Schon lange vor der Corona-Krise wurde der zunehmende Fachkräftemangel bei Erzieherinnen und vor allem in der Pflege beklagt und immer wieder wurde darauf hingewiesen, dass uns das nicht schon heute, sondern angesichts der steigenden Bedarfe in Kombination mit dem enormen Ersatzbedarf aufgrund der Abgangs der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Erwerbsleben in den kommenden Jahren eine Menge Probleme bereiten wird. Da freut man sich doch mit Blick auf die potenziellen Nachwuchskräfte über solche Meldungen aus Berlin: »Soziale Berufe sind für Jugendliche grundsätzlich attraktiv. Knapp ein Viertel kann sich vorstellen, in der Kindertagesbetreuung (24 Prozent) beziehungsweise Pflege (21 Prozent) zu arbeiten. Beide Berufe werden als anspruchsvoll und abwechslungsreich betrachtet.« So das Bundesfamilienministerium unter der Überschrift Jugendbefragung zur Attraktivität sozialer Berufe vorgestellt. Dabei bezieht man sich auf Kernergebnisse einer Auftragsstudie:
➔ Silke Borgstedt (2020): Sinus Jugendbefragung: Kindertagesbetreuung & Pflege – attraktive Berufe? Qualitative und quantitative Forschung mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 14 bis 20 Jahren
Silke Borgstedt wird vom Ministerium mit diesen Worten zitiert, die man aufmerksam lesen sollte, vor allem den letzten Teil: „Die eigene berufliche Zukunft betrachten Jugendliche als ungewiss und voller Herausforderungen – auch angesichts aktueller Krisen. Indem Berufe im Bereich Gesundheit und Soziales nun prominenter im öffentlichen Rampenlicht stehen, verschiebt sich das Bewertungsraster von Berufsfeldern, das heißt die Einschätzung, welche Berufsgruppen in der Gesellschaft hohe Anerkennung genießen. Durch die damit verbundene gestiegene Wertschätzung sozialer Berufe und ihrer Repräsentantinnen und Repräsentanten geraten sie auch stärker in das Blickfeld von Jugendlichen, die sich bislang weniger mit diesem Feld auseinandergesetzt haben. Hieraus ergeben sich neue Potenziale – sofern entsprechende Voraussetzungen künftig erfüllt werden.“
„Sofern entsprechende Voraussetzungen künftig erfüllt werden“? Was ist damit gemeint? Neben den genannten 21 Prozent, die sich vorstellen können, in Pflegeberufen zu arbeiten, taucht eine andere Prozentzahl auf, die hier bedeutsam ist: »Knapp ein Viertel der befragten Jugendlichen kann sich vorstellen, in der Kindertagesbetreuung (24 Prozent) und Pflege (21 Prozent) zu arbeiten. Davon ist jeweils eine Kernzielgruppe (sechs Prozent Kita und vier Prozent Pflege) sehr interessiert und kann als bereits erreicht charakterisiert werden. Die weiteren 18 Prozent (Kita) beziehungsweise 17 Prozent (Pflege) sind als Potenzialzielgruppe grundsätzlich interessiert, müssen aber noch stärker aktiviert werden.«
Für die Pflege ergibt sich also: 21 Prozent können sich grundsätzlich eine Tätigkeit in der Pflege „vorstellen“, aber lediglich 4 Prozent seien „sehr interessiert“.
Zu den Ursachen für diese doch ganz erheblich Lücke zwischen Vorstellung und Interesse an Pflegeberufen berichtet das Ministerium: »Die wichtigsten Kriterien der Jugendlichen für die Berufswahl werden allerdings nur teilweise erfüllt: Sie bewerten die Weiterentwicklungs- und Karrierechancen kritisch und nehmen das Gehalt als zu gering wahr.« Und in dem Artikel Schlechter Lohn, keine Karriere wird das Kernproblem auf den Punkt gebracht:
»In der Wahrnehmung vieler Jugendlicher stimme „das Preis-Leistungs-Verhältnis“ bei den Berufen einfach nicht, fasste Silke Borgstedt, Leiterin Forschung und Beratung des Sinus-Instituts, die Ergebnisse der Befragung … zusammen.«
Ganz offensichtlich haben die jungen Menschen einen guten Riecher, wie es in der Realität der Pflegeberufe mit der Bezahlung aussieht. In großen Teilbereichen, vor allem in der ambulanten und stationären Altenpflege, einfach nur unterirdisch, gerade vor dem Hintergrund der fachlichen Anforderungen, die mit den Berufsbildern einhergehen (sollten).
Exkurs: „Systemrelevante Scheinriesen“ – das aktuelle Gewürge um eine überschaubare Prämie für einige Pflegekräfte als Beispiel für die kleinkarierten Wirklichkeiten
Auch wenn das derzeit angesichts der Normalisierungsversuche in den wirklichen wichtigen Handlungsfeldern Sommerurlaub und die noch ausstehende Öffnung der Fußballstadien für die nächste Bundesliga-Saison immer mehr verblasst und ins Vergessen gerät – erst vor wenigen Wochen wurde ein großes Bohai gemacht über die „systemrelevanten“ Berufe und dabei wurden stellvertretend gerade die Pflegeberufe als Epigonen der Systemrelevanz in den Zeugenstand gerufen. Und einige Politiker haben „damals“ den Gesetzen der uns beherrschenden Aufmerksamkeitsökonomie folgend versucht, mit einer „guten Tat“ schnell und wohlfeil Pluspunkte in der Öffentlichkeit zu sammeln, in dem man eine Prämie für die Helden der Pflege nicht nur forderte, sondern eine solche auch in Aussicht gestellt hat. Das ist schnell passiert – die tatsächliche Umsetzung hingegen ist dann nur so zu beschreiben: ein Trauerspiel. Vgl. dazu bereits den Beitrag Es hat sich ausgeklatscht und die versprochene Prämie für Pflegekräfte in der Altenpflege will keiner zahlen vom 21. April 2020.
Mittlerweile befinden wir uns im Juli 2020 und immer noch werden solche Kommentierungen in den Medien veröffentlicht: »Eben noch galten die Corona-Retter als unterbezahlt. Und jetzt sollen sie nicht mal mehr eine Prämie bekommen?«, so beispielsweise Robert Pausch unter der Überschrift Braucht jeder: »Heute ist auf den Balkonen der Alltag zurückgekehrt. Es wird nicht mehr geklatscht, sondern, wie üblich, geraucht, gestritten und vielleicht hin und wieder ein Falschparker notiert. Die Bundesregierung wiederum hat sich entschlossen, einen sogenannten Pflegebonus von bis zu 1500 Euro zu zahlen. Dieser allerdings gilt nur für die Altenpflege. Pflegekräfte im Krankenhaus erhalten von der Bundesregierung keine Prämie dafür, dass sie seit Beginn der Krise dort sind, wo das Risiko am größten ist … Das Bundesgesundheitsministerium begründet seine Prämienpolitik mit der Tatsache, dass die „Entlohnung in der Altenpflege aktuell noch nicht so hoch ist wie zum Beispiel die Entlohnung von Pflegekräften in Krankenhäusern“. Es ist eine Logik, die überraschend viel über die Ideologie verrät: Weil die einen noch schlechter bezahlt werden, sollen die anderen nicht mehr bekommen. Mit gleichem Recht ließe sich natürlich argumentieren, dass Krankenpflegekräfte erst recht mit Sonderzahlungen bedacht werden müssten, weil ihr Gehalt so deutlich unter dem, sagen wir, eines Oberarztes liegt. Aber hier begänne nach landläufiger Auffassung ja bereits die „Neiddebatte“.« Sein Fazit: »Nun reicht die Wertschätzung in der Krankenpflege ganz offensichtlich nicht einmal mehr für eine Einmalzahlung. Von den besseren Arbeitsbedingungen, den höheren Löhnen, überhaupt all den dramatischen Veränderungen, von denen gerade noch alle so überzeugungsfest sprachen, ist überhaupt nicht mehr Rede.«
Das ist sowieso der an sich heikle Punkt: So, wie die Prämie für die Altenpflegekräfte in den Bundesländern ausgestaltet und umgesetzt wird (durchaus unterschiedlich, wie es sich für unseren Föderalismus gehört), führt sie nicht nur zu Frustrationen bei den Pflegekräften, sondern die Prämie wirkt wie ein Spaltpilz innerhalb der Pflege (und darüber hinaus, wenn man an andere Berufsgruppen beispielsweise in der Behindertenhilfe usw. denkt). Ein sehr überschaubarer Betrag kann eine Menge Gift verbreiten. Und darüber hinaus von noch grundsätzlicherer Bedeutung: irgendwie haben diese Brosamen, die da vom Tisch der „dankbaren“ Gesellschaft fallen (sollen), den Charakter eines Ablasshandels, den Beigeschmack, man wolle sich irgendwie freikaufen von einem anfangs vorhandenen „schlechten Gewissen“. Und schlussendlich der strukturell entscheidende Punkt ist der Hinweis darauf, dass mit dieser möglicherweise am Anfang sicher gut gemeinten Aktion erneut der Blick verstellt wird auf die seit Jahren übrigens immer wieder eingeforderte eigentlich notwendige Tat: Eine strukturelle Verbesserung der Vergütung innerhalb der Pflege, damit verbunden eine dringend erforderliche und erhebliche Anhebung gerade der Vergütung in den Arbeitsfeldern der Altenpflege.
Und dass das nicht nur eine abseitige Außenseiterposition ist, sondern gleichsam höchst offiziell so gesehen wird, verdeutlichen diese Ausführungen des Bevollmächtigten der Bundesregierung für Pflege, Staatssekretär Andreas Westerfellhaus, die am 10. Juli 2020 unter der Überschrift Corona-Krise & Pflege: Nicht nur nach Fehlern, sondern nach Lösungen suchen! veröffentlicht wurden:
»Pflegekräfte brauchen nicht nur Applaus oder einmalige Pflegeboni, sondern vor allem eine flächendeckend attraktive Entlohnung mindestens auf Tarifniveau und optimale und familienfreundliche Arbeitsbedingungen. Es ist beschämend, dass so viele Arbeitgeber in der Langzeitpflege und in den Kliniken sich da einfach nicht bewegen wollen. Die Sozialpartner müssen sich endlich auf einen Tarifvertrag einigen, welcher auf die gesamte Langzeitpflegebranche erstreckt werden kann. In diesem Tarifvertrag sollten neben attraktiven Löhnen insbesondere zeitgemäße Arbeitszeitmodelle vorgesehen werden. Daneben muss endlich die Refinanzierung von Tariflöhnen Realität werden, so dass gerade auch ambulante Pflegedienste gegenüber Kostenträgern nicht mehr als Bittsteller auftreten müssen.«
An dieser Stelle wird sich der eine oder die andere an die großartigen Versprechen der derzeitigen Bundesregierung von vor über einem Jahr erinnern, dass es eine deutlich bessere Vergütung der Pflegekräfte geben muss und wird, vor allem in der Altenpflege. Am besten sei hier ein flächendeckender Tarifvertrag, der aber aus unterschiedlichen Gründen noch nicht zustande gekommen ist – und auf dessen Existenz man auch nicht wirklich größere Vermögensgegenstände verwetten sollte (zu den Hintergründen vgl. beispielsweise die Beiträge Ein flächendeckender Tarifvertrag für die stationäre und ambulante Altenpflege? Es ist und bleibt kompliziert vom 19. Januar 2019 sowie zu den enormen Widerständen gerade seitens der privaten Heimbetreiber der Beitrag Viele haben die Absicht, Tarifverträge in der Altenpflege allgemeinverbindlich zu erklären (wenn es welche geben würde)? Feuer frei von Seiten der privaten Arbeitgeber vom 30. März 2019).
In diesem Zusammenhang muss neben den nur branchenbezogen zu verstehenden Schwierigkeiten, zu einem Tarifvertragswerk zu kommen, das Grundlage sein könnte für eine Allgemeinverbindlicherklärung seitens des Bundes (hier sei nur an den Stellenwert der konfessionellen Träger erinnert mit ihrem „dritten Weg“), besonders auf die Strategie der privatgewerblichen Anbieter hingewiesen werden, eine tarifvertragliche Formatierung der Branche zu verhindern. Dabei haben die privaten Anbieter immer auf die Ausweichstrategie gesetzt und tun das auch heute noch, dass man – wenn überhaupt und auch das nur zähneknirschend – auf der kollektivvertraglichen Ebene eine Begrenzung auf eine dann allgemeinverbindliche Branchen-Mindestlohn-Regelung zu akzeptieren bereit ist. Mit der Festlegung von Mindestlöhne ist dann aber auch genug. Ganz offensichtlich ging und geht es um die Abwehr einer weit über eine reine Lohnuntergrenze hinausreichenden tarifvertraglichen Regelung der Löhne insgesamt und der Lohnstrukturen.
Nicht ein, sondern nunmehr gleich drei Pflege-Mindestlöhne und die Frage einer (Nicht-)Wertschätzung der Pflegeberufe
Der aufmerksame Beobachter der sozialpolitischen Entwicklungen in diesen aufgewühlten Tagen wird zur Kenntnis nehmen müssen, dass es Neues zu berichten gibt aus der Welt der Mindestlöhne, hier bewusst im Plural verwendet, da die meisten wenn überhaupt mit Mindestlohn den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn nach dem Mindestlohngesetz (MiLoG) verbinden, derzeit noch 9,35 Euro brutto die Stunde. Denn da gab es in diesen Tagen eine kurzen Moment der Aufregung:
Die Empfehlungen der Mindestlohnkommission den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von derzeit noch 9,35 Euro pro Stunde und seine Anhebung betreffend, die am 30. Juni verkündet wurden, sind einen Moment lang auf große Aufmerksamkeit in den Medien gestoßen (vgl. dazu den Beitrag Abgeräumt: Wer den in Cent umgerechneten Pfennig nicht ehrt … Bis 2022 ist Ruhe beim gesetzlichen Mindestlohn vom 8. Juli 2020. Die Kommission hat nicht nur eine Erhöhung auf 9,50 Euro ab dem 1. Januar 2020 empfohlen, sondern noch drei weitere Schritte, so dass bis Ende 2022 Ruhe an der Mindestlohnfront ist.
Zeitgleich – und das ist irgendwie in der Berichterstattung verloren gegangen – gab es zum 1. Juli 2020 noch andere Nachrichten aus der Mindestlohnwelt: So wurde „der“ Mindestlohn in der Pflege erhöht – was aber so nicht vollständig ist, denn tatsächlich gibt es nicht „den“ Pflegemindestlohn, sondern seit den Empfehlungen der Vierten Pflegekommission vom 28. Januar 2020 (vom zuständigen Bundesarbeitsministerium umgesetzt mit der Vierten Pflegearbeitsbedingungenverordnung – 4. PflegeArbbV vom 22. April 2020) haben wir drei pflegerelevante Mindestlöhne, gestaffelt nach der Qualifikation. Eine Übersicht dazu sowie die aktuelle Lohnhöhen einschließlich der bereits vereinbarten Steigerungsbeträge und des Inkrafttretens des neuen, dritten Mindestlohnes kann man der folgenden Abbildung entnehmen:
Am Anfang gab es nur einen Branchen-Mindestlohn in der Pflege für Hilfskräfte. Dann wurde ein zweiter, von der Höhe her etwas darüber liegender Mindestlohn für „qualifizierte Pflegehilfskräfte“ vereinbart, deren Qualifikation aus einer mindestens einjährigen Ausbildung als Pflegehelfer und einer entsprechenden Tätigkeit besteht. Und der nächste Sprung wird dann zum 1. Juli 2021 vollzogen mit der Scharfstellung eines dritten vereinbarten Branchen-Mindestlohns in der Pflege, diesmal für qualifizierte Pflegekräfte, also mit einer mindestens dreijährigen Ausbildung. Der soll Mitte des nächsten Jahres mit 15 Euro brutto starten und wird im Frühjahr 2022 um 40 Cent erhöht.
Und gerade dieser neue, dritte Pflege-Mindestlohn war und ist höchst umstritten. »Die Pflegebeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, Heike Baehrens, lehnt den Beschluss der Pflegekommission für die Fachkräfte ab. Ein Mindestlohn in der geplanten Höhe sei nicht akzeptabel«, konnte man beispielsweise am 16. Februar 2020 unter der Überschrift SPD: 15,40 Euro als Pflegestundenlohn viel zu wenig lesen:
»Dass es von Juli 2021 an erstmals einen bundeseinheitlichen Mindestlohn für dreijährig ausgebildete Fachkräfte geben soll, hält sie für ein „falsches Signal“. Die Kommission hatte festgelegt, dass der Wert von zunächst 15 Euro pro Stunde auf 15,40 Euro im April 2022 steigen soll, was bei einer 40-Stunden-Woche ein Grundentgelt von 2678 Euro bedeutet. „Die Fachkräfte brauchen das Zeichen, dass es künftig eine ordentliche Bezahlung geben wird“, sagte die Göppinger Abgeordnete … Das geplante Niveau liege aber unterhalb der durchschnittlichen Tariflöhne – „das ist nicht akzeptabel“. Schon der Begriff Mindestlohn sei „für eine examinierte Pflegekraft von der Symbolik her hochproblematisch“.«
Und dann finden wir in den dem Artikel einen interessanten Hinweis: »Baehrens zufolge hätte sich die Kommission darauf beschränken können, den Mindestlohn für die Pflegehilfskräfte bis 2022 auf 12,55 Euro pro Stunde „angemessen“ zu erhöhen. Sie hätte aber „nicht im Vorgriff auf ein vermeintliches Scheitern der Tarifverhandlungen schon einen Mindestlohn für Pflegefachkräfte aushandeln sollen“.«
So sieht es derzeit aus – einen relevanten Tarifvertrag, den man über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz* allgemeinverbindlich erklären könnte, wird es auf absehbare Zeit wahrscheinlich nicht geben. Dann bleibt dem Bundesarbeits- und dem Bundesgesundheitsministerium nur der zweite Weg, Mindestarbeitsbedingungen zu verallgemeinern, was aber gegenüber einem deutlich weitergehenden Tarifvertrag nur eine Second-best-Lösung sein kann.
*) Im Gegensatz zu anderen Branchen sieht das Arbeitnehmer-Entsendegesetz in der Pflegebranche verschiedene Verfahren zur Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen vor: Sowohl die branchenspezifisch gestaltete Tarifvertragslösung, mit der erstreckungsfähige tarifvertraglich geregelte Arbeitsbedingungen zum Gegenstand einer Rechtsverordnung gemacht werden können, als auch die Kommissionslösung ermöglichen es dem Verordnungsgeber, angemessene Mindestarbeitsbedingungen unter Beteiligung aller Trägerarten und auch des in der Pflegebranche wichtigen kirchlichen Bereichs zu regeln.
Bereits im Februar wurde berichtet, dass der Arbeitgeberverband der privaten Anbieter (BPA) laut jubelt: „Das Ergebnis macht deutlich, dass nun ein allgemein verbindlicher Tarifvertrag nicht mehr nötig ist“, frohlockt der BPA, der diesen Tarifvertrag verhindern will. „Niemand sollte sich mehr auf dünnes Eis begeben und den verfassungsrechtlich mehr als bedenklichen Weg der Allgemeinverbindlichkeit gehen“ – dass Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) „immer noch einer Kleingewerkschaft in der Altenpflege und einem Miniarbeitgeberverband hinterherhechelt“, sei nach dem Durchbruch nicht mehr zu erklären.
Unabhängig davon muss die Fixierung eines Pflege-Mindestlohnes für qualifizierte Pflegefachkräfte ab dem Sommer des kommenden Jahres in Höhe von 15 Euro in mehrfacher Hinsicht kritisch gesehen werden: Der wichtigste Aspekt ist dabei das ziemlich eindeutige Signal, dass das von den jungen Menschen, die im Auftrag des Bundesfamilienministeriums befragt wurden, diagnostizierte „gestörte Preis-Leistungs-Verhältnis“ nicht eine Vermutung, sondern bittere und in Euro-Beträge gegossene Realität ist. 15 Euro brutto pro Stunde für eine Vollzeitarbeit als examinierte Pflegekraft: Das wären aktuell 2.600 Euro brutto. Bei einem nicht-verheirateten Arbeitnehmer, Steuerklasse I, beispielsweise in Rheinland-Pfalz, würde sich ein Netto-Lohn in Höhe von 1.725,95 Euro pro Monat ergeben.
➞ Nur mal so als ein Vergleich: Vor einiger Zeit gab es einen Tarifkonflikt um die Vergütung der sogenannten Luftsicherheitsassistenten, die an den deutschen Flughäfen Passagier- und Handgepäckkontrollen durchführen. Am Ende des Konflikts hat man sich auf eine Vergütung in der untersten Lohngruppe von 19 Euro brutto verständigt. Wohlgemerkt, für eine sicher wichtige Arbeit, die aber keine dreijährige anspruchsvolle Ausbildung voraussetzt.
Und der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Staatssekretär Andreas Westerfellhaus, hat in seinem neuesten Statement – Corona-Krise & Pflege: Nicht nur nach Fehlern, sondern nach Lösungen suchen! vom 10. Juli 2020 – auch den Finger auf eine weitere (und dringend erforderliche) Anhebung des Tätigkeitsspektrums gelegt:
»Die Pandemie hat deutlich ins Bewusstsein gerückt, dass eine gute interprofessionelle Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe notwendig ist, um eine optimale Versorgung der Patienten und Pflegebedürftigen auch in Krisenzeiten sicherzustellen. Mit den Corona-Gesetzen wurde Pflegekräften und anderen Gesundheitsfachberufen mehr Verantwortung durch die Befugnis zur Ausübung von heilkundlichen Tätigkeiten ermöglicht. Dieser Schritt war richtig, da Pflegefachkräfte grundsätzlich zur Übernahme ausgewählter heilkundlicher Aufgaben qualifiziert sind. Und der Gesetzgeber hat diese Kompetenzen nun endlich anerkannt.
Nun gilt es, den Strategieprozess des Bundesministeriums für Gesundheit zur interprofessionellen Zusammenarbeit im Gesundheits- und Pflegebereich engagiert und auch zeitnah voranzutreiben und die für Notlagen übertragene Verantwortung in den Regelbetrieb zu übernehmen.
Aufgaben, wie beispielsweise die Versorgung chronischer Wunden, Diabetes oder Infusionstherapien sollten endlich auf Pflegefachkräfte übertragen werden. Gleichzeitig müssen aber auch die Fachkräfte stärker von einfachen pflegerischen Verrichtungen und pflegefernen Hilfstätigkeiten entlastet werden. Die Versorgung der Zukunft wird nur mit einem guten Qualifikationsmix und in verstärkter interprofessioneller Zusammenarbeit über die Sektorengrenzen hinaus gelingen können.«
Und das alles für mindestens 15 Euro (die aber auch erst ab Juli 2021)? Das ist gelinde gesagt kein Witz, sondern ein Schlag in das Gesicht qualifizierter Pflegekräfte. Denn gerade mit Blick auf die Altenpflege müssen wir schlichtweg mal zur Kenntnis nehmen, dass wir uns in den Pflegeheimen und den vielen Pflegediensten in einem weitgehend tariffreien Raum bewegen. Und dann kommt ein Charakterzug von Mindestlöhnen besonders zur Geltung: Mindestlöhne nicht als absolute Lohnuntergrenze für einen kleinen Teil der Beschäftigten (weil die meisten anderen deutlich darüber vergütet werden), sondern Mindestlöhne als Referenzlöhne, die in vielen Einrichtungen und Diensten die Lohnstrukturen an dieser Vorgabe ausrichten.
➞ Falls jetzt der eine oder andere die Frage aufwerfen möchte, wie hoch denn der Mindestlohn sein müsste, wenn man zum einen eine wirklich qualifikationsgerechte Abbildung in der Vergütung anstreben und zugleich ein klares und allen verständliches Signal aussenden möchte, dass es sich auch monetär lohnt, in die Pflege zu gehen, dann könnte eine Antwort lauten: 4.000 Euro brutto als Einstiegslohn. Das wäre aktuell ein Stundenlohn von 23,08 Euro bei einer 40-Stunden-Woche, netto wären das bei einem nicht-verheirateten Arbeitnehmer, Steuerklasse I, beispielsweise in Rheinland-Pfalz nach Abzug von 772 Euro Steuern und 801 Euro Sozialabgaben ein Netto-Verdienst von 2.426,71 Euro pro Monat. Nur mal so für die Konkretisierung der Größenordnungen.
Mit der Fixierung eines Mindestlohnes in Höhe von 15 Euro brutto für qualifizierte Pflegefachkräfte (ab Juli 2021) und der relativ sicheren Annahme, dass gerade in der Altenpflege der tarifpolitische Wilde Westen absehbar bestehen bleiben wird, müssen sich die vielen Skeptiker unter den jungen Menschen bestätigt fühlen und mit diesen Aussichten wird man kaum jemanden hinter dem Ofen hervorlocken, vor allem nicht in Zeiten, in denen andere Branchen angesichts der weniger werdenden jungen Menschen insgesamt in die Vollen gehen (müssen), was bessere Arbeitsbedingungen angeht angesichts des zunehmenden Wettbewerbs um Nachwuchskräfte. Wie man in so einer Konstellation verhindern will, dass das vielgestaltige Pflege-System nichts vollends an die Wand gefahren wird, muss das Geheimwissen der Verantwortlichen sein und bleiben. Wenn sie es denn überhaupt verstehen, was sie da – nicht – machen.