Arbeitsuchende und Unionsbürger ohne Aufenthaltsrecht haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen in Deutschland. Das Bundessozialgericht und nun der EuGH sehen das teilweise anders

Kinder können ein Anker sein für ihre Eltern, wenn die als EU-Bürger beispielsweise in Deutschland sind und man ihnen dort Sozialleistungen nicht gewähren will, weil man andere abschrecken möchte, es ihnen nachzumachen und die dann möglicherweise – so der immer mitlaufende Gedanke – nur deshalb hierher kommen, weil in Deutschland „großzügige“ Sozialleistungen wie Milch und Honig vom Himmel fließen. Angebliche und tatsächliche Beispiele für eine solche „Armutszuwanderung“ werden in regelmäßigen Abständen immer wieder durch die Medien getrieben und jeder einzelne Fall löst dann große Empörungswellen aus. Die Politik fordert dann reflexhaft gesetzliche Änderungen, um die die Daumenschrauben anzuziehen und die Menschen aus den Armenhäusern der EU davor zu „bewahren“, hierher zu kommen. Das hört sich klarer an als es sich dann wirklich darstellt, denn zugleich bewegen wir uns auf einem „schwierigen“ Terrain dergestalt, das eine der zentralen Grundfreiheiten in der EU die Personenfreizügigkeit ist. Und deren Gewährleistung wird vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) überwacht.

Und seit vielen Jahren tobt nicht nur eine mediale und (partei)politische Schlacht um das Thema Zuwanderung und Sozialleistungsansprüche, sondern die Konflikte werden auch auf der offene Bühne der Rechtsprechung ausgetragen. Dabei sollte man nicht automatisch davon ausgehen, dass die „deutschen“ Gerichte gegen die Zuwanderer und der EuGH für sie votieren, die juristische Gefechtslage war in den vergangenen Jahren immer wieder mehr als unübersichtlich.

Darüber wurde und wird schon seit Jahren in diesem Blog berichtet. So beispielsweise im September 2015 in diesem Beitrag: Ist das alles kompliziert. Der EuGH über die Zulässigkeit der Nicht-Gewährung von Sozialleistungen für einen Teil der arbeitsuchenden EU-Bürger. Und dass der EuGH keineswegs immer für einen sehr weit greifenden Leistungsanspruch von EU-Bürgern in einem anderen EU-Staat entscheidet, kann man diesem Beitrag aus dem Jahr 2016 entnehmen: Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber: Der EuGH gegen Sozialleistungen für EU-Bürger in anderen EU-Staaten, das BSG teilweise dafür, andere Sozialgerichte gegen das BSG. Hier findet man bereits in der Überschrift den Hinweis auf eine durchaus komplex zu nennende Entscheidungslage der einzelnen Gerichtsinstanzen, denn damals hatten wir die Situation, dass manche Sozial- und Landessozialgerichte die Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) nicht mittragen wollten und der EuGH wiederum dem BSG in Teilen widersprochen hat.

➔ So berichtete beispielsweise Christian Stotz im Januar 2016 unter der Überschrift Dreimal Nein heißt Nein: »Bereits zum dritten Mal binnen zweier Monate hat das BSG sich mit der Frage befasst, ob EU-Bürger von existenzsichernden Leistungen in Deutschland ganz ausgeschlossen werden dürfen – und sie erneut verneint … Wie zuvor bereits in zwei kontrovers diskutierten Entscheidungen im Dezember 2015, erklärte das höchste deutsche Sozialgericht den vollständigen Ausschluss von EU-Bürgern von existenzsichernden Leistungen erneut für unzulässig. Möglich sei zwar die pauschale Verweigerung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II („Hartz IV“). Die Sozialhilfeträger müssten jedoch prüfen, ob den Klägern Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII im Ermessenswege zu gewähren seien, wobei sich das Ermessen nach sechsmonatigem Aufenthalt zu einer Pflicht zur Leistungsgewährung verdichte.« Und am Ende wurde dann darauf hingewiesen: »Erste Überlegungen in der Politik gehen allerdings dahin, den Sozialhilfeanspruch von EU-Ausländern ausdrücklich per Gesetz zu beschränken.«

Zwischenzeitlich hatte die Bundesregierung auch in Reaktion auf die Entscheidungen des BSG die gesetzgeberischen Daumenschrauben angezogen und eine Verschärfung der Zugangsvoraussetzungen in das deutsche Sozialleistungssystem, konkret in die Grundsicherung nach dem SGB II, durchgesetzt.

➔ Dieses Vorgehen des Gesetzgebers wurde durchaus kontrovers diskutiert, vgl. nur als ein Beispiel den Beitrag Bun­des­re­gie­rung will Anspruch von EU-Bür­gern auf „Hartz IV“ dras­tisch ein­schränken von Constanze Janda vom 3. November 2016. Sie bilanzierte damals: »Die vorgeschlagene Lösung mag den Interessen der traditionell für die Armenfürsorge zuständigen Kommunen entsprechen. Sie bedient überdies die Reflexe derer, die die Gefahr einer ungezügelten massenhaften „Armutsmigration“ beschwören. Die Verfassungsmäßigkeit des Entwurfs aber darf man bezweifeln. Aus der Menschenwürdegarantie in Art. 1 Grundgesetz (GG) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz abgeleitet. Dabei handelt es sich um ein Menschenrecht. Der Achtungsanspruch hängt also weder von der Staatsangehörigkeit oder dem Aufenthaltsstatus ab noch ist er an irgendeine Form von Wohlverhalten gekoppelt. Auch die Menschenwürde derer, die dies vermeintlich nicht verdienen, ist zu achten und zu gewährleisten. Das BVerfG hat im Hinblick auf Zuwanderer insofern den Satz geprägt, dass die Menschenwürde migrationspolitisch nicht relativierbar sei. Der Gedanke der Abschreckung von Zuwanderern hat im Recht der Existenzsicherung folglich keinerlei Berechtigung. Auch die als Zugeständnis zur Menschenwürdegarantie vorgesehenen Übergangsleistungen widersprechen verfassungsrechtlichen Anforderungen, denn die Menschenwürde ist jederzeit in vollem Umfang zu gewährleisten. Damit sind weder die zeitliche Beschränkung noch die Reduzierung der Leistungen auf das zum Überleben Notwendige und die Vorenthaltung des sozio-kulturellen Existenzminimums vereinbar.«

Das Fazit von Janda zur damals noch im Gesetzgebungsverfahren, mittlerweile beschlossenen Verschärfung der Rechtslage: »Die SGB II-Änderung hat vor allem symbolische Wirkung: Arbeitssuchenden Unionsbürgern wird signalisiert, dass sie hier nicht willkommen sind; den Stammtischen wird signalisiert, dass etwas gegen „Armutsmigration“ unternommen wird. Dabei gibt der Gesetzgeber in der Begründung des Entwurfs selbst zu, dass nur wenige Personen von den Leistungseinschränkungen betroffen sein werden … Der Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende setzt nämlich schon immer voraus, dass die Leistungsberechtigten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. Weder die Einreise zur Arbeitsuche noch die Einreise zum Leistungsbezug in der „sozialen Hängematte“ erfüllen dieses Kriterium. Es wäre ein Leichtes, dies in der öffentlichen Debatte klarzustellen – aber offenkundig nicht hinreichend spektakulär.«

Von maßgeblicher Bedeutung ist hier der den Kreis der Leistungsberechtigten regelnde § 7 Abs. 1 SGB II. Dort ist nicht nur eine dreimonatige Ausschlussfrist normiert („Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts“), sonder darüber hinaus ein genereller Ausschluss-Tatbestand: „Ausländerinnen und Ausländer, a) die kein Aufenthaltsrecht haben, b) deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder c) die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 vom 27.5.2011, S. 1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl. L 107 vom 22.4.2016, S. 1) geändert worden ist, ableiten, und ihre Familienangehörigen.“ Die sind von einem Leistungsanspruch ausgenommen. Also eigentlich, denn es gibt eine Ausnahme: „Abweichend … erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben.“

„Der Gesetzgeber wollte mit der Neufassung des § 7 Abs. 1 S. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) II im Jahr 2016 Arbeitsuchende und Unionsbürger ohne Aufenthaltsrecht aus dem Grundsicherungsbezug ausschließen“, so Constanze Janda, die Sozialrecht und Verwaltungswissenschaft an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer lehrt und Mitbegründerin des Netzwerks Migrationsrecht ist. Die entsprechende gesetzliche Neuregelung aber hat keineswegs zu einer unmissverständlichen Klarheit geführt, wie man einer neuen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) entnehmen kann.

Eine neue EuGH-Entscheidung: Ein Kind als Anker

Wieder einmal erreicht uns in diesen höchst komplexen, aber zutiefst existenziellen Fragen eine neue Entscheidung des EuGH. Die Pressemitteilung zu EuGH, Urteil in der Rechtssache C-181/19 vom 6. Oktober 2020 ist beeindruckend umfangreich überschrieben:
➔ „Ein früherer Wanderarbeitnehmer und seine Kinder, denen ein Aufenthaltsrecht aufgrund des Schulbesuchs der Kinder zusteht, können nicht mit der Begründung, dass dieser Arbeitnehmer arbeitslos geworden ist, automatisch von nach dem nationalen Recht vorgesehenen Leistungen der sozialen Grundsicherung ausgeschlossen werden“

Zum Sachverhalt:

»JD ist polnischer Staatsangehöriger und wohnt seit 2013 mit seinen beiden minderjährigen Töchtern in Deutschland, wo die beiden Töchter zur Schule gehen. In den Jahren 2015 und 2016 übte JD in Deutschland mehrere abhängige Beschäftigungen aus und wurde dann arbeitslos. Von September 2016 bis Juni 2017 bezog die Familie u. a. Leistungen der sozialen Grundsicherung nach den deutschen Rechtsvorschriften, nämlich Arbeitslosengeld II für JD und Sozialgeld für seine Kinder. Seit dem 2. Januar 2018 übt JD wieder eine Vollzeitbeschäftigung in Deutschland aus.
JD beantragte bei der zuständigen deutschen Behörde, dem Jobcenter Krefeld, die Weiterbewilligung dieser Leistungen für den Zeitraum Juni bis Dezember 2017. Das Jobcenter Krefeld lehnte seinen Antrag jedoch mit der Begründung ab, dass JD im streitigen Zeitraum den Arbeitnehmerstatus nicht behalten habe und sich zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland aufhalte. JD erhob gegen diesen Bescheid eine Klage, der stattgegeben wurde. Das Jobcenter Krefeld legte daraufhin Berufung beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (Deutschland) ein.«

Das LSG Nordrhein-Westfalen hat den Fall im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens dem EuGH vorgelegt. Mit Urteil vom 06.102.2020 haben die europäischen Richter entschieden:

➔ Der EuGH »hat zunächst festgestellt, dass die fraglichen Leistungen der sozialen Sicherheit als „soziale Vergünstigungen“ im Sinne der Verordnung Nr. 492/2011 eingestuft werden können, und dann erstens entschieden, dass diese Verordnung einer nationalen Regelung entgegensteht, die es unter allen Umständen und automatisch ausschließt, dass ein früherer Wanderarbeitnehmer und seine Kinder derartige Leistungen erhalten, obwohl sie nach dieser Verordnung ein eigenständiges Aufenthaltsrecht aufgrund des Schulbesuchs der Kinder genießen.«

Interessant ist die Begründung für das „eigenständige Aufenthaltsrecht aufgrund des Schulbesuchs der Kinder“, aus denen dann wie im vorliegenden Fall ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für den Erwachsenen abgeleitet wird:

➔ Der EuGH hat »zunächst darauf hingewiesen, dass das Aufenthaltsrecht, das Kindern eines Wanderarbeitnehmers oder früheren Wanderarbeitnehmers zuerkannt wird, um ihnen Zugang zum Unterricht zu gewährleisten, und aus dem das Aufenthaltsrecht des Elternteils abgeleitet ist, der die elterliche Sorge für sie wahrnimmt, ursprünglich aus der Arbeitnehmereigenschaft dieses Elternteils folgt. Ist dieses Recht einmal erworben, erwächst es jedoch zu einem eigenständigen Recht und kann über den Verlust der Arbeitnehmereigenschaft hinaus fortbestehen.«

Und dann kommt die zweite Ableitung:

➔ »Des Weiteren hat der Gerichtshof entschieden, dass Personen, denen ein solches Aufenthaltsrecht zusteht, auch das in der Verordnung Nr. 492/20115 vorgesehene Recht auf Gleichbehandlung mit Inländern im Bereich der Gewährung sozialer Vergünstigungen genießen, und zwar selbst dann, wenn sie sich nicht mehr auf die Arbeitnehmereigenschaft berufen können, aus der sie ihr ursprüngliches Aufenthaltsrecht hergeleitet haben.«

In der Begründung für diese Entscheidung wird der Schutzcharakter der Rechtsprechung des EuGH deutlich erkennbar:

»Diese Auslegung verhindert somit, dass eine Person, die beabsichtigt, gemeinsam mit ihrer Familie ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen, um in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten, dem Risiko ausgesetzt ist, bei Verlust ihrer Beschäftigung den Schulbesuch ihrer Kinder unterbrechen und in ihr Herkunftsland zurückkehren zu müssen, weil sie nicht die nach den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Sozialleistungen in Anspruch nehmen kann, die den Lebensunterhalt der Familie in diesem Mitgliedstaat sicherstellen würden.«

Man kann die EuGH-Entscheidung auch so zusammenfassen: Die Kinder erwerben ein von den Eltern abgeleitetes Recht, aus dem heraus sie im Aufnahmemitgliedstaat zur Schule gehen – und wenn die Eltern oder ein Elternteil ihr ursprüngliches Aufenthaltsrecht verlieren, können sie aus dem mittlerweile verselbstständigten Recht der Kinder ein neues Aufenthaltsrecht ableiten.

Dazu auch diese Zusammenfassung in dem Artikel Arbeits­lose EU-Bürger haben Anspruch auf Sozial­leis­tungen: »Die Richter urteilten, dass Wanderarbeitnehmern trotz Jobverlust aufgrund des Schulbesuchs der Kinder ein Aufenthaltsrecht zustünde. Die Kinder hätten dieses Recht zwar ursprünglich aus dem des arbeitenden Elternteils abgeleitet. Es erstarke jedoch durch den Schulbesuch zum eigenen Vollrecht und bleibe auch bei Verlust der Arbeitnehmereigenschaft der Eltern bestehen. Die Eltern wiederum können dann ihr Aufenthaltsrecht von ihren Kindern ableiten und Sozialleitungen beziehen. Das sei auf das Recht auf Gleichbehandlung mit Inländern zurückzuführen und verhindere, dass Kinder von EU-Bürgern bei Jobverlust der Eltern den Schulbesuch unterbrechen und in die Heimat zurückkehren müssten.«

Aber die Bundesregierung lässt nicht locker bei der Verschärfung der Zugangsmöglichkeiten in die Sozialsysteme

Parallel zu der neuen EuGH-Entscheidung muss man dann das zur Kenntnis nehmen: »Die Bundesregierung will Sozialleistungen für EU-Bürger erschweren.« So beginnt der Artikel Regierung misstraut Sozialbehörden von Christian Rath. Zum Hintergrund erläutert Rath:

»Es geht um Fälle wie diesen: Ein unverheiratetes rumänisches Paar kommt mit seinen zwei Kindern im Alter von vier und acht Jahren nach Deutschland. Der Mann arbeitet als Kraftfahrer, die Frau betreut den Nachwuchs. Weil der Mann zu wenig verdient, beantragt die Frau für sich Hartz IV-Leistungen. Diese werden aber verwehrt, denn schon seit 2007 besteht für EU-Bürger ein Leistungsausschluss, wenn sie sich nur zur Arbeitssuche oder zur Betreuung von Kindern in Deutschland aufhalten. Allerdings hat das Bundessozialgericht (BSG) 2013 in einem Grundsatzurteil einen Ausweg für derartige Fälle gewiesen: Der Leistungsauschluss gilt nicht für EU-Bürger, die wegen eines anderen Grundes Anspruch auf Aufenthalt in Deutschland haben. Dies können etwa humanitäre Gründe sein oder der Schutz der Familie. Die Sozialbehörden und die Sozialgerichte müssen jeweils eine „fiktive Prüfung“ anderer Aufenthaltsgründe vornehmen.«

Genau diese Rechtsprechung des BSG möchte man nun aushebeln:

»Die „fiktive Prüfung“ eines Aufenthaltsrechts durch Sozialbehörden soll nicht mehr genügen, um EU-Bürgern, die noch nie in Deutschland gearbeitet haben, Anspruch auf Hartz IV-Leistungen zu geben.Künftig soll es vielmehr auf ein von einer Ausländerbehörde festgestelltes Aufenthaltsrecht ankommen. Die Bundesregierung befürchtet offensichtlich, dass die Sozialbehörden zu großzügig sind und will deshalb die eigentlich zuständigen Ausländerbehörden entscheiden lassen.«

Es gehe um Tausende von Einzelschicksalen, so der Paritätische Wohlfahrtsverband in einer kritischen Stellungnahme. »Der Koordinierungskreis gegen Menschenhandel (KOK) erinnerte an den Fall einer traumatisierten bulgarischen Zwangsprostituierten, die sich in einem Frauenhaus in Nordrhein-Westfalen stabilisieren konnte. Sie bekam aufgrund einer „fiktiven Prüfung“ ihres Aufenthaltsrechts doch noch Hartz IV-Leistungen.«

»Die Kritik der Praxis ist in der Politik angekommen. Der Bundesrat erklärte im Juli in einer Stellungnahme, es sei „sinnvoll“, die Möglichkeit der fiktiven Aufenthaltsprüfung durch Sozialbehörden zu erhalten. Die SPD-Abgeordnete Sylvia Lehmann sagte bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs Anfang September, die Kritik des Bundesrat an dem Gesetzentwurf sei „sozialpolitisch plausibel.“ Die Linkspartei hat im Bundestag inzwischen den Antrag gestellt, auf die Neuregelung zu verzichten.« Dieser Antrag wurde im zuständigen Ausschuss für Inneres und Heimat des Bundestages mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, AfD und FDP zurückgewiesen.

Die geplante Änderung des EU-Freizügigkeitsgesetzes ist in einem größeren Gesetzespaket versteckt. Es soll vor allem den in Deutschland lebenden Briten nach dem Brexit Bestandsschutz geben. Dieses Vorhaben finden alle Fraktionen gut. Bereits am Freitag will der Bundestag im Plenum abschließend über den Gesetzentwurf der Bundesregierung abstimmen, dazu: Freizügigkeit von Familien­angehörigen aus Nicht-EU-Staaten: »Das Freizügigkeitsgesetz/EU soll überarbeitet werden. Der Bundestag stimmt am Freitag, 9. Oktober 2020, nach halbstündiger Debatte über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur aktuellen Anpassung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften im Unionsrecht (19/21750) ab. Der Ausschuss für Inneres und Heimat hat zur Abstimmung eine Beschlussempfehlung vorgelegt (19/23186).«

Das Thema wird uns noch beschäftigen.