Das Instrument der „Kleinen Anfrage“ wird vor allem von den Parteien auf den Oppositionsbänken gerne genutzt, um der Regierung mehr oder weniger unangenehme Fragen zu stellen. Und man kann aus den Antworten immer auch viele nützliche Informationen herausziehen. Beispielsweise eine solche:
»Die Leistungen zur Deckung der Regelbedarfe werden als pauschalierter Gesamtbetrag erbracht, dessen Ermittlung auf statistischen Methoden – basierend auf der jeweils aktuellen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes (EVS) – beruht. Die Aufwendungen für Gesundheit – worunter auch Sehhilfen fallen – sind in vollem Umfang und verfassungskonform berücksichtigt worden … Soweit die Krankenkassen Kosten für Sehhilfen nicht übernehmen, ist ein entsprechender Bedarf aus den pauschalierten Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs zu bestreiten. Sollten die Eigenleistungen für Sehhilfen im Einzelfall hieraus nicht erbracht werden können und handelt es sich nach den Umständen um einen unabweisbaren Bedarf, kann der zuständige Träger der Grundsicherung gegebenenfalls ein zinsloses Darlehen erbringen.«
So antwortet die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Deutschen Bundestag:
➔ Kosten für Brillen bei Hartz IV und Sozialhilfe, Bundestags-Drucksache 19/19519 vom 27.05.2020.
Wenn man sich die einführenden Worte der fragestellenden Fraktion anschaut, dann wird man sehr schnell ahnen, dass das als eine mehr als unbefriedigende Auskunft gewertet wird:
»Wenn Menschen Hartz IV oder Sozialhilfe beziehen und eine Brille brauchen, ist nach Ansicht der Fragesteller die Finanzierung nicht gesichert. Laut § 24 Absatz 3 Nummer 3 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) sind Einmalleistungen für Sonderbedarfe nur für die Reparatur von Brillen, aber nicht für die Anschaffung von Brillen vorgesehen. Dieselbe strenge Regelung gilt für Leistungsberechtigte in der Hilfe zum Lebensunterhalt und in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (§§ 31 Absatz 1 Nummer 3, 42 Nummer 2 SGB XII).«
Dann wird auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen: »Im Jahr 2014 hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) angemahnt, dass bei seltenen Ausgaben in existenzsichernden Bereichen darauf geachtet werden muss, ob diese Bedarfe im Einzelfall wirklich gedeckt werden können (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 – BvL 10/12, Rz. 119). Das BVerfG hatte insbesondere auf eine mögliche Unterdeckung hingewiesen, „wenn Gesundheitsleistungen wie Sehhilfen weder im Rahmen des Regelbedarfs gedeckt werden können noch anderweitig gesichert sind“ (ebd., Rz. 120).«
➔ An dieser Stelle eine kurze Einordnung der BVerfG-Entscheidung aus dem Jahr 2014: Mit diesem Urteil haben die Verfassungsrichter damals die heftig umstrittene Bemessung der Regelbedarfe in der Grundsicherung „gerade noch“ als zulässig befunden. In den Leitsätzen zu BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 23. Juli 2014, 1 BvL 10/12 finden wir diese Hinweise des Gerichts:
»1. Zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG) dürfen die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, im Ergebnis nicht verfehlt werden und muss die Höhe existenzsichernder Leistungen insgesamt tragfähig begründbar sein. 2. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, aus der grundsätzlich zulässigen statistischen Berechnung der Höhe existenzsichernder Leistungen nachträglich in Orientierung am Warenkorbmodell einzelne Positionen herauszunehmen. Der existenzsichernde Regelbedarf muss jedoch entweder insgesamt so bemessen sein, dass Unterdeckungen intern ausgeglichen oder durch Ansparen gedeckt werden können, oder ist durch zusätzliche Leistungsansprüche zu sichern.«
In der von der fragestellenden Fraktion angesprochenen Randziffer 119 führen die Richter grundsätzlich zum Ansparmodell aus:
»Gegen die Regelung in § 20 Abs. 1 Satz 4 SGB II, wonach Bedürftige Mittel zur Bedarfsdeckung eigenverantwortlich ausgleichen und ansparen müssen, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht grundsätzlich nichts einzuwenden. Ein solches Modell ist mit dem Grundgesetz vereinbar, wenn die Höhe der pauschalen Leistungsbeträge für den monatlichen Regelbedarf es zulässt, einen Anteil für den unregelmäßig auftretenden oder kostenträchtigeren Bedarf zurückzuhalten. Es ist vorliegend jedenfalls nicht erkennbar geworden, dass existenzgefährdende Unterdeckungen eintreten. Doch muss der Gesetzgeber künftig darauf achten, dass der existenznotwendige Bedarf insgesamt gedeckt ist (unten D I). Dies setzt voraus, dass die Bemessung der Regelbedarfe hinreichend Spielraum für einen Ausgleich lässt.«
Und in der ebenfalls angesprochenen Randziffer 120 finden wir dann diesen Hinweis, u.a. werden die Sehhilfen konkret angesprochen:
»Nach der vorliegenden Berechnungsweise des Regelbedarfs ergibt sich beispielsweise die Gefahr einer Unterdeckung hinsichtlich der akut existenznotwendigen, aber langlebigen Konsumgüter, die in zeitlichen Abständen von mehreren Jahren angeschafft werden, eine sehr hohe Differenz zwischen statistischem Durchschnittswert und Anschaffungspreis. So wurde für die Anschaffung von Kühlschrank, Gefrierschrank und -truhe, Waschmaschine, Wäschetrockner, Geschirrspül- und Bügelmaschine (Abteilung 05; BTDrucks 17/3404, S. 56, 140) lediglich ein Wert von unter 3 € berücksichtigt. Desgleichen kann eine Unterdeckung entstehen, wenn Gesundheitsleistungen wie Sehhilfen weder im Rahmen des Regelbedarfs gedeckt werden können noch anderweitig gesichert sind.«
Und wie hat die Bundesregierung darauf reagiert? Im Jahr 2016 wurde der „Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch“, Bundestags-Drucksache 18/9984 vom 17.10.2016, vorgelegt und dann auch verabschiedet, mit dem auf die beiden Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts – also das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 sowie der Beschluss vom 23. Juli 2014. In dem Gesetzentwurf der Bundesregierung findet man hinsichtlich der hier besonders interessierenden Brillen diese klare Positionierung:
»Für Sehhilfen wird angesichts der vollständigen Berücksichtigung der Verbrauchsausgaben für therapeutische Mittel und Geräte (einschl. Eigenanteile) in Abteilung 6 im Regelbedarf und unter Berücksichtigung der Entscheidung des BSG vom 26. Juni 2016 (B 3 KR 21/15 R)* kein weitergehender Handlungsbedarf im System der staatlichen Fürsorgeleistungen gesehen.«. (S. 24)
*) Die hier explizit angesprochene Entscheidung des Bundessozialgerichts – BSG, Urteil vom 23.6.2016, B 3 KR 21/15 R – beinhaltet diese beiden Leitsätze, die hier umkommentiert zitiert werden: »1. Auch ein auf einem Auge erblindeter volljähriger Versicherter kann von der Krankenkasse die Versorgung mit Brillengläsern oder Kontaktlinsen als allgemeine Sehhilfen zur Verbesserung der Sehschärfe des anderen Auges nur beanspruchen, wenn er bei jeweils bestmöglicher Korrektur noch eine Sehbeeinträchtigung mindestens der Stufe 1 der von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Klassifikation des Schweregrades der Sehbeeinträchtigung vom 10.11.1972 aufweist. 2. Bei funktioneller Einäugigkeit ist der Anspruch auf Versorgung mit einer Kontaktlinse als therapeutische Sehhilfe zum Schutz des anderen Auges seit dem 7.2.2009 ausgeschlossen.«
Vollständige Berücksichtigung der Verbrauchsausgaben für therapeutische Mittel und Geräte (einschl. Eigenanteile)? Was muss man sich konkret darunter vorstellen? Auf der Seite 41 des Gesetzentwurfs wird man dann darüber informiert, dass der Gesetzgeber unter einer „vollständigen Berücksichtigung der Verbrauchsausgaben für therapeutische Mittel und Geräte (einschl. Eigenanteile)“, einen monatlichen Betrag von 2,70 Euro versteht.
Anders formuliert: Die Hartz IV- und die Sozialhilfeempfänger sollen also jeden Monat diese 2,70 Euro in ein Sehhilfe-Sparschwein stecken und wenn dann eine neue Brille fällig wird, dann müssen sie das Porzellantier nur schlachten. Nun werden die meisten sofort nachvollziehen können, dass man das für einen ziemlich zynischen Verweis auf eine „Lösung“ halten kann, die mit der Realität, auch und gerade der Kostenrealität, nichts zu tun hat. Das nun wiederum hat handfeste Folgen für Leistungsbezieher, auf die auch die fragestellende Fraktion in ihrer Anfrage hinweist:
»Weil dieser extrem niedrige Betrag innerhalb des ohnehin knapp bemessenen Regelsatzes faktisch kein Ansparen ermöglicht, sind Betroffene auf ein Darlehen angewiesen. Dieses Darlehen müssen sie über Monate bis Jahre hinweg vom Regelsatz abzahlen. Eine Übernahme durch die Krankenkasse ist für Erwachsene nur dann möglich, wenn eine besonders schwere Sehbeeinträchtigung vorliegt (§ 33 Absatz 2 SGB V).«
Die Betroffenen werden also bei einem höchst umstrittenen Regelbedarf (der auch in der Fachdiskussion an sich schon als zu niedrig kritisiert wird) darauf verwiesen, aus diesem knapp bemessenen Budget ein „Darlehen“ an die Jobcenter zurückzahlen zu müssen, wenn sie das Geld für eine neue Brille gebraucht haben. Man treibt die Menschen an dieser Stelle also für eine wahrhaft existenzielle Angelegenheit – das kann jeder Brillenträger sofort nachvollziehen – in die Verschuldung.
Und das Bundesarbeitsministerium, das hier für die Bundesregierung auf die Anfrage geantwortet hat, macht ziemlich dicke Backen, wenn es schreibt:
»Die gesetzlichen Regelungen zur Neuanschaffung einer Sehhilfe einerseits und zur Reparatur einer Sehhilfe andererseits sind nach Auffassung der Bundesregierung eindeutig.«
Damit wird die Tatsache angesprochen, dass anders als die Anschaffungskosten die Reparaturkosten einer Brille tatsächlich übernommen werden müssen. Das ist aber erst aufgrund eines Urteils des Bundessozialgerichts durchgesetzt worden – mit anderen Worten: die Übernahme dieser Kosten mussten vor dem BSG erstritten werden und wurden nicht etwa aus Einsicht vom Gesetzgeber gewährt.
➔ Maßgeblich hierfür ist BSG, Urteil vom 25.10.2017, B 14 AS 4/17 R. Der Leitsatz der damaligen Entscheidung ist eindeutig: »Kosten für die Reparatur einer Brille sind nicht vom Regelbedarf umfasst, sondern begründen einen Sonderbedarf in der Variante der Reparatur von therapeutischen Geräten und Ausrüstungen.« Wie haben die Sozialrichter ihre Entscheidung begründet?
In dem Urteil findet man diesen Passus: »Während Brillen als solche zu den typischen langlebigen Gebrauchsgütern gezählt werden, wie auch Waschmaschinen, Kühlschränke, Fahrräder …, die im Regelbedarf vorgesehen sind, wurden die der Sonderauswertung der EVS 2003 noch als regelbedarfsrelevant zugrunde gelegten Positionen „orthopädische Schuhe, Reparaturen von therapeutischen Geräten sowie Miete von therapeutischen Geräten“ ausdrücklich nicht mehr für den Regelbedarf berücksichtigt, sondern es ist ein neuer einmaliger Bedarf im SGB II und im SGB XII eingeführt worden (BT-Drucks 17/3404, S 58, 103, 124). Zur Begründung wird ausgeführt, dass mit der Reparatur eines therapeutischen Geräts wie der Brille eine seltene und untypische Bedarfslage auftritt, die wegen der Höhe der benötigten Mittel im Rahmen eines Sonderbedarfs erfasst werden soll. Diese Begründung folgt letztlich aus dem der Regelbedarfsermittlung zugrunde liegenden Statistikmodell. Wegen der Seltenheit solcher Sonderbedarfe wie Reparaturkosten für eine Brille wäre eine Berücksichtigung im Regelbedarf nicht sachgerecht. Sie würde vielmehr zu Verzerrungen führen, weil der regelbedarfsrelevante Betrag so niedrig wäre, dass er realistisch kaum messbar wäre und den tatsächlichen Bedarf nicht abbilden würde.«
Aber bei der Anschaffung von Brillen bleibt das Bundesarbeitsministerium bei der bekannten Blockadehaltung: keinen Millimeter mehr Spielraum freiwillig gewähren. Da bleibt als eine mögliche Perspektive leider nur der Klageweg hinsichtlich der Anschaffungskosten. Und sollte es zu so einem Verfahren kommen, dann wünscht man sich von den Richtern, von denen viele Brillenträger sind, dass sie sich daran erinnern, welche existenzielle Bedeutung eine Sehhilfe hat bzw. haben kann und das es sich hierbei um einen unverzichtbaren Bestandteil des zu sichernden Existenzminimums handelt.