Auf der einen Seite ist es in diesen Tagen, Wochen und Corona-Monaten verständlich, wenn man zum Narrativ der „Corona-Helden“ greift und immer wieder gerne das Applaus-Bild von einigen Balkonen und aus dem Plenum des Bundestag, das im Frühjahr des sich nun dem Ende zuneigenden Jahres 2020 gezeichnet wurde, wiederbelebt, wenn es um bestimmte Berufsgruppen und deren reale Situation geht, sei es in der ehrenvollen Absicht, auf die große Diskrepanz zwischen den Lobhudeleien über deren besondere Bedeutung für unser Gemeinwesen in der Krise zu dem, was sich eben nicht verbessert hat bei ihren Arbeitsbedingungen, hinzuweisen – oder aber schlichtweg, weil man glaubt, mit dem Gefühl des schlechten Gewissens Aufmerksamkeit für die eigene Botschaft zu bekommen.
Wie dem auch sei – man konnte davon ausgehen, dass so eine skandalisierende Botschaft in diesen Zeiten ankommt und erst einmal das generiert, was gewünscht ist: Aufmerksamkeit in medialen Zeiten, in denen die eine überaus knappe Ressource darstellt: Corona-Helden gehen leer aus: »Pfleger und Verkäuferinnen, für die im Frühjahr geklatscht wurde, fallen beim Gehalt zurück. Gerade alleinerziehende Mütter sind betroffen. Eine Studie warnt vor gesellschaftlichen Ungleichheiten«, so Alexander Hagelüken in seinem Artikel. Darin berichtet er über eine Studie, die von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlicht wurde. Und Hagelüken hat der entnommen, dass viele der Berufsgruppen, die als „Corona-Helden“ etikettiert werden, »auch in fünf Jahren weit unter dem Durchschnittslohn (liegen werden), sagt eine neue Studie voraus. Der Bertelsmann-Stiftung zufolge bleiben auch Alleinerziehende und generell viele Frauen beim Einkommen abgehängt.«
Und Hagelüken zitiert konkrete Euro-Beträge aus der Studie, um die Ausführungen zu illustrieren: »Das reale Bruttojahresgehalt im Gesundheits- und Sozialwesen wird 2025 gut 4.000 Euro geringer sein als der deutsche Durchschnittslohn von 34.000 Euro, so die Stiftung. Im Einzelhandel klafft dann sogar eine Lücke von 10.000 Euro. Diese Differenzen überraschen kaum, sieht man sich die Lohnsteigerungen in der Industrie an. In der Chemie- und Autobranche nimmt der Verdienst demnach zwischen 2017 und 2025 um 6.000 Euro zu – zwei bis drei Mal so stark wie bei Gesundheit, Sozialem und Handel.«
Nun wird der eine oder andere möglicherweise bereits an dieser Stelle innehalten und die skeptische Frage aufwerfen, ob eine Lohnsteigerung in den vergleichsweise sehr gut bezahlten Bereichen Chemie und Automobilindustrie (zumindest für die Kernbelegschaften) um mehrere tausend Euro auch in den kommenden Jahren angesichts der – in der Autoindustrie – offensichtlichen krisenhaften Entwicklungen, die hinsichtlich ihrer fundamentalen Erschütterung gewachsener Geschäftsmodelle weit über einen Corona-Effekt hinausgehen, wirklich so selbstverständlich angenommen werden kann. Das verweist auf den notwendigen Blick auf die Annahmen in der Original-Studie, die gemacht werden, um solche Werte zu produzieren:
➔ Jakob Ambros, Jan Limbers, Stefan Moog, Andreas Sachs und Heidrun Weinelt (2020): Lohneinkommensentwicklung 2025. Wirkung der Produktivität auf die Lohnentwicklung, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, Dezember 2020
Und der Zusammenfassung kann man dann diesen wichtigen und hier entscheidenden Hinweis auf den Maßstab entnehmen, den man den kalkulatorischen Abschätzungen zugrunde gelegt hat: »Das Produktivitätswachstum ist ein wichtiger Bestimmungsfaktor für das Wachstum der Arbeitslöhne. Allerdings verzeichnen nur noch wenige Branchen ein robustes Wachstum der Arbeitsproduktivität. Das wird Folgen für die Beschäftigten haben. Lohneinkommen driften weiter auseinander. Besserverdienende ziehen weiter davon, Geringverdienende erleiden gar reale Einkommensverluste, so unsere Projektion. Die Corona-Pandemie dürfte diese Ungleichgewichte noch weiter verschärfen.«
➔ In der Studie von Ambros et al. (2020: 32) selbst wird mit Blick auf die These einer zunehmende Ungleichheit angemerkt, dass man zwischen der Ebene der individuellen Löhne und dem Haushaltseinkommen differenzieren muss: »Wird zusätzlich zu den individuellen Bruttoverdienstmöglichkeiten der Haushaltskontext berücksichtigt, um das individuell verfügbare Einkommen nach Berücksichtigung des deutschen Steuer- und Transfersystems zu bestimmen, reduzieren sich Differenzen zwischen den Gruppen deutlich. Sowohl Alleinerziehende als auch Einkommensschwache profitieren überdurchschnittlich stark von Umverteilungsmechanismen. Dennoch werden bestehende Differenzen in der Einkommensentwicklung nicht vollständig ausgeglichen, sondern lediglich verringert. Unterschiede im Niveau der individuellen verfügbaren Einkommen von Erwerbstätigen nach Haushaltstyp, Einkommensquintil und Geschlecht im Jahr 2025 sind damit deutlich geringer als die Unterschiede im Niveau der individuellen Bruttoverdienste.«
Die Bertelsmann-Stiftung selbst hat ihren Bericht über die neue Studie so überschrieben: Corona-Helden bleiben beim Einkommen abgehängt. Dass das Lohnwachstum bei den heute schon unter dem Durchschnitt vergüteten Berufsgruppen, zu denen viele der „Corona-Helden“ gesamtwirtschaftlich gesehen gehören, weiter abgekoppelt wird von dem der heute schon über dem Durchschnitt vergüteten Arbeitnehmergruppen, sich mithin die Lohnschere weiter ungleichheitsverstärkend öffnen wird, ist auf der einen Seite ein Befund, der in vielen anderen Studien auch behauptet wird. In der Studie von Ambros et al. (2020) wird diese Scherenbewegung aber sehr spezifisch begründet, mit einem Konzept, dass in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion (aber auch als eine Komponente der Bestimmung eines „verteilungsneutralen Lohnerhöhungsspielraums“ in der tarifpolitischen Praxis) einen hohen Stellenwert hat:
»Das Lohnwachstum in den Branchen hängt mit dem jeweiligen Produktivitätswachstum zusammen. Beschäftigte mit Spezialwissen, in Branchen mit Tarifbindung und in kapitalintensiven Sektoren profitieren am stärksten. Das Wachstum der Arbeitsproduktivität wird bis 2025 hingegen in den arbeitsintensiven Branchen des Gesundheitswesens oder des Einzelhandels nur etwa halb so hoch ausfallen wie im Verarbeitenden Gewerbe und der Chemie- und Elektroindustrie.« Und die Bertelsmann-Stiftung schlussfolgert vor diesem Hintergrund scheinbar konsequent: »Entsprechend geringer ist der Spielraum für Lohnerhöhungen.«
Es ist nicht so, dass die Studie von Ambros et al. (2020) keine Perspektiven aufzuzeigen versucht – und der folgende Hinweis der Bertelsmann-Stiftung mag die eigentliche Agenda hinter der Veröffentlichung verdeutlichen: »Somit müssen Produktivitätssteigerungen auch in den arbeitsintensiven Branchen, in der Pflege oder dem Gesundheitswesen, auf die Agenda rücken. Die Digitalisierung von Abläufen und Dokumentationen etwa bietet hier noch reichlich produktivitätssteigerndes Potenzial. Hiervon werden am Ende auch die Erwerbstätigen profitieren, so die Studie.«
Hier ist sie wieder, „die“ Digitalisierung, dieser Catch-all-Begriff unserer Zeit, der in keinem Förderantrag und in keinem Hoffnungspapier fehlen darf (und auch „auf der anderen Seite“ gerne für dystopische Glaskugel-Veröffentlichungen instrumentalisiert wird, beispielsweise in der Debatte, dass uns -jetzt aber wirklich – die Erwerbsarbeit ausgehen wird wegen der Digitalisierung, Roboterisierung und Co.). Unabhängig davon werden wir im weiteren Fortgang der hier zu entfaltenden Argumentation noch sehen, zu was eine umstandslose Übertragung der aus der Industrie abgeleiteten Produktivitätssteigerungsmaxime gerade in personenbezogenen Dienstleistungen bedeuten kann.
In diesem Beitrag soll es vor allem um das der Studie zugrundeliegende Konzept gehen, nach der „die“ Arbeitsproduktivität maßgeblich die Lohnentwicklung bestimmen würde. Dass man daran Zweifel haben kann, schimmert in dem Bericht von Alexander Hagelüken über die neue Studie deutlich durch die Zeilen: »Den Lohn beeinflussen verschiedene Faktoren. Spezialisten mit rarem Wissen etwa können höhere Gehälter aushandeln. Dann spielt es eine Rolle, dass in Dienstleistungen relativ wenige Beschäftigte in der Gewerkschaft sind, in der Industrie aber viele – entsprechend mehr Geld schlagen Industriegewerkschaften wie IG Metall und IG BCE heraus. Die Bertelsmann-Studie konzentriert sich darauf, wie die Produktivitätsentwicklung die Bezahlung beeinflusst.« Und damit wird eben ein Einflussfaktor neben vielen anderen auf die konkrete Lohnentwicklung betrachtet. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr, vor allem sollte man sich davor hüten, aus der (angeblichen) Arbeitsproduktivitätsentwicklung eine „Wenn …, dann …“-Beziehung abzuleiten mit Blick auf die realen Lohnentwicklungen der Beschäftigten.
Interessant ist auch, wie Hagelüken in seinem Artikel Arbeitsproduktivität zu beschreiben versucht: »Die Produktivität misst vereinfacht gesagt, wie viel mehr Autos ein Arbeiter von Jahr zu Jahr produziert oder wie viel mehr Software eine Entwicklerin programmiert. Programmiert sie mehr, kann ihr die Firma mehr Lohn zahlen, da sie ja auch höhere Einnahmen erzielt.« Und er verweist wenigstens noch in einem Absatz darauf, dass das, was intuitiv nachvollziehbar erscheint bei der Produktion von Autos oder Kühlschränken, in anderen Bereichen weniger bis gar nicht zu passen scheint: »Ökonomen thematisieren schon lange, dass die quantitative Produktivität vieler Dienstleistungen langsamer wächst als in der Industrie. Eine Krankenschwester kann nicht einfach mehr Patienten pro Stunde betreuen oder eine Pianistin mehr Stücke pro Stunde spielen, ohne dass die Qualität leidet. Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler William Baumol diagnostizierte 1967 eine „Kostenkrankheit“, wenn die Löhne solcher Dienstleistungen trotzdem stark steigen.« Leider bleibt es bei diesem kurzen Hinweis auf ein offensichtliches Fundamentalproblem mit „der“ Arbeitsproduktivität. Zu der These von Baumol vgl. auch den Beitrag von Jochen Hartwig und Hagen Krämer: 50 Jahre Baumol‘sche Kostenkrankheit, in: Wirtschaftsdienst, Heft 11/2017, S. 793-800. Am Ende dieses Beitrags findet man diesen wichtigen Hinweis: »Baumols Vermächtnis besteht in der Warnung vor falschen politischen Weichenstellungen. Insbesondere bei öffentlichen Dienstleistungen bestanden die Reaktionen auf die Kostenkrankheit bislang vor allem aus Qualitätseinschränkungen und aus dem Versuch, Kostendeckelungen durchzusetzen. Dies führt in die falsche Richtung. Nicht die Bekämpfung von steigenden Kosten im Gesundheits- und Bildungswesen oder bei anderen personenbezogenen Dienstleistungen ist die richtige Antwort auf die Kostenkrankheit, sondern erstens deren Akzeptanz und zweitens ein angemessener Umgang mit den unvermeidlichen Preiserhöhungen in den stagnierenden Sektoren. Wir können uns prinzipiell auch immer teurer werdende Dienstleistungen leisten, erinnert uns Baumol in seinem letzten Buch. Aber wir müssen die sich ergebenden Verteilungsprobleme angehen.« (S. 800).
Aber zuerst einmal: Was hat es mit dieser „Arbeitsproduktivität“ auf sich und warum ist die für viele „Corona-Helden“ ein ungeeigneter Maßstab?
Man muss sich am Anfang klar machen, auf was für einem verminten Gelände wir uns befinden, wenn es um die für Ökonomen so wichtige „Arbeitsproduktivität“ geht, denn die spielt auch eine zentrale Rolle in einem Strang der Debatte um „gerechte“ Löhne:
»Hoch produktive Arbeitskräfte werden demnach besser bezahlt, im Niedriglohnsektor tummeln sich die Niedrigproduktiven.« So die Formulierung von Stephan Kaufmann in seinem lesenswerten Artikel Die Lüge von der Leistungsgesellschaft. Und er ergänzt: »Das Problem: Die wirtschaftliche Leistung des Einzelnen lässt sich überhaupt nicht errechnen. Und was sich errechnen lässt, hat mit der gängigen Vorstellung von Leistung wenig zu tun.« Und er hat in seinem im Jahr 2017 veröffentlichten Artikel auch diese kritische Anmerkungen gemacht: »Doch wie misst man Leistung? Nicht unbedingt am Arbeitseinsatz oder Engagement. Jemand, der sich anstrengt und lange arbeitet, leistet nicht unbedingt mehr als jemand, der es ruhiger angehen lässt. Was zählt, ist das Ergebnis. Eine besondere Leistung scheint auch nicht vorzuliegen, wenn jemand einen besonders schmutzigen, anstrengenden, monotonen oder unbeliebten Job erledigt – eher ist es umgekehrt: schlechte Jobs werden auch schlecht bezahlt. Das Einkommen richtet sich auch nicht danach, wie gesellschaftlich nützlich eine Arbeitsleistung ist: So erhält eine Altenpflegerin weniger Geld als ein Ingenieur, der am Sound eines Porsche-Motors bastelt – und der Ingenieur erhält weniger als ein Banker, der mit Aktien spekuliert.«
Und ein weiteres Beispiel für das angesprochenen Minenfeld mit „der Arbeitsproduktivität“: Gerade am unteren Ende der Lohnskala spielt die eine gewichtige Rolle. Man denke hier nur an die teilweise abenteuerliche Argumentation der Mindestlohngegner. Denn die haben vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns explizit produktivitätsorientiert argumentiert – und für viele erst einmal durchaus nachvollziehbar. Wenn die Arbeitnehmer beispielsweise in der Gastronomie oder wo auch immer nicht die 8,50 Euro pro Stunde (plus Arbeitgeberkosten) „erwirtschaften“, dann wird man sie entlassen müssen. Auf dieser simplen Annahme basieren die ganzen Vorhersagen über den Jobkiller Mindestlohn, die sich bis heute nicht bewahrheitet haben, die aber im Vorfeld und kurz nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes gerne kolportiert wurden und von manchen Hardcore-Vertretern der Ökonomen-Zunft heute noch wie eine Monstranz vor sich hergetragen wird. Man kann das aber auch anders deuten: Wenn es den Arbeitnehmern gelingen würde, ihre „Produktivität“ zu steigern, dann werden sie auch zu einer höheren Bezahlung kommen können. Genau diesen Argumentationsstrang finden wir ja auch in der neuen Studie vom Ambros et al. (2020).
Wenn das mal so einfach wäre.
Immer geht es bei solchen Verwendung der Arbeitsproduktivität darum, was die Arbeitnehmer „erwirtschaften“, was also ihre Arbeit in Geldeinheiten bringt. Dabei muss man darauf verweisen, dass der Produktivitätsbegriff eigentlich eine „mengenmäßige Rationalität“ abbildet, während die „wertmäßige Rationalität“ das Gefilde der „Wirtschaftlichkeit“ ist. In diesem Sinne kann man „Produktivität“ also definieren als Ergiebigkeit der bei der Produktion eingesetzten Mittel (z.B. Arbeitsleistung, Maschinen, Werkstoffe). Es geht also um die Messung des Erfolgs des Leistungsprozesses. Die Messung der Produktivität kann sich auf die Ergiebigkeit der Arbeit (Arbeitsproduktivität) oder die Messung anderer Einsatzfaktoren beziehen (z.B. Produktivität einer Maschine) beziehen. In diesem „klassischen“ Verständnis geht es also nicht primär um Geldbeträge, sondern um den mengenmäßigen Output im Verhältnis zum mengenmäßigen Input, bei der Arbeitsproduktivität also vor allem die Arbeitszeit als Input. Ein Beispiel dafür wäre: Ein Fliesenlegerbetrieb verlegte in einem bestimmten Abrechnungszeitraum 25.000 qm Bodenfliesen. In dieser Zeit wurden 20 Fliesenleger beschäftigt. Die durchschnittliche Arbeitsproduktivität je Mitarbeiter liegt damit in diesem Zeitraum bei 1.250 qm.
An diesem Beispiel wird auch erkennbar, warum es beispielsweise für die personenbezogenen Dienstleistungen, mit denen wir es gerade im sozialen Bereich zu tun haben, so schwer ist, jährliche oder überhaupt Produktivitätssteigerungen zu realisieren. Wenn man Beratungsgespräche mit schwierigen Klienten führen muss, dann ist der erreichbare Output nach oben naturgemäß begrenzt – außer man steckt eine ganze Gruppe von Rat- und Hilfesuchenden in eine Gruppe und berät diese zusammen statt alle einzeln, was man vielleicht machen kann (und was auch immer wieder versucht wird, man denke hier an die Arbeitsagenturen und Jobcenter als ein Beispiel), was aber für viele sicher verständlich in vielen Fällen nichts bringt oder sogar kontraproduktive Wirkungen entfalten kann.
Schauen wir uns beispielsweise einen so wichtigen Bereich wie die Pflege an. Wie soll in diesem Bereich Jahr für Jahr eine Produktivitätssteigerung von 1 oder 2 Prozent realisiert werden? Man muss sich klar machen, was das bedeuten würde – bzw. in der Praxis der Pflege leider tatsächlich auch bedeutet: Das geht nur über die Rationierung der pflegerischen Arbeit (mithin der menschlichen Zuwendung, also sich Zeit nehmen für die zu Pflegenden), beispielsweise über den Einsatz von Windeln mit einem Fassungsvermögen von mehreren Litern Urin, um nicht zu oft am einzelnen Patienten arbeiten zu müssen und zugleich mehr Patienten bzw. Pflegebedürftige pro Zeiteinheit „zu versorgen“, was dann formal ein Produktivitätswachstum auf Seiten der Pflegekräfte wäre. Anders formuliert: Eine Produktivitätssteigerung im engeren Sinne würde in vielen Fällen Pflegenotstand bedeuten, bis hin zu Pflegemisshandlungen. Genau das, was wir schmerzhaft in den zurückliegenden Jahren durchaus in der Praxis haben erfahren müssen.
An dieser Stelle noch mal zurück zu dem Beitrag von Stephan Kaufmann, der sich an der Verknüpfung der Arbeitsproduktivität mit der angeblichen (Nicht-)Leistung eines Arbeitnehmers und der Legitimation von teilweise erheblichen Lohnunterschieden über Produktivitätsunterschiede abarbeitet:
»Gemessen wird Produktivität an Kennzahlen wie Gewinn je Mitarbeiter oder Umsatz je Mitarbeiter oder gesamte Wirtschaftsleistung je Erwerbstätiger. Das jedoch bedeutet: „Nicht die Anstrengung, das Talent oder das Produkt zählt, sondern nur das Marktergebnis“ … Was am Markt keinen Erfolg hat, was sich nicht verkauft, gilt Ökonomen nicht als Produkt. Wer hart arbeitet und etwas Gutes herstellt, das sich aber nicht verkauft, war unproduktiv und hat damit nichts geleistet.« Nun könnte man als ökonomischer Purist argumentieren, dass da einiges durcheinander geht, denn Gewinn je Mitarbeiter ist eigentlich eine Rentabilitätsgröße und Umsatz je Mitarbeiter eine Wirtschaftlichkeitsgröße, aber nicht die Produktivität, wenn man diese als eine mengenmäßige Rationalität definiert. Aber auch im volkswirtschaftlichen Diskurs hat sich die Auffassung verankert, dass das BIP je Erwerbstätigen bzw. das BIP je Erwerbstätigenstunde Ausdruck der „Arbeitsproduktivität“, genauer: der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität ist. Das kann man so festlegen, hat aber gewichtige Implikationen.
Gerade wenn man sich die volkswirtschaftliche Definition von Arbeitsproduktivität anschaut mit der Größe BIP im Zähler wird deutlich, dass eine so verstandene Produktivität kein Maßstab für individuelle Arbeitsleistung ist (und sein kann), sondern diese Größe drückt schlicht aus, wie erfolgreich der Betrieb oder die ganze Wirtschaft ist, gemessen an den monetären Größen, wie sie im BIP erfasst werden. Dieser monetär gemessene Erfolg der Unternehmen hängt nun aber nicht nur an der Arbeitsleistung der Beschäftigten, sondern an einer Vielzahl an Bestimmungsfaktoren, wie dem Ölpreis, dem Wechselkurs der Währung, dem Stand der Konjunktur, dem Weltmarkt, der gesellschaftlichen Verteilung, den Aktienmärkten. Und der Erfolg oder Misserfolg eines Unternehmens ist natürlich auch abhängig von der Konkurrenz (und das ist oftmals weitaus bedeutsamer als die Arbeitsleistung der einzelnen Mitarbeiter: »Ein Buchhändler mag klug und tüchtig sein, doch wenn Amazon den Markt aufrollt, ist alle Anstrengung vergebens und seine Leistung nichts wert«, so Kaufmann in seinem Artikel).
➔ Und wenn man dann auch noch diese künstliche Größe Arbeitsproduktivität auf die einzelnen Arbeitnehmer bezieht, dann muss man wirklich einen logischen Moment innehalten und nachdenken: Welchen Beitrag hat der Einzelne zum gesamten Umsatz des Unternehmens oder einer Branche geleistet? Man denke an die einzelnen Mitarbeiter in einem konkreten Unternehmen. Welchen Beitrag hat die Sekretariatskraft geleistet, der Einkäufer, die Produktionsmitarbeiter, der Sicherheitsdienst, der Betriebsarzt? Wie will man das auseinanderhalten? Es geht hier um die letztendlich nicht auflösbare individuelle Ebene der Ergebniszurechnung. Oder an einem anderen Beispiel illustriert: Wie ist das eigentlich mit der Wirksamkeit des Lichts in der Wohnung: Wer ist für die Wirksamkeit verantwortlich mit welchen quantitativen Beitrag – die Glühbirne, das Stromkabel, die Steckdose, der Strom? Versuchen Sie einmal, diese Frage zu beantworten. Es wird ihnen nicht gelingen können.
Die Fragwürdigkeit der Verwendung der „Arbeitsproduktivität“ (in der Form, wie sie heute üblicherweise gemessen wird), wird dann auch mehr als offensichtlich, wenn die Lohnentwicklung an die Entwicklung der eigentlich eine Wirtschaftlichkeitsgröße darstellenden Arbeitsproduktivität gekoppelt wird, was für den produzierenden Bereich vielleicht noch darstellbar ist, aber wie gezeigt bei den arbeitsintensiven personenbezogenen Dienstleistungen keinen wirklichen Sinn ergeben kann (vgl. dazu bereits den Beitrag Arbeitsproduktivität als Fetisch einer angeblichen Leistungsgesellschaft vom 17. Juli 2020 oder auch die Ausführungen von Martin Beckmann und Katharina Oerder: Produktivitätsschwache Dienstleistungen? Warum wir ein neues Verständnis von Produktivität brauchen, Bonn 2017). Im ursprünglichen Modell der vor allem über Gewerkschaften und ihre Tarifverhandlungen mit den Arbeitgebern laufenden Lohnentwicklung ist dieses Grunddilemma durchaus gelöst worden: Natürlich gibt es weiterhin Bereiche, wo man ansehnliche Produktivitätssteigerung erwirtschaften kann, man denke hier nur an weite Teile der Industrie. Deswegen macht es ja gerade aus einer volkswirtschaftlichen Sicht überaus Sinn, dass Tariflohnsteigerung beispielsweise in der Industrie vereinbart werden, die man dann aber eben auch übertragen muss auf viele Dienstleistungsberufe, in denen aus einer rein betriebswirtschaftlichen Sicht keine höheren Löhne zu rechtfertigen sind, weil sich auch nicht die Produktivität erhöht hat. Vor diesem Hintergrund erweist es sich als besonders fatal, wenn diese Berufe von der Lohnentwicklung in der Industrie abgekoppelt werden, was betriebswirtschaftlich gesehen durchaus rational, volkswirtschaftlich aber vor dem Hintergrund, dass die Löhne den Hauptbestandteil der Binnennachfrage darstellen, hoch problematisch wäre hinsichtlich der damit verbundenen Auswirkungen auf den Konsum. Letztendlich manifestiert sich hier der berühmte „Doppelcharakter des Lohnes“: Betriebswirtschaftlich gesehen sind Löhne immer Kosten, die man zu senken versuchen wird, während volkswirtschaftlich gesehen die Löhne das Rückgrat der Binnennachfrage darstellen, so dass zu starke Lohnsenkungen, die aus betriebswirtschaftlicher Sicht für das einzelne Unternehmen sinnvoll sein können, in der Gesamtwirtschaft mit verheerenden Folgewirkungen verbunden wären.
Man kann es drehen und wenden wie man will – die Lohnentwicklung an einem scheinbar sachlichen Parameter wie der Produktivitätsentwicklung festzumachen, muss scheitern. Letztendlich ist es eine Verteilungsfrage und die ist in den vergangenen Jahren zuungunsten vieler Arbeitnehmer beantwortet worden. Das hängt aber auch damit zusammen, dass viele Arbeitnehmer darauf hoffen, dass andere ihre Probleme lösen und es schon richten werden. Wenn zehn Prozent oder weniger der Beschäftigten in nicht wenigen Dienstleistungsbranchen in Gewerkschaften organisiert sind, dann sind denen die Hände mehr als gebunden.