Der Tod und die Pflegeheime in Zeiten der Coronavirus-Pandemie

Es sind schlichtweg Zahlen des Grauens: »In immer mehr Pflegeheimen kommt es zu Infektionen durch das Corona-Virus. Deutschlandweit ist es inzwischen in über 300 Heimen aufgetreten, bislang sind dadurch mindestens 226 Covid-19-Infizierte gestorben.« Das kann man der am 7. April 2020 veröffentlichten Meldung Covid-19-Infektionen in mindestens 331 Pflegeheimen entnehmen, wobei man auf das „mindestens“ achten muss: »Die Zahl der Pflegeheime, die Covid-19-Infektionen melden, steigt fast täglich. Nach Recherchen des ARD-Magazins FAKT sind bundesweit mindestens 331 Pflegeheime betroffen. Das hat eine Umfrage des Magazins bei den zuständigen Ministerien aller Bundesländer ergeben. Bayern, das Saarland und Sachsen-Anhalt machten allerdings keine Angaben.« Also drei Bundesländer sind noch gar nicht enthalten.

Solche Zahlen gehören zu der Kategorie dieser überaus vergänglichen Wasserstandsmeldungen, die schon am nächsten Tag überholt sind. Und dass es noch viel mehr Opfer der Coronavirus-Pandemie in unseren Pflegeheimen geben wird, liegt auch an den strukturellen Besonderheiten dieser Einrichtungen. Dazu bereits ausführlicher der Beitrag Aus den Untiefen der Verletzlichsten und zugleich weitgehend Schutzlos-Gelassenen: Pflegeheime und ambulante Pflegedienste inmitten der Coronavirus-Krise vom 29. März 2020. Für alle wird immer deutlicher und schmerzhafter erkennbar, dass gerade die Pflegeheime besonders betroffenen sind und sein werden von der tödlichen Seite der Pandemie.

Und wie reagiert „man“ auf diese Entwicklung? Auf der einen Seite naheliegend mit dem Versuch einer Abschottung der Heime nach außen, wobei das natürlich nur immer und nicht lösbar eine eingeschränkte Abschottung sein kann, denn die Menschen, die die pflegebedürftigen Bewohner versorgen, müssen tagaus tagein in die Einrichtungen und auch wieder raus. Und eine, wenn nicht die große Gefahr droht vielen Bewohnern von denen, die für sie die letzten sind, die sich noch um sie kümmern können. Und diejenigen, die in den Heimen die Stellung halten und die schon in den Zeiten vor der Corona-Krise hinsichtlich der Personalausstattung dauerhaft auf dem Zahnfleisch gehen mussten, klagen völlig zu Recht darüber, dass sie hängen gelassen werden was beispielsweise die eigentlich notwendige Schutzausrüstung angeht – und das in einer Situation, in der sie aufgrund der schon seit längerem verhängten Besuchsverbote mit ihren massiven negativen Auswirkungen auf die oftmals der besonderen Lage überhaupt nicht mehr zugänglichen Bewohner zusätzlich gefordert sind in der Betreuung und des Kümmern um die pflegebedürftigen Menschen. Denen stattdessen Durchhalteparolen und auch Opferbereitschaft zugerufen werden:

Dass sie anders behandelt werden als „normale“ Menschen, wenn die infiziert sind. So wurde bereits am 23. März 2020 berichtet: RKI lockert Quarantäne-Emp­fehlungen für medizinisches Personal: »Das Robert-Koch-Institut hat seine Empfehlungen für COVID-19-Kontaktpersonen unter medizinischem Personal an Situationen mit relevantem Personalmangel angepasst.« Man kann auch sagen: Man kapituliert ein Stück weit vor dem Personalmangel, der sich durch die normalen Quarantäne-Vorschriften noch potenzieren würde. „Medizinisches Personal muss künftig nach engem ungeschützten Kontakt zu COVID-19-Erkrankten nicht mehr so lange in Quarantäne und darf bei dringendem Bedarf in Klinik oder Praxis arbeiten, solange keine Symptome auftreten“, so wird RKI-Präsident Lothar Wieler in dem Artikel zitiert. Diese Botschaft haben übrigens die Pflegekräfte in den von Todesfällen betroffenen Pflegeheimen auch bekommen, so in Niedersachsen, wo die Gesundheitsministerin ausgeführt hat, die infizierten Pflegekräfte sollten mit den infizierten Bewohnern auf einer separaten Station arbeiten, solange sie keine Symptome zeigen und selbst offensichtlich krank sind. Man sollte die Signalwirkung der Verunsicherung und Beunruhigung bei den betroffenen Pflegekräften (und denen, die sich das „anziehen“), nicht unterschätzen. Und man sollte durchaus nachdenklich die Selbstverständlichkeit zur Kenntnis nehmen, mit der hier auf eine Aufopferungsbereitschaft der Pflegekräfte gesetzt wird.

Zu den praktischen Problemen der Pflegekräfte in den Heimen vgl. diesen Beitrag des Politikmagazins „Fakt“:
➔ Fakt (ARD): Corona-Virus: Die unsichtbare Gefahr in der Pflege (07.04.2020): «Abstand halten kann niemand, der in der Pflege arbeitet. Zehntausende Pfleger und Pflegerinnen sind schwer gefährdet. Wie kann das gehen, wenn nicht genügend Schutzmaterialien zu beschaffen sind?«

In den vergangenen Tagen wurde viel berichtet über die Umsetzung von Kontaktverboten in Form eines Besuchsverbotes die Pflegeheime betreffend. Wobei man auch hier zur Kenntnis nehmen muss, dass wir im Föderalismus leben, was man an unterschiedlichen Ausgestaltungen je nach Bundesland erkennen kann: In Baden-Württemberg dürfen stationäre Einrichtungen nicht mehr zu Besuchszwecken betreten werden. Ausnahmen kann es im Einzelfall für nahestehende Personen geben, etwa wenn es um die Sterbebegleitung geht. In Berlin hingegen sind Besuche einmal am Tag für eine Stunde erlaubt, nur Kinder unter 16 Jahren oder Menschen mit Atemwegsinfektionen dürfen nicht kommen.

Der von außen betrachtet durchaus naheliegende Gedanke einer Abschottung dieser Hochrisiko-Orte für das Sterben durch das Coronavirus wird nun weiter eskaliert: »Im Kampf gegen das Coronavirus hat die baden-württembergische Landesre­gierung Ausgangsbeschränkungen für Bewohner von A­­lten- und Pflege­hei­men be­schloss­en. Die Einrichtungen dürfen nur noch aus triftigen Gründen wie etwa zu Arztbesuchen verlassen werden, wie Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) heute nach einer Kabinetts­sitzung in Stuttgart erklärte … Die Landesregie­rung wolle damit „Großlagen“ mit zahlreichen Infizierten in einem Heim vermeiden, er­klärte Lucha.« Das meldet die Online-Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts unter der Überschrift Baden-Württemberg verhängt Ausgangs­beschränkungen für Alten- und Pflegeheime. »Auch in Baden-Württemberg war in den vergangenen Tagen die Zahl der Infektionen in Alters- und Pflegeheimen angestiegen. Nach Angaben der Gesundheitsbehörden erkrank­ten mehr als 450 Bewohner und Pfleger in entsprechenden Einrichtungen, 43 der Men­schen starben.«

Die Hoffnung, man könne das Problem lösen mit einer Abschottung der Heime, grassiert in vielen Köpfen: »Der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, Erwin Rüddel, fordert angesichts der Zunahme der Corona-Todesfälle eine weitgehende Isolierung der Pflegeheime: „Für Pflegeeinrichtungen muss gelten: Tür zu.“« So dieser Artikel: „Selbst Spaziergänge können problematisch sein“. Wenn denn das die Lösung wäre. Hier wird den Außenstehenden eine Option – also man schottet die Einrichtungen ab – vermittelt, deren Qualitätsstufe vergleichbar ist mit den Menschen Sand in die Augen streuen, damit sie die offensichtliche Widersprüchlichkeit nicht sehen können.

Die über die bisher schon vorhandenen Besuchsverbote hinausgehenden Ausgangsbeschränkungen wurden auch in anderen Bundesländern verhängt. Hinzu kommen teilweise Aufnahmestopps. Die nordrhein-westfälische Landesregierung setzt als Kompromisslösung auf eine Isolation von neu aufgenommenen Pflegebedürftigen, sie sollen zunächst in eine zweiwöchige Quarantäne. Aber Körperkontakt zwischen Personal und Bewohnern lässt sich nun einmal nicht vermeiden. Kommt über unwissentlich infizierte Pflegekräfte das Virus in ein Heim, ist es kaum zu stoppen, kann man diesem Artikel entnehmen: Pflegeheime drohen zu Hotspots der Corona-Krise zu werden. Hier finden wir auch eine differenzierte Diskussion der eben unterschiedlichen Aspekte des Themas, so zum Aufnahmestopp: »Die handelnden Politiker haben die dramatischen Bilder der Toten aus Heimen in Spanien und Italien vor Augen, doch es ist eine schmale Gratwanderung. Niedersachsen hat nach dem Fall Wolfsburg einen Aufnahmestopp erlassen. Eine heikle Entscheidung, denn einerseits wollen Krankenhäuser ältere Patienten mit stabiler Gesundheit entlassen, um mehr Kapazitäten für Corona-Patienten zu haben. Und andererseits gibt es natürlich auch immer wieder neue Pflegefälle, die professionelle Betreuung in einem Heim benötigen.«

Und wieder wird die bewusst-unbewusste Hierarchie der Versorgung erkennbar: »Auf allen Wegen wird versucht, bei dem anzusetzen, was die Politik tun kann: mehr Schutzausrüstung, professionelle Masken und mehr Desinfektionsmittel beschaffen – doch die Klagen über fehlenden Schutz und eine Fokussierung auf die Versorgung der Krankenhäuser reißen nicht ab. Zuerst brauche man die Schutzmasken für das medizinische Personal und dann prioritär auch für Alten- und Pflegeheime, betont zum Beispiel Bayerns Ministerpräsident Markus Söder.« Hier ist es wieder, das „auch für“.

Und die Wirklichkeit ist vielgestaltiger als man denkt, was „die“ Einrichtungen angeht. Dazu aus dem Artikel von Nina Breher u.a. im „Tagesspiegel“: »Besonders für Hospize sind die Kontaktbeschränkungen eine Gratwanderung. Toska Holtz, Geschäftsführerin des Ricam Hospizes in Berlin, sagt: „Die Menschen kommen hierher, um in ihrer letzten Zeit eine gute Lebensqualität zu haben.“ Und dafür sei der Kontakt zu Angehörigen essenziell. Deshalb gebe es in ihrem Hospiz zwar Hygieneregeln für Besucher, verboten sind Besuche aber nicht. Und liegt jemand im Sterben, gibt es bei der Zahl der Besucher Ausnahmen. „Dann lassen wir natürlich auch mehr als zwei Besucher in das Zimmer. Das geht für uns gar nicht anders“, sagt Holtz. Einen Aufnahmestopp plant das Hospiz nicht: „Die Leute brauchen uns, das ist unser Job.“ Einen Stopp will man hier nur erwägen, falls wegen des Virus zu viele Mitarbeiter ausfallen.«

Und man muss immer versuchen, das Gesamtsystem im Auge zu behalten: »Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, verweist zudem auf das Problem der Schließung zahlreicher Tagespflegeeinrichtungen in der Coronakrise – er fürchtet eine völlige Überlastung von pflegenden Angehörigen.«

Was wir wissen und was ja auch leider nicht wirklich überrascht: Die Pflegeheime sind äußerst gefährliche Orte in diesen Tagen. Das zeigen auch die Erfahrungen aus anderen Ländern – bei aller gebotenen Vorsicht, dass man nicht einfach Befunde länderübergreifend verallgemeinern kann und darf. Hierzu als ein Beispiel die Hinweise in dem Artikel Corona: US-Studie zeigt hohe Todesarten in Pflegeheimen: Die Studie liest sich angesichts der Fälle in Deutschland wie ein weiteres Schreckensszenario: Das Forscherteam um Temet McMichael hat Covid-19-Fälle in Altenpflegeeinrichtungen in King County, im US-Bundesstaat Washington, untersucht. Wie überall auf der Welt sind die Bewohner solcher Einrichtungen besonders anfällig für das Virus, schreiben die Forscher, „sowohl aufgrund des fortgeschrittenen Alters als auch aufgrund der häufigen chronischen Grunderkrankungen der Bewohner und der Bewegung des Gesundheitspersonals zwischen Einrichtungen in einer Region“.

»Nach ersten Coronafällen in den Einrichtungen wurde das Team von McMichael vom CDC, dem US-Zentrum für Seuchenbekämpfung, beauftragt, die Fälle zu dokumentieren und analysieren. Die Ergebnisse, die sie jetzt veröffentlicht haben, zeigen ein erschreckendes Bild vor allem für die Heimbewohner. Insgesamt 167 Covid-19 Fälle wurden im Zusammenhang mit den Pflegeeinrichtungen dokumentiert – 101 Bewohner, 50 Mitarbeiter und 16 Besucher. Von den betroffen Bewohnern starben 34, eine Case Fatality Rate von 33,7 Prozent. Bei den Besuchern gab es einen Todesfall, beim Personal keinen.« (Hervorhebung nicht im Original).

Die Studie im Original:
➔ Temet M. McMichael et al. (2020): Epidemiology of Covid-19 in a Long-Term Care Facility in King County, Washington, in: The New England Journal of Medicine, March 27, 2020