »Den Durchbruch hat „Fight for $15“ mit einer geschickten Kampagne geschafft, die lautstarken Graswurzel-Aktivismus mit umtriebiger politischer Lobbyarbeit kombiniert. Dahinter steht vor allem die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU.« In mehreren Bundesstaaten haben die Aktivisten und ihre Lobbyisten Volksabstimmungen über höhere Mindestlöhne initiiert und gewonnen, selbst in Bundesstaaten, die ansonsten fest in republikanischer Hand sind.

Der langjährige Kampf der Bewegung für einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 15 Dollar wurde auch hier immer wieder begleitet, so der Beitrag Der Mindestlohn auf dem Schlachtfeld der gesellschaftspolitischen Debatte. Nein, nicht in Deutschland. Der Blick richtet sich auf die USA. Und auf eine Zahl: 15, der bereits am 12. April 2015 veröffentlicht wurde, sowie am 14. Juli 2019: Ein gesetzlicher Mindestlohn von mehr als 13 Euro? Dazu ein Blick in die USA: „Fight for $15“ und neue Befunde aus der US-amerikanischen Mindestlohnforschung.

Nun steht der langjährige Kampf für die 15 kurz vor dem Ziel: Der „Raise the Wage Act of 2021“

Das Gesetz, um das es in den kommenden Wochen konkret geht, also der „Raise the Wage Act“, hätte eigentlich schon längst in Kraft sein müssen, wenn man an solchen Meldungen denkt: Anhebung auf 15 Dollar: US-Parlament stimmt für höheren Mindestlohn, so beispielsweise Moritz Wichmann bereits am 17. Juli 2019: Das US-Repräsentantenhaus hat mit 231 zu 199 Stimmen – darunter auch drei Republikaner – den »Raise The Wage Act« verabschiedet. Und auch das war schon der zweite Versuch gewesen: »Initiator Bobby Scott hatte schon 2015 erfolglos eine ähnliche aber weniger ambitionierte Variante des Gesetzes eingebracht.«

➔ Vor dem Hintergrund der langjährigen Debatte in Deutschland vor der Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Januar 2015 in Höhe von damals 8,50 Euro pro Stunde und der bis heute von interessierte Seite immer wieder vorgetragenen Bedenken bzw. Ablehnung eines für alle geltenden Mindestlohns aufgrund angeblich zu befürchtender negativer Beschäftigungseffekte ist es interessant, dass auch in den USA entsprechende Parallelen zu beobachten waren (mit Blick auf Deutschland muss man wissen: Der staatliche Mindestlohn wurde in den USA bereits im Zuge der New-Deal-Gesetzgebung 1938 imit dem „Fair Labor Standards Act (FLSA)“ eingeführt, neben der 40-Stunden Woche und der Begrenzung der Überstunden). Dazu Wichmann 2019: Vor allem »Abgeordnete vom eher moderaten und konservativen Flügel der Demokraten sowie solche aus eher ärmeren ländlichen Wahlkreisen (hatten sich) gegen das Projekt ausgesprochen. Die Demokratin Terri Sewell aus Alabama etwa hatte befürchtet, dass abseits der großen Metropolen und Wirtschafts- und Wirtschaftswachstumszentren des Landes, in denen die Lebenshaltungskosten auch geringer sind, lokale Unternehmen keinen höheren Mindestlohn zahlen könnten. Sie hatte deswegen einen alternativen Gesetzesentwurf eingebracht, der statt einer landesweit gleichen Lohnuntergrenze lokal angepasste Mindestlöhne erlauben würde. Nun aber will sie doch für den Raise Wage Act stimmen. Ein Zusatz zum Gesetz nachdem mögliche Jobverluste im Zuge einer Evaluation einige Jahre nach Einführung der Erhöhung untersucht werden sollen, um wenn nötig »Anpassungen« vorzunehmen, hat die moderaten Demokraten offenbar überzeugt. Ein Änderungsantrag moderater Demokraten, der vorsah das der Mindestlohn nicht für Unternehmen mit weniger als 10 Beschäftigten oder weniger als einer Million Dollar Umsatz gelten sollte, wurde … abgelehnt.«

Aber offensichtlich ist es dann doch nicht dazu gekommen, dass dieses Gesetz die parlamentarischen Hallen mit Rechtskraft versehen verlassen konnte. Man ahnt es schon: Der von den Republikanern beherrschte Senat hat das Anliegen ausgebremst.

Jetzt aber soll es klappen mit dem nächsten Anlauf. Es wäre ein wichtiges Element am Beginn der Biden/Harris-Präsidentschaft.

Was genau beinhaltet der Raise the Wage Act des Jahres 2021? Es handelt sich um diese Komponenten:

➔ Der gesetzliche Mindestlohn soll schrittweise von derzeit $7,25 auf $15 im Jahr 2025 angehoben werden.

➔ In den Jahren danach soll es eine automatische und regelgebundene Anpassung des Mindestlohns geben, die an das Wachstum des Median-Lohns in den USA gekoppelt wird, so dass es nicht wie in der Vergangenheit zu einer erheblichen Realwert-Erosion aufgrund einer Nicht-Dynamisierung der Lohnhöhe kommen kann.

➔ Abschaffung von Sonderregelungen I: Der „Tipped Wage“ soll nach einer Übergangszeit am Ende als Sub-Mindestlohn verschwinden. Dazu muss man wissen: Seit 1996 für gilt für Kellner und alle anderen Arbeitnehmer, die Trinkgelder erhalten, nur ein Mindestlohn von $2,13 pro Stunde – ein Betrag, der übrigens eingefroren ist. Beschäftigte mit Trinkgeldern würden mit dem freiwilligen Extrageld der „Tips“ den Mindestlohn erreichen, so die ursprüngliche Argumentation für die Absenkung der eigentlichen Lohnuntergrenze Mindestlohn.1)

➔ Abschaffung von Sonderregelungen II: Der zweite – allerdings kaum genutzte, weil äußerst unattraktive – Sub-Mindestlohn in den USA ist der „Youth Wage“ von derzeit $4,25. Auch der soll auslaufen, so dass auch die Jugendlichen einen gesetzlichen Anspruch auf den allgemeinen Mindestlohn hätten.

➔ Abschaffung von Sonderregelungen III: Überhaupt keine Lohnuntergrenze, auch keine abgesenkte, gibt es für Menschen mit Behinderungen – der sogenannte „14(c) Wage“. An 2021 solle hier erstmals überhaupt eine Mindestlohnregelung geben ($5), die dann bis 2026 mit dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von $15 verschmolzen werden soll.

1) Vgl. zum „Tipped Wage“ ausführlicher den Beitrag Twenty-Three Years and Still Waiting for Change. Why It’s Time to Give Tipped Workers the Regular Minimum Wage von Sylvia Allegretto and David Cooper aus dem Jahr 2014. Sie weisen darauf hin, dass wir es hier mit einem in den USA stark wachsenden Beschäftigungssektor zu tun haben: »Tipped workers -whose wages typically fall in the bottom quartile of all U.S. wage earners, even after accounting for tips – are a growing portion of the U.S. workforce. Employment in the full-service restaurant industry has grown over 85 percent since 1990, while overall private-sector employment grew by only 24 percent.« Etwa 70 Prozent der betroffenen Arbeitskräfte sind Frauen. Sie heben hervor, dass dieser Sub-Mindestlohn anders als der für Jugendliche oder Menschen in Ausbildung keine temporäre, sondern ein dauerhaft unter dem normalen Mindestlohn angesiedelte Lohnuntergrenze darstellt. Letztendlich handelt es sich um eine Lohnsubvention für die Arbeitgeber: »The creation of the tip credit—the difference, paid for by customers’ tips, between the regular minimum wage and the sub-wage for tipped workers—fundamentally changed the practice of tipping. Whereas tips had once been simply a token of gratitude from the served to the server, they became, at least in part, a subsidy from consumers to the employers of tipped workers. In other words, part of the employer wage bill is now paid by customers via their tips.«

Die folgende Abbildung verdeutlicht die Anhebung und die Vereinheitlichung der Mindestlohnbeträge (bezogen auf den federal minimum wage), sollte das „Raise the Wage“-Act durchkommen:

Warum diese Gesetzgebung für Millionen Arbeitnehmer und ihre Familien in den Vereinigten Staaten so bedeutsam ist

Der Raise the Wage Act of 2021 würde

➔ durch die schrittweise Anhebung des Mindestlohns auf Bundesebene zu einer Lohnerhöhung bei fast 32 Millionen Arbeitnehmern führen, das sind 21 Prozent aller Beschäftigten in den USA.

➔ Das Ausmaß der Besserstellung durch die Anhebung kann man daran erkennen, dass die ganzjährig und in Vollzeit Beschäftigten aus den Fast-Food- und anderen Niedriglohnbranchen, die heute im Jahr $25.000 Dollar oder weniger verdienen, durch die Anhebung pro Jahr zusätzlich $3.300 Dollar in der Haushaltskasse hätten, auf die sie dringend angewiesen sind.

59 Prozent der Arbeitnehmer, deren Familieneinkommen unterhalb der offiziellen Armutsgrenze liegen, würden durch die Anhebung des Mindestlohns auf Bundesebene eine Lohnerhöhung bekommen.

➔ Fast ein Drittel (31%) der Afro-Amerikaner und ein Viertel (26%) der Latinos würden von einer Lohnerhöhung profitieren, wenn der Bundes-Mindestlohn angehoben wird. Fast ein Viertel (23%) derjenigen, die aus diesen beiden Gruppen profitieren würden, sind Frauen. 10 bis 15 Prozent weniger Lohn als weiße Arbeitnehmer mit den gleichen Merkmalen bekommen Afro-Amerikaner und Latinos im Niedriglohnsektor.

➔ Ein Mindestlohn von $15 in 2025 würde 107 Mrd. Dollar an höheren Löhnen generieren, so dass es aufgrund der sehr hohen Konsumquote der unterbezahlten Niedriglohnbeschäftigten zu einem positiven gesamtwirtschaftlichen Stimulus kommen würde.

Zu den Zahlen sowie weiterführende Aspekte vgl. Economic Policy Institute (2021): Why the U.S. needs a $15 minimum wage. How the Raise the Wage Act would benefit U.S. workers and their families. Fact Sheet, 26.01.2021.

Man kann nur hoffen, dass es diesmal gelingt, die Gesetzgebung durch beide Häuser des Kongresses, also dem Repräsentantenhaus wie auch dem Senat, zu bekommen. In Deutschland kann man sich angesichts des hier vorhandenen, sicher an vielen Stellen zu kritisierenden, aber dennoch im Vergleich zu den USA auf einem deutlich höheren Niveau angesiedelten sozialen Sicherungssystems nur in Umrissen vorstellen, welche Bedeutung die geplante Anhebung der Lohnuntergrenze und deren Gültigkeit für alle Arbeitnehmer in den Vereinigten Staaten für Millionen Familien hat. Oder haben wird. Wie gesagt: Hoffentlich klappt es diesmal.