Es gibt definitiv Meldungen, die kommen einfach wirklich total unpassend. Beispielsweise so eine Schlagzeile am 11. Juni 2020: Corona-Ausbruch auf Spargelhof in Bayern. Mit diesem Inhalt: »Nachdem 21 Erntehelfer auf einem Spargelhof in Aichach-Friedberg positiv auf das Coronavirus getestet wurden, sind nun 500 weitere Mitarbeiter des Betriebs getestet worden. Unter den Getesteten gebe es weitere Corona-Fälle, teilte das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) mit. Bei 200 dieser Mitarbeiter stehe das Ergebnis noch aus, hieß es weiter. Symptome waren bei keinem der Getesteten aufgetreten. Die neuen Infektionszahlen sollen am Montag bekanntgegeben werden.«
Für wen das „unpassend“ ist? Für die Landwirte, die auf die Heerscharen an „günstigen“ Arbeitskräften angewiesen sind und eine „schlechte Presse“ nicht gebrauchen können. Derzeit ist das aber vor allem unpassend für die Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU), denn die hatte, den allgemeinen Regeln der Berichterstattungslogik folgend, auf das Verschwinden des Themas Erntehelfer, das ein paar Tage lang einige auch kritische Berichte mit Stoff versorgte, gehofft, um dann zu versuchen, wieder in den Normalmodus zu wechseln. Den Normalmodus kann man in diesen Tagen vielleicht so zuspitzen: „Freie Fahrt für unfreie Erntehelfer“. Herausgekommen ist dann sowas: Corona-Beschränkungen enden: Freie Einreise für Saisonarbeiter. Darüber wurde erst einen Tag vor den neuen Meldungen über Corona-Fälle unter den Erntehelfer, die schon da sind, berichtet.
»Erntehelfer dürfen ab kommender Woche wieder ohne Beschränkungen nach Deutschland einreisen. Das Kabinett billigte … ein Konzept von Ministerin Klöckner. Es gelten strenge Hygiene-Regeln«, so die Online-Ausgabe der Tagesschau. Ab dem 16. Juni könnten Saisonarbeitskräfte aus den EU-Staaten und den assoziierten Schengen-Staaten dann wieder einreisen. Das Konzept wurde zusammen mit dem Bundesinnenministerium entwickelt.
Man hat also ein „Konzept“. Das klingt nach was, aber der lebenserfahrene Beobachter lässt sich von Konzepten, die oftmals das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen, nicht sogleich beeindrucken. Schauen wir also genauer hin:
»Klöckner macht den Arbeitgebern Hygiene-Vorgaben. „Es gilt der Grundsatz: Zusammen Arbeiten, Zusammen Wohnen“, heißt es in dem Papier … Die Einteilung in feste Teams von Anfang an helfe, das Ausbreitungsrisiko für das Coronavirus zu verringern. Im Fall einer Erkrankung sei das gesamte Team zu isolieren. In dem Konzept werden zudem Abstandsregeln vorgeschrieben.«
Und dann so ein Satz: »Empfohlen wird den Arbeitgebern alle Informationen in den Landessprachen der Arbeiter zu verfassen und zu verteilen.«
Man „empfiehlt“ also den Arbeitgebern, die doch so wichtigen Informationen – die „strengen Hygiene-Regeln“ – in der Landessprache der Saisonarbeiter zu verfassen und ihnen die auszuhändigen. Da kann der Arbeitgeber sagen: Super, macht Sinn, wird sofort umgesetzt. Er kann sich aber auch für die Empfehlung noch nicht einmal bedanken, sondern sie sogleich in einen der vielen Papierkörbe versenken. Wenn einem die Hygiene-Regeln in diesen Corona-Zeiten angeblich so wichtig sind, dann müsste das nicht empfohlen, sondern zwingend vorgeschrieben werden. Ansonsten könnten Kritiker den Eindruck bekommen, hier wird nur ein semantischer Luftballon via Konzept abgesondert.
Das sieht die zuständige Ministerin natürlich ganz anders: »Nach wie vor hat der bestmögliche Gesundheits- und Infektionsschutz aller Beteiligten für uns Priorität. Nur so ist verantwortungsvolles Wirtschaften in Zeiten der Pandemie möglich.« Mit diesen salbungsvollen Worten wird sie von ihrem Ministerium in einer Pressemitteilung vom 10. Juni 2020 zitiert, wobei man die Überschrift dieser Mitteilung aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium genau lesen sollte, denn die bringt es auf den Punkt, um was es vor allem geht: Neuregelung für Saisonarbeitskräfte schafft Planungssicherheit für die Landwirte.
Aber das es nicht wirklich um die (gesundheitliche) Sache geht, das könnte man ableiten aus den Zahlen vor dem Hintergrund der realen Bedarfe, die es in der Landwirtschaft an Saisonarbeitern gibt. Mithin also geht es nur darum, so schnell wie möglich alle Hürden zu schleifen, die den Nachschub an Arbeitskräften möglicherweise blockieren:
»Die Bundesregierung hatte bisher festgelegt, dass insgesamt höchstens 80.000 Saisonkräfte einreisen dürfen. Diese Regelung läuft Mitte Juni aus. Das Kontingent wurde nur knapp zur Hälfte ausgeschöpft. Bis zum 3. Juni 2020 reisten 38.967 Saisonarbeitskräfte ein. In der Landwirtschaft hatten voriges Jahr nahezu 300.000 Saisonkräfte vor allem aus Rumänien und Polen gearbeitet.«
Manche mögen es ja, in Konzepten zu stöbern, deshalb hier der Link zu dem für die Saisonarbeiter, dann kann sich jeder mit Hilfe des Originals ein Bild machen von den „strengen Hygiene-Regeln“, die uns versprochen werden:
➔ Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2020): Konzeptpapier „Saisonarbeiter in der Landwirtschaft im Hinblick auf den Arbeits- und Gesundheitsschutz“, 10.06.2020
Nun wollen wir der Vollständigkeit halber nicht unerwähnt lassen, dass der eine oder andere an dieser Stelle die Frage aufwerfen könnte, ob und wie denn diese Regeln auch kontrolliert werden, ob sie denn also wirklich mehr wert sind als nur das Papier, auf dem sie stehen. Dazu kann man dem Original-Konzept auf der Seite 3 diesen Hinweis entnehmen:
»Die örtlich zuständigen Behörden (z.B. Gesundheitsämter, Arbeitsschutzbehörden) sind für die Überwachung und Durchsetzung der Einhaltung der vorgegebenen Regelungen verantwortlich.«
Alles klar, werden nicht nur die Berufskritiker einwerfen, dann wird kaum bis gar nicht kontrolliert, denn das zeigen die langjährigen Erfahrungen vor Corona und auch die aktuellen Berichte einiger Medien über die Erntehelfer und deren Situation, die vor allem bereits vor einigen Wochen hier mal die Runde gemacht haben. Vgl. dazu den Beitrag Erntehelfer: Die Unverzichtbaren unter den bislang „unsichtbaren“ Systemrelevanten. Erst nicht mehr rein, jetzt doch (einige) rein. Und eine bemerkenswerte Doppelmoral vom 6. April 2020 und dann etwas später schon mit Hinweis auf die auslaufende Berichterstattung den durchaus passend am 1. Mai 2020 veröffentlichten Beitrag Was ist eigentlich aus den rumänischen Erntehelfern geworden, die zur Rettung des deutschen Spargels eingeflogen wurden? Von medialen Blitzlichtern und einer Ministerin, die für Landwirte alle Register zieht.
»Überfüllte Zimmer, Akkordlohn, wenig Pausen. Wie schlecht die Arbeitsbedingungen für Saisonarbeiter sind, zeigt die Krise«, so der Anfang des Artikels Und wer rettet die Erntehelfer? von Luisa Jacobs, der am 4. Juni 2020 veröffentlicht wurde. Der fast nochmal viele Aspekte der kritischen Berichterstattung zusammen. Jacobs hat aber am Anfang ihres Artikels auch noch eine Frage in den Raum gestellt – ich zitiere den vollständigen Untertitel: »Überfüllte Zimmer, Akkordlohn, wenig Pausen. Wie schlecht die Arbeitsbedingungen für Saisonarbeiter sind, zeigt die Krise. Warum ist es so schwer, daran etwas zu ändern?«
Warum ist es so schwer, daran etwas zu ändern?
Vielleicht, weil man dann die Systemfrage stellen müsste. Man könnte hier auf die aktuellen Entwicklungen in der „benachbarten“ Fleischindustrie verweisen, wo der aktuelle Druck im Zusammenspiel von seit vielen Jahren beschriebenen und kritisierten miserablen Arbeitsbedingungen und zahlreichen Corona-Infektionsfällen ein Fenster geöffnet hat, das vom Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) genutzt wurde, um ein Verbot von Werkverträgen in der Fleischindustrie im Windschatten der empörten Berichte durch das mit zahlreichen Widerständen gegen diesen Einschnitt die die Arbeitgeber bestückte Kabinett zu bringen. Dieser Schritt ist tatsächlich bezogen auf diesen Bereich der Ausbeutung von ebenfalls überwiegend osteuropäischen Arbeitnehmern tatsächlich die Systemfrage. Und deshalb ist es auch – Stand Juni 2020 – keineswegs sicher, dass das ehrenwerte Anliegen des Ministers auch wirklich am Ende des nun erforderlichen Gesetzgebungsprozesses das Parlament in inhaltlich „ungerupfter“ Form verlassen wird. Da werden aufgrund der hier offen gestellten Systemfrage noch manche Bataillone der Gegenseite aufgefahren werden.
Vielleicht ist es aber auch über solche gleichsam innersystemischen Fragen hinaus deshalb so schwer, hier zu Änderungen zu kommen, weil das, was man exemplarisch an den Erntehelfern und anderen Saisonarbeiter studieren muss, Ausdruck ist für das gewaltige Wohlstandsgefälle bereits innerhalb der Europäischen Union. Dieses Wohlstandsgefälle ist der wahre Treibstoff für das „System“, denn der existenzielle Druck für viele Menschen in den Armenhäusern der EU, ihre Haut im wahrsten Sinne des Wortes „zu Markte tragen“ zu müssen, sichert noch den Nachschub auch in anderen Bereichen, die wir in unserer Volkswirtschaft zunehmend oder vollständig outgesourct haben an die (zeitweise) importierten Heerscharen an billigen (und auch willigen) Arbeitskräften aus anderen Ländern, man denke hier an die osteuropäischen Betreuungskräfte in den Haushalten pflegebedürftiger Menschen, an die unzähligen Lkw-Fahrer auf unseren Straßen, an die Paketzusteller aus Südosteuropa usw. – und überall droht denen die „Perspektive“, das man sie ersetzen könnte durch noch weiter ostwärts, (noch) außerhalb der EU-Grenzen ansässige Menschen, die es wahrscheinlich noch billiger machen würden/müssten. Solange man eben das System nicht in Frage stellt.
Foto: © Stefan Sell