»Ausgerechnet Lidl: Der Discounter fordert einen gesetzlichen Mindestlohn im Einzelhandel von zehn Euro pro Stunde. Nur mit einer verbindlichen Untergrenze lasse sich der Missbrauch von Lohndumping in der Branche „und in jeder anderen“ wirksam unterbinden, schrieb Lidl-Chef Jürgen Kisseberth … allen Fraktionsvorsitzenden im Bundestag.«
Das Zitat stammt aus dem Jahr 2010 – fünf Jahre vor der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Januar 2015 in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde.
Quelle: Yasmin El-Sharif: Lidls List mit dem Mindestlohn, in: Spiegel Online, 21.12.2010
Am 30. Juni 2020 hat die Mindestlohnkommission ihren mittlerweile dritten Beschluss nach § 9 MiLoG veröffentlicht, die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes ab dem kommenden Jahr betreffend. Mindestlohnkommission beschließt Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns in vier Stufen, so ist die Pressemitteilung der Kommission dazu überschrieben: »Die Mindestlohnkommission hat einstimmig in ihrer heutigen Sitzung eine Anpassung der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns in vier Stufen beschlossen: Eine Anhebung auf 9,50 Euro zum 1. Januar 2021 und auf 9,60 Euro zum 1. Juli 2021 sowie auf 9,82 Euro zum 1. Januar 2022 und auf 10,45 Euro zum 1. Juli 2022.«
Zum neuen Beschluss der Kommission wird der Vorsitzende des Gremiums, Jan Zilius, mit diesen Worten zitiert: »Die Anpassung der Mindestlohnhöhe findet in Zeiten großer wirtschaftlicher Unsicherheit statt. Nach eingehenden Beratungen mit teilweise auch kontroverser Diskussion ist es den Sozialpartnern gelungen eine einvernehmliche Regelung zur Anpassung der Mindestlohnhöhe zu entwickeln. Eine besondere Schwierigkeit war dabei die aktuelle, Pandemie-bedingte Krise. Vor dem Hintergrund der vorliegenden Prognosen zur wirtschaftlichen Entwicklung sowie der Erkenntnisse zur Beschäftigungs- und Wettbewerbssituation hält es die Mindestlohnkommission im Rahmen einer Gesamtabwägung für vertretbar, den Mindestlohn in diesen Stufen und in diesem Umfang zu erhöhen, um den Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wirksam zu verbessern.«
Die Arbeitgeber sind offensichtlich zufrieden, folgt man den Ausführungen von Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA): »„Mit dem Beschluss haben wir einmal mehr bewiesen, wie gut Sozialpartnerschaft in Deutschland funktionieren kann und dass wir gemeinsam den Gesetzesauftrag umfassend und verantwortungsvoll wahrnehmen. Vor dem Hintergrund dieser beispiellosen wirtschaftlichen Rezession, war es das Gebot der Stunde, dass auch die Mindestlohnanhebung der derzeitigen Wirtschafts- und Arbeitsmarktsituation Rechnung tragen muss. Deshalb hat sich die Mindestlohnkommission in einem ersten Schritt auf einen Inflationsausgleich konzentriert und in den weiteren Schritten berücksichtigen wir die nachlaufende Tariflohnentwicklung. Durch die niedrigeren gestaffelten Anpassungsschritte für das Jahr 2021 schaffen wir vor allem für kleine und mittelständische Betriebe mehr Luft, da diese durch die Corona-Krise besonders hart getroffen sind und um ihre wirtschaftliche Existenz kämpfen müssen. Sie können sich somit von den Corona-bedingten Nachfrageeinbrüchen länger erholen und Beschäftigung langfristig sichern.«
Da wollen sich die Gewerkschaften offensichtlich nicht lumpen lassen (der DGB hat seine Pressemitteilung sogar euphemistisch so überschrieben: Mindestlohn steigt deutlich) und der DGB-Vertreter in der Kommission, Stefan Körzell, stimmt entsprechend in den Zufriedenheitschor ein: »Trotz schwieriger Verhandlungen hat sich die Mindestlohnkommission einstimmig für ein Anheben des Mindestlohns ausgesprochen, der im zweiten Jahr des Erhöhungszeitraums mit 10,45 Euro auch deutlich über dem Tarifindex liegen wird. Allein in den nächsten beiden Jahren bringen die Mindestlohnsteigerungen insgesamt knapp 2 Milliarden Euro mehr im Portmonee der Beschäftigten. Der von Vielen geäußerte Wunsch nach einer Aussetzung der Erhöhung konnte sich in der Kommission am Ende nicht durchsetzen. Im Jahr 2023 setzt die nächste Entscheidung der Mindestlohnkommission auf 10,45 Euro auf. Das ist ein deutlicher Schritt, um schneller zu den geforderten 12 Euro zu kommen.«
Am Ende seines Statements weist Körzell zumindest darauf hin, was man sich auf der Seite der Gewerkschaften eigentlich als eine „deutliche Steigerung“ des gesetzlichen Mindestlohnes vorgestellt hat: eine Anhebung auf 12 Euro pro Stunde. Das nun bleibt auf absehbare Zeit – was hier meint auf Sicht von mehreren Jahren – in weiter Ferne.
➔ Dabei hatten die Gewerkschaften und ihnen nahestehende Wissenschaftler im Vorfeld noch versucht, (wieder einmal) Druck aufzubauen für eine von unterschiedlichen Seiten geforderte Anhebung auf 12 Euro pro Stunde. So meldete sich die Hans-Böckler-Stiftung am 5. Juni 2020 unter der Überschrift Mindestlohn: Deutliche Erhöhung sinnvoll zur Stärkung der Nachfrage – Forscher plädieren für schrittweise Anhebung auf 12 Euro zu Wort: »Ein deutlich höherer Mindestlohn kommt Beschäftigten zu Gute, die sehr wenig verdienen und zusätzliches Einkommen umgehend ausgeben werden. Forderungen nach einer zurückhaltenden Anpassung oder gar Nullrunde beim Mindestlohn mit Hinweis auf die Corona-Krise sind dagegen fehl am Platze«, so Thorsten Schulten, Tarifexperte beim WSI. »Gemessen am mittleren (Median-)Lohn von Vollzeitbeschäftigten lag der deutsche Mindestlohn nach den aktuellsten verfügbaren Daten mit 45,6 Prozent deutlich niedriger als im EU-Durchschnitt (50,7 Prozent). Und anders als in vielen anderen Ländern sank die Quote in den vergangenen Jahren. Ein Mindestlohn bei 60 Prozent des Medians und damit oberhalb der Schwelle, bei der nach verbreiteter wissenschaftlicher Definition von „Armutslöhnen“ gesprochen wird, müsste in Deutschland aktuell 12,21 Euro betragen … 60 Prozent des Medians sind auch die Zielmarke, die derzeit in der Europäischen Union im Hinblick auf eine mögliche europäische Mindestlohninitiative diskutiert werden. Würde der deutsche Mindestlohn analog auf 12 Euro angehoben, könnten davon schätzungsweise rund 10 Millionen Beschäftigte profitieren und damit mehr als doppelt so viele wie bei der Einführung 2015.«
Das alles basiert auf dieser Studie des WSI gemeinsam mit dem IMK:
➞ Alexander Herzog-Stein, Malte Lübker, Toralf Pusch, Thorsten Schulten, Andrew Watt und Rudolf Zwiener (2020): Fünf Jahre Mindestlohn – Erfahrungen und Perspektiven. Gemeinsame Stellungnahme von IMK und WSI anlässlich der schriftlichen Anhörung der Mindestlohnkommission 2020. Policy Brief WSI Nr. 42, Düsseldorf: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI), Juni 2020
Nun steht in der Überschrift der Pressemitteilung der Böckler-Stiftung nicht ohne Grund der Zusatz „schrittweise Anhebung“: »Um den Unternehmen genügend Anpassungsmöglichkeiten an ein höheres Lohnniveau einzuräumen, wäre es nach der Analyse von WSI und IMK auch in Deutschland sinnvoll, die Erhöhung des Mindestlohns in einem mehrjährigen Stufenplan durchzuführen. Als Beispiel für solch ein Konzept nennen die Experten den im März 2020 abgeschlossenen Tarifvertrag in der Systemgastronomie, der vor allem die großen Fast-Food-Ketten wie McDonald‘s, Burger King usw. umfasst … Mit dem Tarifabschluss sei nun eine grundlegende Aufwertung gelungen, bei der in mehreren jährlichen Schritten die untersten Tariflöhne bis 2024 auf 11,80 bis 12,00 Euro pro Stunde angehoben werden.« Bei dem Hinweis auf den Tarifabschluss in der Systemgastronomie wird der eine oder andere möglicherweise aber unruhig, denn das kann man auch ganz anders, also nicht als eine Erfolgsgeschichte bewerten, vgl. dazu den Beitrag Ein „kleine Verbesserung“ ihrer finanziellen Lage oder „deutlich mehr Geld“? Für die 120.000 Beschäftigten in der Systemgastronomie gibt es einen neuen Tarifvertrag vom 3. März 2020.
Und nur der Vollständigkeit halber: Die Forderung nach einem Sprung beim gesetzlichen Mindestlohn auf 12 Euro ist keineswegs im Sommer 2020 vom Himmel gefallen. gehen wir beispielsweise mal zurück in das Jahr 2017: Scholz will Mindestlohn auf 12 Euro anheben, so war eine Meldung vom 3. November 2017 überschrieben. Nun könnte man angesichts der Tatsache, dass wir inzwischen die erste Hälfte des Jahres 2020 hinter uns gebracht haben, die Frage an die Gewerkschaften stellen: Warum sind denn die – dann auch noch nur „schrittweise“, also über mehrere Jahre anzustrebenden – 12 Euro offensichtlich „eingefroren“ worden? Hätte man nicht noch eine Schippe rauflegen müssen?
Zurück in die Niederungen der einzelnen Cent-Beträge. Warum eigentlich 9,50 – 9,60 – 9,82 – 10,45 Euro?
Bei den genannten Anhebungsbeträgen handelt es sich formal um Empfehlungen der Mindestlohnkommission, die dann vom zuständigen Bundesarbeitsministerium umgesetzt werden (können). Bislang wurde das immer eins zu eins auch so übernommen und der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat sogleich verkündet, das auch mit dem neuen Beschluss auf dem Verordnungsweg so zu machen.
In der Abbildung am Anfang dieses Beitrags ist allerdings vermerkt worden, dass „eigentlich“ eine Anhebung auf 9,82 Euro brutto pro Stunde zum 1. Januar 2021 hätte stattfinden müssen, tatsächlich werden es nur 9,50 Euro sein. Was heißt hier „eigentlich“ und wie kommt es zu der Abweichung?
Dazu muss man sich die hier relevante Rechtsgrundlage anschauen, konkret den § 9 Mindestlohngesetz (MiLoG). Dort findet man im Absatz 2 diese Vorschrift:
»Die Mindestlohnkommission prüft im Rahmen einer Gesamtabwägung, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden. Die Mindestlohnkommission orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung.«
Und um die Anhebungstreppe (oder je nach Sichtweise das Anhebungstreppchen) zu verstehen, muss man noch den Absatz 1 der Norm zur Kenntnis nehmen: »Die Mindestlohnkommission hat über eine Anpassung der Höhe des Mindestlohns erstmals bis zum 30. Juni 2016 mit Wirkung zum 1. Januar 2017 zu beschließen. Danach hat die Mindestlohnkommission alle zwei Jahre über Anpassungen der Höhe des Mindestlohns zu beschließen.«
Von entscheidender Bedeutung ist die Formulierung: Die Mindestlohnkommission orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung. Die wird abgebildet über den Tarifindex, der vom Statistischen Bundesamt geliefert wird. Wenn man sich also ausschließlich an dieser Rechenvorschrift orientiert, dann braucht man nicht wirklich eine Mindestlohnkommission, da reicht eine Excel-Tabelle mit der Entwicklung der Tarifverdienste, die das Statistische Bundesamt nach Berlin per Mail schickt, völlig aus (vgl. dazu bereits meinen Beitrag Der gesetzliche Mindestlohn und seine rechnerische Zähmung vom 29. Juni 2016).
Rückblickend hat sich die folgende Entwicklung ergeben – die man nur versteht, wenn man die „Altlasten“ kennt, die von der Kommission „mitgeschleppt“ werden:
➔ Die nachlaufende Orientierung an der Tarifentwicklung hat man im Sommer des Jahres 2016 dem Grunde nach zur Anwendung gebracht: Damals lag der Tarifindex für den Zeitraum 1. Januar 2015 bis 30. Juni 2016 der Entscheidung zugrunde. Danach hätte der Mindestlohn zum 1. Januar 2017 von 8,50 Euro auf 8,77 Euro steigen dürfen. Aber es sind doch dann tatsächlich 8,84 Euro geworden? Hier muss man eben die Formulierung „dem Grunde nach“ beachten, denn damals gab es das Problem, dass der kurz zuvor geschlossene Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst, der aber erst zum August 2016 in Kraft getreten ist, formal nicht für die Anpassungsentscheidung berücksichtigt werden durfte. Außer, die Kommission trifft eine davon abweichende Entscheidung, was sie auch getan hat. Auf Wunsch der Gewerkschaftsseite. Resultat: 8,84 Euro. Aber: Zugleich wurde vereinbart, dass die ursprünglich aus dem Tarifindex abgeleiteten 8,77 Euro die Basis für die nächste Mindestlohnerhöhung sein sollen, die dann wieder nach zwei weiteren Jahren fällig wird.
➔ Dann kam die zweite Anhebungsverhandlung. Nach dem Tarifindex des Statistischen Bundesamts, der aus 700 Tarifverträgen gebildet wird, stiegen die Löhne in dem Zeitraum 2016 und 2017 um durchschnittlich 4,8 Prozent. Der gesetzliche Mindestlohn müsste demnach zum 1. Januar 2019 um ebenfalls 4,8 Prozent für die darauffolgenden zwei Jahre angehoben werden. Das Ergebnis dieser Regelbindung unter Berücksichtigung des alten eigentlich richtigen Mindestlohnes liest sich dann so:
➞ 8,77 Euro + 4,8 Prozent (= 42 Cent) = 9,19 Euro.
So ist es dann ja auch zum 1. Januar 2019 auch gekommen. Und eigentlich hätte der dann auch wieder zwei Jahre gegolten. Eigentlich, denn:
Schon wieder wollten die Gewerkschaften den wunderschönen, weil einfachen Rechenweg „verunreinigen“ – verständlicherweise, denn im Frühjahr 2018 gab es einige Tarifabschlüsse mit durchaus attraktiven Steigerungsraten, die ansonsten diesmal für eine Anpassung – wohlgemerkt ab dem nächsten Jahr – keine Berücksichtigung gefunden hätten. Das haben die Gewerkschaften (nicht) bekommen. An dieser Stelle gab es insofern eine „Überraschung“, als dass die Mindestlohnkommission diesmal nicht bei dem beschriebenen Automatismus einer aus dem Tarifindex abgeleiteten Erhöhung des Mindestlohnes für die nächsten zwei Jahre (wohlgemerkt ab Januar 2019) stehen geblieben ist. Ganz offensichtlich wollte man den Gewerkschaften ein wenig entgegenkommen, denn die hatten ja wenigstens die Berücksichtigung der Tarifabschlüsse aus dem Frühjahr 2018 für den neuen Mindestlohn ab 2019 gefordert. Das bekamen sie nun (nicht), denn das Formel-Ergebnis von 9,19 Euro blieb (+35 Cent), wurde allerdings aufgeweicht nach einem langen Jahr Laufzeit durch eine weitere Erhöhung um überschaubare +16 Cent pro Stunde auf 9,35 Euro ab dem 1. Januar 2020.
Die Kommission schreibt dazu in ihrem Beschluss vom 26. Juni 2018: »Die zweite Stufe berücksichtigt auch die Abschlüsse im ersten Halbjahr 2018.«
Aber gemäß dem Motto „Und täglich grüßt das Murmeltier“ lesen wir in dem Beschluss aus dem Jahr 2018 auch, dass für die nächste Anhebung, die bis zum 30. Juni 2020 mit Wirkung zum 1. Januar 2021 erfolgen muss, von einem Betrag in Höhe von 9,29 Euro (und eben nicht von den „verunreinigten“ 9,35 Euro) auszugehen ist, dann angereichert um die Tariflohnsteigerungen der Jahre 2018 und 2019.
➔ Und nun also – inmitten der Corona-Krise des Jahres 2020 – standen die Verhandlungen der Mindestlohnkommission über die turnusgemäße Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns ab dem 1. Januar 2021 an. Der „normale“ Verfahrensverlauf wäre gewesen, ausgehend von 9,29 Euro (und nicht wie beschrieben von den derzeit gültigen 9,35 Euro) die Tarifentwicklung der Jahre 2018 und 2019 als Maßstab für die Anhebung zu nehmen. »Würde die Mindestlohnkommission ihren gewohnten Verfahrensregeln weiter folgen, hätte sie es … leicht: Sie würde feststellen, dass die Tariflöhne gemäß amtlicher Statistik in den beiden vergangenen Jahren um 5,7 Prozent gestiegen sind. Sie würde ihren Mindestlohnbeschluss aus dem Jahr 2018 noch einmal prüfen – und käme dann über eine kleine Rechenaufgabe zu dem Ergebnis, dass die allgemeine Lohnuntergrenze zum 1. Januar 2021 von bisher 9,35 Euro auf 9,82 Euro je Stunde anzuheben sei«, so Dietrich Creutzburg in seinem Artikel Mindestlohn steigt auf 9,82 Euro – oder mehr. Und er berichtet korrekt das, was hier schon erläutert wurde: »Für die 2020 anstehende „Anpassungsentscheidung gemäß der Entwicklung des Tarifindex“ sei „von einem Betrag von 9,29 Euro auszugehen“. Die 5,7 Prozent Tarifplus sollen also auf 9,29 und nicht auf 9,35 Euro aufsetzen – damit die damals außerplanmäßig hinzugerechneten Tarifabschlüsse nun zumindest nicht in voller Höhe doppelt einfließen.« Also wäre nach einer „normalen“ Anhebung der gesetzliche Mindestlohn ab dem 1. Januar 2021 auf 9,82 Euro pro Stunde zu taxieren.
Aber was ist schon „normal“ in Corona-Zeiten – wie auch angesichts des enormen politischen Drucks, der in den zurückliegenden Monaten aufgebaut wurde, um die magischen 12 Euro Mindestlohn zu erreichen. Und für beide Seiten – also für die Arbeitgeber wie auch für die Gewerkschaften – gab es für sich betrachtet gute Gründe, auf die selbst im Mindestlohngesetz an sich weiter gefasste Vorschrift zur Ermittlung einer Anpassung der Mindestlohnhöhe als eine banale nachlaufende Abbildung der Tarifentwicklung im Steigerungsbetrag Bezug zu nehmen, denn vor dem Hinweis auf die Orientierung am Tarifindex steht dieser Satz: »Die Mindestlohnkommission prüft im Rahmen einer Gesamtabwägung, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden.«
Vor diesem Hintergrund ist klar, dass die Arbeitgeber den Auftrag, dass die Mindestlohnhöhe die Beschäftigung nicht gefährden soll, aufgreifen, um angesichts der derzeitigen schwerwiegenden Rezession, deren weiterer Verlauf nur mit größten Unsicherheiten einschätzbar ist, die ansonsten fällige Anhebung des Mindestlohnes in Frage zu stellen.
➞ Kurz vor der Sitzung der Mindestlohnkommission wurde dann ein Stoßtrupp vorgeschickt, dessen Aufgabe darin bestand, eine für die Gegenseite unannehmbare Forderung zu platzieren (um dann jeden darüber liegenden Abschluss als Erfolg erscheinen zu lassen): »Die Arbeitsgemeinschaft Wirtschaft und Energie der CDU/CSU im Bundestag hat in der Corona-Krise einige Vorschläge zu Papier gebracht … So wollen die Wirtschaftspolitiker den Mindestlohn absenken oder zumindest im kommenden Jahr nicht erhöhen.« Das hat dann zu den erwartbaren Reaktionen geführt – nicht nur bei der SPD und den Gewerkschaften, sondern auch innerhalb der Union: »Dagegen stellt sich klar die CDU-Spitze: Die Krise dürfe nicht zulasten von Arbeitnehmern gehen, schreibt Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer bei Twitter und: „Hände weg vom Mindestlohn“. Ähnlich äußerte sich CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak: Wer für den Mindestlohn arbeite, habe es gerade in der Corona-Krise schwer – etwa wegen der steigenden Lebensmittelpreise. Deshalb sei die Debatte über eine Absenkung des Mindestlohns „überhaupt keine Position der CDU“«, so dieser Beitrag: CDU-Spitze räumt Mindestlohn-Vorstoß ab.
Allen relevanten Playern auch auf der Arbeitgeberseite war klar, dass damit eine Maximalposition in den Raum gestellt wurde, die es nicht geben wird – aber das war sowieso schon eingepreist, denn es ging der Arbeitgeberseite vor allem darum, den fälligen Anstieg des Mindestlohnes abzuschwächen und zugleich einen Damm hochzuziehen gegen diese 12 Euro-Forderung der Gewerkschaftsseite. Und ganz offensichtlich ist das auch gelungen, wenn man sich das Ergebnis vor diesem Hintergrund anschaut und einordnet:
➔ Die eigentlich fällige Mindest-Erhöhung auf 9,82 Euro wird erst zum Jahr 2022 erreicht, das ganze kommende Jahr 2021 wird der Mindestlohn darunter liegen (9,50 Euro ab dem 1. Januar und 9,60 Euro ab dem 1. Juli 2021). Das ist schon mal ein „Gewinn“ für die Arbeitgeberseite (wenn man die Frage des Umgangs mit der Mindestlohnhöhe auf eine betriebswirtschaftliche reduziert, also eine Engführung auf die immer vorhandene Kosten-Seite des Lohnes, zugleich aber ausblendet, dass volkswirtschaftlich gesehen die Löhne die Wirbelsäule der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage darstellen). Nun war klar, dass das schon unabhängig von der seit Jahren mitlaufenden Forderung nach einem ordentlichen Sprung nach oben beim Mindestlohn eine veritable Niederlage der anderen Seite wäre, also der Gewerkschaften. Also musste man denen entgegenkommen für den Verzicht im ersten Jahr der zweijährigen Laufzeit – ohne gleichzeitig zu nah an die geforderten 12 Euro zu kommen. Also hat man einen auf den ersten Blick ordentlich daherkommenden „Sprung“ auf 10,45 Euro ab dem 1. Juli 2022 eingebaut, der vor allem der Gesichtswahrung der Gewerkschaften dient, die nunmehr die politpsychologisch wichtige Marke von 10 Euro genommen haben, wenn auch erst in zwei Jahren, was man hier nochmals deutlich hervorheben sollte. Das ist dann aber immer noch ganz weit weg von den seit Jahren (!) geforderten 12 Euro. Aber man hat das Thema bis weit in das Jahr 2022 erst einmal abgeräumt und kann von der Annahme ausgehen, dass in zwei Jahren die Arbeitswelt wieder deutlich besser für die Arbeitnehmer-Seite aussieht als derzeit inmitten der unübersichtlichen Gefechtslage aufgrund der Corona-Krise.
Insofern haben wir es mit einem wahrlich deutscher Kompromiss der funktionierenden „Sozialpartnerschaft“ zu tun, wie man ihn aus den vielen normalen Tarifverhandlungen kennt. Davon unberührt bleibt natürlich der vergiftete Beigeschmack, dass es zuallerletzt um die betroffenen Mindestlöhner selbst ging und geht. Denn mit diesen Geldbeträgen – wohlgemerkt für eine Vollzeitarbeit – kann man nun wirklich keine halbwegs erdenklichen Sprünge machen, ganz im Gegenteil, es steht zu befürchten, dass die vielen Menschen, die nur zum Mindestlohn arbeiten müssen, relativ gesehen weiter abgekoppelt werden von der Wohlstandsentwicklung in diesem Land und damit auch der Preisentwicklung in vielen Segmenten des alltäglichen Lebens.
Und ein trauriger Ausblick für nicht wenige Niedriglöhner: Altersarmut weiter ante portas – wenn man von einem Mindestlohnleben leben muss und keine weiteren bedeutsamen Alterseinkommen hätte
Und auch mit Blick auf eine andere Dimension ist der zukünftige Mindestlohn mehr als ernüchternd: »Die Lohngrenze müsse künftig hoch genug sein, damit niemand, der Vollzeit arbeite, im Alter auf öffentliche Hilfe angewiesen sei.« So wurde beispielsweise Olaf Scholz bereits 2017 in diesem Beitrag zitiert: Scholz will Mindestlohn auf 12 Euro anheben. Das hört man immer wieder. Und wie sieht es mit den nunmehr vereinbarten zukünftigen Mindestlöhnen aus? Neuer Mindestlohn führt weiterhin in die Altersarmut, so ist ein Artikel von Marion Zwick überschrieben, der mit einer für die Betroffenen deprimierenden Botschaft daherkommt – selbst unter Berücksichtigung der nächsten angeblich großen sozialpolitischen Heldentat, die in diesen Tagen diskutiert wurde: der Verabschiedung des Grundrentengesetzes:
»Die Stundensätze steigen in vier Schritten bis Juli 2022 auf 10,45 Euro. Allerdings reicht dies nicht, um die Betroffenen vor der Altersarmut zu schützen. Die gesetzliche Altersrente eines Arbeitnehmers bleibt nämlich selbst nach 35 Jahren Erwerbstätigkeit auf Mindestlohnniveau und trotz der neuen zusätzlichen Grundrente unter der Armutsgrenze.«
Der Rechenweg geht so: »Ein Arbeitnehmer mit einem Mindestlohn von 10,45 Euro pro Arbeitsstunde hat bei einer 40-Stundenwoche ein Jahresbruttoeinkommen von rund 21.736 Euro beziehungsweise 1.811 Euro im Monat. Das Durchschnittsentgelt aller gesetzlich Rentenversicherten, das zur Berechnung der jährlich erreichten Entgeltpunkte zugrunde liegt, beträgt im Jahr 2020 vorläufig 40.551 Euro in den alten und 37.898 Euro in den neuen Bundesländern.
Dem genannten Arbeitnehmer mit einem Mindestlohn von 10,45 Euro würden somit pro Jahr rund 0,536 Entgeltpunkte in West- beziehungsweise knapp 0,574 Entgeltpunkte in Ostdeutschland auf seinem Rentenkonto gutgeschrieben.
Daraus ergibt sich nach 35 Jahren Erwerbstätigkeit auf Grundlage des aktuellen Rentenwerts (34,19 Euro West und 33,23 Euro Ost) ein Anspruch auf eine gesetzliche Altersrente in Höhe von Brutto rund 641 Euro in West- und 667 Euro in Ostdeutschland.
Nach 45 Jahren mit einem Mindestlohn von 10,45 Euro pro Arbeitsstunde beläuft sich die gesetzliche Altersrente auf etwa 825 Euro in West- und 858 Euro in Ostdeutschland.«
Aber es gibt jetzt doch bald diese Grundrente?
»Nach einem aktuellen Beschluss der Bundesregierung hat ein Geringverdiener, der im Durchschnitt pro Jahr mindestens 0,3 und maximal 0,8 Entgeltpunkte erreicht, nach 35 Jahren einen Anspruch auf eine zusätzliche Grundrente im vollen Umfang bis maximal 404,86 Euro. Hierbei werden die erreichten Entgeltpunkte verdoppelt, jedoch maximal auf 0,8 Entgeltpunkte pro Jahr angehoben – davon werden 12,5 Prozent abgezogen.
Aktuell würde sich damit die Grundrente auf Basis des genannten Mindestlohnbeispiels auf circa 267 Euro in West- und 230 Euro in Ostdeutschland belaufen. Insgesamt bekäme der Arbeitnehmer damit eine gesetzliche Gesamtrente, also gesetzliche Altersrente plus Grundrente von rund 918 Euro in West- und 898 Euro in Ostdeutschland.
Diese Rentenleistung inklusive Grundrente wäre damit zwar deutlich höher als die Altersrente ohne Grundrente, die dem Arbeitnehmer mit Mindestlohn selbst nach 45 Jahren Erwerbstätigkeit zustehen würde, sie liegt aber immer noch unter der Armutsgrenze.
Zumal die genannten Rentenhöhen Bruttowerte sind. Hiervon sind noch die Beiträge für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung zu zahlen.«