Über die fatale Verselbstständigung der Forderung nach einer Impfpflicht für die Pflegekräfte: Falscher Zeitpunkt, falsche Zielgruppe, offensichtliches Ablenkungsmanöver

Man lernt das wohl in den vielen völlig überbezahlten Kursen für Führungskräfte und Politiker: Wenn Du keine ordentlichen Arbeitsergebnisse abgeliefert hast und in den Fokus der Kritik kommst, dann mach eine andere Baustelle auf, am besten eine, auf der sich das Publikum so richtig austoben kann (nur nicht auf Deine Kosten und mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass Du selbst wieder aus dem Scheinwerferlicht treten kannst).

In diesen Tagen werden wir erneut Zeugen einer solchen Konstellation: In meinem Beitrag Sichtbare und unsichtbare Hochrisikogruppen der Corona-Pandemie? Eine große offene Frage mit Blick auf die vielen Pflegebedürftigen, die nicht im Heim sind vom 11. Januar 2021 wurde am Anfang auf die „Phantom-Diskussion“ über die angebliche Notwendigkeit einer Impflicht für das Pflegepersonal (explizit die Pflegekräfte waren und sind Gegenstand dieser Diskussion) hingewiesen und bilanziert: Eine »solche Debatte zu einem Zeitpunkt, in dem für die vielen, die sich lieber heute als morgen oder gar am Ende des gerade begonnen Jahres impfen lassen würden, das zeigt die „nervöse Überspanntheit“, die man diese Tage beobachten muss.«

Man sollte meinen, die Ministerpräsidenten der Bundesländer hätten genug damit zu tun, auf den Baustellen, für die sie verantwortlich zeichnen, endlich einen Fortschritt zu produzieren, beispielsweise im Bereich der Schulen und der Kitas. Vor allem in den Schulen haben wir von totalem Chaos bis hin zu einem einfach nur lobenswerten Engagement des Lehrkörpers alle Facetten des (Nicht-)Handelns. Und nun sehen sich viele der Föderalfürsten konfrontiert mit Vorwürfen, dass die Impfzentren nicht so funktionieren, wie sich das wohl viele naive Bürger vorgestellt haben. Nicht nur wegen des derzeit fehlenden bzw. in zu geringen Mengen verfügbaren Impfstoffs (wofür die Bundesländer am wenigsten können). Die Bundesländerchefs müssen sich auch erklären, was es denn mit diesen teilweise nur noch als skurril, mindestens aber als eigensinnig komplex zu bezeichnenden Verhaltenserwartungen an die eigene Bevölkerung auf sich hat, die dann in länderspezifisch unterschiedliche Regelungen gegossen werden, was eine differenzierte und anspruchsvolle Analyse der Inhalte voraussetzt, an der bereits überdurchschnittlich begabte Zeitgenossen durchaus verzweifeln.

Also macht man vor diesem Hintergrund eine neue Baustelle auf, die passungsfähig ist zu den vielen Berichten in den Medien über den Impfstart in den Pflegeheimen. Denn da leben die durch die Berichterstattung sichtbaren bzw. in der Wahrnehmung vieler Bürger präsenten Hochrisikogruppen (während die „Unsichtbaren“, also die vielen und mit 80 Prozent übrigens die große Mehrheit stellende Gruppe der zu Hause versorgten alten Menschen überhaupt nicht wirklich auftauchen in den aktuellen Diskussionen und auch nicht in den tatsächlichen Impfaktivitäten, sondern die man verweist auf eine telefonische Hotline, die permanent überlastet ist und/oder auf ein internetbasierte Buchungssystem, das für einen Teil der Betroffenen wenn überhaupt, dann nur mit Hilfe der Enkelkinder bezwungen werden kann).

Und auf einmal, nur wenige Tage nach dem mehr als holprigen Start der Impfungen, wird eine „Impfzurückhaltung“ oder gar eine „Impfverweigerung“ bei Pflegekräften (vor allem in den Altenheimen) in den medialen Raum gestellt, der sogleich vollläuft mit entsprechenden Berichten, ohne dass man zum jetzigen Zeitpunkt wirklich repräsentative Daten hat, so dass man die naheliegende Frage, ob das nicht nur Einzelfälle sind, sondern tatsächlich einen flächendeckenden Trend darstellt, schlichtweg seriös nicht beantworten kann. Und selbst wenn zu einem bestimmten Stichtag am Anfang der Impfungen ein hoher Anteil an Impfgegnern unter dem Pflegepersonal und anderen Beschäftigtengruppen zu verzeichnen wäre, bedeutet diese Momentaufnahme bei weitem nicht, dass sich die Impfbereitschaft in den kommenden Wochen und Monaten nicht deutlich nach oben bewegt, wenn es ausreichend positive Vorbilder geben wird und/oder eine Aufklärungskampagne mit guten Argumenten, so es die denn gibt, die Menschen vom Sinn einer Impfung überzeugen.

In den vergangenen Tagen ist nun eine nett formuliert verstörende Debatte angelaufen, die von der FAZ unter der mehr als einseitigen, weil derzeit überhaupt nicht belegbaren Überschrift Warum lehnen so viele Pfleger die Corona-Impfung ab? in den politischen Raum getragen wurde: »In manchen Pflegeheimen lässt sich nur jeder dritte Mitarbeiter impfen. In anderen Einrichtungen sind die Zahlen besser, doch es regt sich Unmut. Ein führender Gesundheitspolitiker droht schon mit einer Impfpflicht.« Und wer ist dieser „führende Gesundheitspolitiker“? Es handelt sich um Erwin Rüddel, den Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages. Und der lässt sich zu solchen Ausführungen hinreißen: »Was das Impfen angeht, würden viele Pfleger ihren „selbst gesteckten Ansprüchen nicht immer gerecht“ … Indirekt droht Rüddel sogar mit einer Corona-Impfpflicht für medizinisches Personal. Er sagte: „Ich hoffe, dass wir durch Verantwortungsbewusstsein in der Pflege an einer Situation vorbeikommen, in der die Maßnahmen für jene, die Verantwortung für andere übernehmen, verpflichtender werden könnten.“«

Da wollen einige andere Politiker offensichtlich gleich Nägel mit Köpfen machen. Beispielsweise der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Der wird von der BILD-Zeitung so verarbeitet:

Abb.: Screenshot aus der Online-Ausgabe der BILD vom 12.01.2021

Die BILD-Zeitung bezieht sich in ihrem Beitrag Söder will Impfpflicht für Pflegekräfte auf diesen Artikel aus der Süddeutschen Zeitung: Söder sieht Impfen als Bürgerpflicht: »Der bayerische Ministerpräsident beklagt eine zu große Skepsis von Pflegekräften den neuen Vakzinen gegenüber – und will eine Impfpflicht für diese prüfen.« Dort wird weiter ausgeführt: »Söder sagte …, leider gebe es „unter Pflegekräften in Alten- und Pflegeheimen eine zu hohe Impfverweigerung“. Es wäre deshalb „gut, wenn der deutsche Ethikrat Vorschläge machen würde, ob und für welche Gruppen eine Impfpflicht denkbar wäre“. Gerade in den Pflegeheimen gehe „es schließlich um Leben und Tod.“«

Auch das ist ein bekanntes und erprobtes Mittel professioneller Politik – man fordert faktisch etwas, verweist aber zugleich zur Legitimation auf ein für die Außenstehenden unabhängiges Gremium – in diesem Fall den Deutschen Ethikrat -, um dadurch die Verantwortung sogleich zu verlagern.

Aber Söder adressiert explizit die Pflegekräfte, die (scheinbar) nicht so funktionieren, wie man das von ihnen erwartet – und beruhigt zum anderen die vielen Menschen, die nicht zu der Gruppe der Pflegekräfte gehören: Im ZDF betonte Söder aber: „Eine allgemeine Impfpflicht wird und soll es nicht geben“, berichtet die BILD-Zeitung in ihrem Artikel. Damit die vielen anderen Menschen jetzt nicht in Sorge verfallen. Aber die Pflegekräfte – interessanterweise tauchen die Ärzte und andere Gesundheitsberufe überhaupt nicht auf in dieser „Phantom-Debatte“ – sollen gefälligst den Vorgaben des Staates folgen, sich zur Aufrechterhaltung ihrer Funktionsfähigkeit dem Impfen zu unterwerfen.

Und Söder bekommt Schützenhilfe, so vom Vorsitzenden des Weltärztebundes, Frank-Ulrich Montgomery. Der sieht Gründe für eine Pflicht. „Wer Umgang mit vulnerablen Gruppen hat, muss immunisiert sein. Für Pflegekräfte und medizinisches Personal ist eine berufsspezifische Impfpflicht gegen Corona sinnvoll.“

Und scheinbar werden solche Positionen auch durch Meldungen wie diese bestätigt: In vielen Berliner Pflegeheimen will sich nur jede zweite Kraft impfen lassen, so ist beispielsweise ein Beitrag von Ingo Bach überschrieben. Die Botschaft scheint klar, aber dennoch sollte man wie immer einen genaueren Blick in den Beitrag werfen: Die Zeitung hat ein Umfrage unter großen und kleinen Pflegeheimträgern, die in Berlin rund 60 Heime betreiben, durchgeführt. »Demnach liegt die Impfbereitschaft der Mitarbeitenden in vielen Einrichtungen gerade einmal zwischen 50 und 80 Prozent, teilweise sogar nur bei 40 Prozent … In den 16 Häusern der Vivantes Hauptstadtpflege sind es nur 50 bis 80 Prozent der Pflegekräfte, die sich ihre Spritze holen wollen.« Was heißt denn hier „nur“? »Vorerkrankungen sowie aktuell noch bestehende Unsicherheiten über den Impfstoff oder das Prozedere in den Impfzentren« werden seitens Vivantes als (mögliche) Gründe für eine Ablehnung der Impfung vorgetragen … Die Ursachen dafür sind oft Unwissenheit und Unsicherheit über Nebenwirkungen der Impfstoffe.«

Kann man derzeit den Menschen ernsthaft einen Vorwurf machen, dass sie „unwissend“ und „unsicher“ über die Impfstoffe sind?

Dass der bayerische Ministerpräsident Söder die Frage einer auf die Pflegekräfte beschränkten (?) Impflicht an den Deutschen Ethikrat delegieren will, muss wohl auch im Zusammenhang mit solchen Meldungen gesehen werden: »Zuvor hatte sich der Medizinethiker Wolfgang Henn, der Mitglied im Deutschen Ethikrat ist, … gegen eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. Allerdings sei eine berufsbezogene Impfpflicht denkbar, sagte Henn. Dies könne etwa Pflegeberufe betreffen.« (Impfpflicht für bestimmte Gruppen?). Dieser Vorstoß ist auf deutliche Kritik gestoßen, auch innerhalb der Bundesregierung, wie man diesem Artikel entnehmen kann: Kritik an Söders Impfpflicht-Idee: »Bundesarbeitsminister Hubertus Heil ist strikt dagegen: „Im Moment über eine Impfpflicht zu spekulieren, verbietet sich“ … Er halte den in Deutschland eingeschlagenen Weg für richtig, auf eine zwangsweise Impfdurchsetzung zu verzichten.« Wie immer muss man zwischen den Zeilen lesen, der Minister spricht davon, dass sich eine Impfpflicht „im Moment“ verbiete. So auch eine andere Stellungnahme: »Ähnlich äußerte sich der Deutsche Städtetag: Er verstehe, dass man auf die Idee komme, sagt Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy im SWR. Gerade in Pflegeheimen gebe es eine ausgeprägte Impfzurückhaltung. Teilweise seien dort nur 30 Prozent der Beschäftigten bereit, sich impfen zu lassen. Dennoch komme der Gedanke zur falschen Zeit. „Wir haben noch nicht alles ausgereizt, was Überzeugungsarbeit angeht. Und jetzt zu sagen, wir können euch nicht überzeugen, also zwingen wir euch, das kommt mir etwas zu früh. Ich fürchte, dass die Geschichte auch nach hinten losgehen kann.“« Das ist natürlich keine grundsätzliche Zurückweisung der Idee einer Impfpflicht, sondern eher der Hinweis, dass jetzt der falsche Zeitpunkt sei für eine solche Maßnahme.

»„Eine Impfpflicht für beruflich Pflegende lehnen wir ab. Momentan können sich nicht einmal all die beruflich Pflegenden impfen lassen, die dies dringend wünschen. Hier wird außerdem gerade ein Generalverdacht gegenüber den Pflegefachpersonen aufgebaut, der ungerecht und kontraproduktiv ist. Ausgerechnet diejenigen anzugehen, die seit fast einem Jahr an und über der Belastungsgrenze arbeiten, ist unsäglich. Außerdem liegen keine belastbaren Zahlen dazu vor, wie hoch die Impfbereitschaft tatsächlich ist und aus welchen Gründen einige der Pflegenden der Impfung skeptisch gegenüberstehen. Sowohl die beruflich Pflegenden als auch die Menschen mit Pflegebedarf werden durch eine solche Debatte unnötig verunsichert«, so die Präsidentin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK), Christel Bienstein. Die Mitteilung des DBfK wurde unter dieser Überschrift veröffentlicht: Keine Impfpflicht für beruflich Pflegende. Es bleibt aber nicht nur bei der Kritik an der aktuellen Debatte:

»Stattdessen sollte man gezielt Fragen und Unsicherheiten auflösen und damit die Impfbereitschaft deutlich erhöhen sowie belastbare Daten erheben, anhand derer man die tatsächliche Impfbereitschaft einschätzen kann. Gute Informationen für die unterschiedlichen Zielgruppen und eine Aufklärungskampagne sind aus unserer Sicht die Mittel, mit denen die Impfbereitschaft in der gesamten Bevölkerung erhöht wird. Zudem ist die Impfung für die Pflegenden bundesweit vor Ort an deren Arbeitsstelle zu organisieren.
Wir empfehlen den beruflich Pflegenden die Impfung, da sie besonders gefährdet sind und sich mit der Impfung am besten schützen können. Die Impfung muss aber freiwillig bleiben.“«

Auch die Gewerkschaft ver.di hat sich zu Wort gemeldet: ver.di ruft Beschäftigte im Gesundheitswesen zur Impfung gegen die Covid-19-Erkrankung auf – Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen abgelehnt: „Nach Abwägung aller Chancen und Risiken ist es schon aus Gründen des Selbstschutzes und des Schutzes der Angehörigen angeraten, sich impfen zu lassen, sofern nicht ernste gesundheitliche Gründe dagegen sprechen“, wird der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke zitiert. „Die Impfung muss freiwillig sein; eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen darf es nicht geben.“ Die Betroffenen, beispielsweise Pflegepersonen sowie Ärztinnen und Ärzte, müssten selbst entscheiden, ob sie sich impfen lassen wollten.

Und auch hier: „Die Debatte um eine Impflicht ist kontraproduktiv für die gesellschaftliche Akzeptanz der Impfmaßnahmen.“

Und man sollte ergänzen: Die offensichtlich „die“ Pflegekräfte als Kollektiv funktionalisierende Debatte ist leider ein weiterer Beleg für den beklagenswerten Stand der Wahrnehmung der Profession und des Umgangs mit ihr in Teilen der Politik und der Berichterstattung.