Eine gute Tat oder einfach nur obszön? Die „Überlebenslotterie“ von Novartis und die eben nicht nur ökonomischen Dilemmata extrem teurer Medikamente

Die Debatten über das Wirken „der“ Pharmaindustrie bewegen sich üblicherweise zwischen den Polen von Fluch und Segen. Immer wieder wird man dabei mit dem Vorwurf konfrontiert, den pharmazeutischen Unternehmen gehen es nicht nur um Renditen, sondern um „unverschämt“ hohe Gewinne auf Kosten von kranken Menschen bzw. (noch weitaus lukrativer, weil umfassender abgreifbar) von Solidargemeinschaften wie dem Krankenversicherungssystem in unserem Land, von dem auch völlig überzogene Rechnungen beglichen werden müssen, sofern eine Erstattungspflicht des Medikaments nicht verhindert werden kann.

Auf der anderen Seite melden sich die Verteidiger zu Wort und argumentieren, dass nur extreme Renditeaussichten forschende Arzneimittelhersteller dazu bewegen werden, auch in Projekte zu investieren, die mit sehr großen Scheiternsrisiken verbunden sind und/oder die nur einige wenige (potenzielle) Patienten erreichen können, weil es sich um seltene Erkrankungen mit einer entsprechend kleinen Fallzahl handelt. Und besonders herausforderungsvoll wird es dann, wenn man über Medikamente spricht, an die man die Patienten nicht ein Leben lang ketten kann, sondern bei denen im Extremfall eine Behandlung ausreicht.

An dieser Stelle mag der eine oder andere an die einzelökonomisch gesehen völlig plausiblen Warnungen aus dem Hause Goldman Sachs denken: »Analysten von Goldman Sachs (empfehlen) der Biotech-Branche, lieber nicht in kurative Therapieansätze zu investieren. In dem Marktbericht „Die Genom-Revolution” erklärt die Investmentbank, weshalb Heilung den Geldfluss beeinträchtigen kann«, so diese Meldung aus dem Jahr 2018: Goldman Sachs: Heilung ist schlecht fürs Geschäft. In der Studie „Die Genom-Revolution“ wird ausgeführt, dass Behandlungen, die zu einer kausalen Heilung führen, den langfristigen Geldfluss (Cash-Flow) schmälern. Als Beispiel wird ein Hepatitis C-Arzneimittel von Gilead Sciences zitiert, das Heilungsraten von 90 Prozent bewerkstelligt. Nach anfänglichem Umsatzhoch sanken die Einnahmen für das Biotech-Unternehmen. „Bei Infektionskrankheiten wie beispielsweise Hepatitis C verringert die Heilung die Zahl der verfügbaren Patienten sowie der Virusüberträger“, so die betriebswirtschaftliche Klage über ein hochgradig wirksames Medikament. Und die Analysten von Golman Sachs haben ihren Pharmakunden drei strategische Ansätze mit auf den Weg gegeben:
➞ »Zum einen sollen Unternehmen in Erkrankungen investieren, bei denen die Patientenzahl stetig zunähme. Als Beispiel zitierten die Finanzexperten den Hämophilie-Markt; der jährlich zwischen 6 und 7 Prozent wachse.
➞ Zweitens sollen die Pharmaunternehmen Produkte gegen Krankheiten entwickeln, die häufig sind und besonders schwer verlaufen wie beispielsweise Spinale Muskelatrophie.
➞ Und schließlich ist die ständige Erweiterung des Portfolios auch für das Pharmageschäft ein wichtiger Schrittmacher zum Erfolg. So gebe es noch hunderte von genetischen Erkrankungen, die sich wirtschaftlich ausschöpfen ließen.«

Und erneut werden wir mit einem viele Menschen irritierenden Beispiel aus dieser Welt konfrontiert: »Es dürfte die vielleicht kontroverseste Aktion in der Geschichte der Pharmaindustrie sein: Der Schweizer Pharmahersteller Novartis verlost ab Montag 100 Behandlungen mit Zolgensma, dem wohl teuersten Medikament der Welt. Die Spritzen – Stückpreis: mehr als zwei Millionen Euro – helfen gegen die sogenannte spinale Muskelatrophie (SMA). Die Erbkrankheit löst Muskelschwund aus und führt letztlich zum Tod von Säuglingen und Kleinkindern. 100 Betroffene weltweit dürfen nun durch die Verlosung darauf hoffen, dem Tod zu entrinnen. Zweimal pro Monat sollen per anonymisierten Zufallsverfahren Patienten ausgewählt werden, die eine Gratisdosis des Mittels erhalten. Glücklose Bewerber wandern stets automatisch in die nächste Runde«, berichten Stefan Schultz und Nina Weber in ihrem Artikel Was hinter der Verlosung eines Millionen-Medikaments steckt. Nun werden sich viele Fragen – wie kann man auf so eine Idee kommen? Ist das eine reine Marketing-Aktion, um in die Schlagzeilen zu kommen? Oder purer Zynismus?

Exkurs: Um was für ein Medikament gegen was geht es hier genau?

Das Medikament heißt Zolgensma. Es kann zur Behandlung der Spinalen Muskelatrophie bei Kleinkindern und Säuglingen eingesetzt werden. Die Ursache der Spinalen Muskelatrophie, als Muskelschwund bekannt, ist wahrscheinlich ein Gendefekt, die Häufigkeit beträgt 1:10.000 Geburten. Diese Muskelerkrankung, die sogenannte spinale Muskelatrophie, kurz SMA, ist bereits vor hundert Jahren beschrieben worden, es gab aber bis vor kurzem kein Mittel dagegen. Diese Krankheit trifft vor allem Säuglinge, viele erlebten ihren zweiten Geburtstag nicht oder mussten künstlich beatmet werden. Das neu entwickelte Medikament Zolgensma des Schweizer Pharmaunternehmen Novartis soll mit einer einzigen Injektion den Muskelschwund auf Dauer bremsen. An anderer Stelle wird darauf hingewiesen, dass man zu große Erwartungen bremsen sollte, denn eine Heilung der kleinen Patienten sei keineswegs garantiert: »Immerhin war bei 14 von 21 mit Zolgensma behandelten Kindern längere Zeit keine permanente Atemtherapie nötig, zehn von ihnen konnten wenigstens eine Zeitlang selbständig sitzen. Die Behandlung ist außerdem mit erheblichen Risiken verbunden, etwa mit schweren Leberschäden.«

Der Kinderarzt Andreas Hahn vom Uniklinikum Gießen weist in einem Interview darauf hin, dass es zu dem neuen Medikament Zolgensma, bei dem es sich um eine Gentherapie handelt, eine ganz Reihe offener Fragen gibt: Beispielsweise »dass es noch relativ wenig Erfahrungen mit Gentherapien gibt. Wir wissen nicht, wie diese langfristig im Körper wirken. Und die Studienlage dazu ist dünn: Bislang haben weltweit nur etwa hundert Patienten Zolgensma erhalten. Die Frage ist, ob die Therapie im Körper ein Leben lang funktionieren kann. Bei Zolgensma ist die Nachsorge sehr wichtig. Die Patienten müssen in spezialisierten Zentren regelmäßig nachuntersucht werden. Dafür fallen pro Jahr auch noch einige tausend Euro an Kosten an.« Und Hahn weist darauf hin, dass es einen zweiten, bereits seit längerem praktizierten Behandlungsansatz gibt, konkret das Medikament Spinraza. Dieses Medikament muss allerdings mehrmals im Jahr gegeben werden. Und er ergänzt: »Spinraza ist insgesamt ein nebenwirkungsarmes Medikament. Viele Patienten müssen Spinraza aber unter Röntgenkontrolle und in Sedierung oder Narkose bekommen. Während der Behandlungsprozedur ist der Patient also einer Strahlenbelastung ausgesetzt, die auf Dauer sicher nicht zu vernachlässigen ist. Im Gegensatz zu Zolgensma ist die medizinische Betreuung bei Spinraza aufwändiger, die Behandlung komplexer. Während Zolgensma in die Vene infundiert wird, muss Spinraza direkt in das Nervenwasser mittels Punktion appliziert werden. Da müssen viele Ärzte und Schwestern mitwirken. Außerdem ist die Erfassung des Therapieerfolgs wichtig. Leider wird das den Kliniken und Zentren nicht ordentlich vergütet. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen drangsaliert uns zudem noch zusätzlich, wenn es um die Liegedauer der Patienten geht.«

Mit dem Überleben spielt man nicht – aber was ist eine Lotterie anderes als ein Spiel? Von nachvollziehbarer Empörung und der Ökonomie einer ganz eigenen Knappheit

Der kritische Blick, ja die Empörung über das Vorgehen von Novartis beherrscht weite Teile der Medienberichterstattung wie auch der Stellungnahmen von offizieller Seite (so spricht der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) von einem „Glücksspiel“ mit kranken Kindern). Stellvertretend für viele Kommentierungen in den Medienhier der Hinweis auf den Beitrag des Mediziners Bernd Hontschik, der unter der knackigen Überschrift Überlebenslotterie veröffentlicht wurde: »Pharmakonzerne machen Marketing mit kranken Kindern und bringen Medikamente auf den Markt, die Millionen kosten. Das ist obszön!«, so seine Diagnose. Und er schreibt weiter:

»Aus unerfindlichen Gründen ist Zolgensma nicht nur fast unbezahlbar, sondern es gibt auch nicht genug davon. Es ist Mangelware. Das erinnert mich an die Triage, die zu meiner Notarztausbildung gehörte: Stellen Sie sich ein großes Unglück vor mit 100 Verletzten. Es gibt aber nur zehn Krankenwagen. Wer kommt zuerst dran? Die mit den schwersten Verletzungen? Die, die in Lebensgefahr sind? Oder die mit den höchsten Überlebenschancen? Wer bekommt Zolgensma? Die mit den höchsten Überlebenschancen? Die mit schweren Symptomen? Oder die mit leichten Symptomen? Dafür hat sich Novartis etwas ausgedacht: Seit Anfang Februar verlost Novartis zwei Mal im Monat eine Gratisdosis von Zolgensma. Wer dabei kein Glück hatte, bleibt weiter im Spiel, bis insgesamt 100 Behandlungen verlost worden sind, dann ist der Topf leer. Was Novartis als großartige schnelle Hilfe ausgibt, kontrolliert von einem Ethikrat, bezeichnen unabhängige Wissenschaftler als verantwortungslose Überlebenslotterie. Das sei kein Segen für schwerkranke Kinder, sondern lediglich eine gezielte Marketingkampagne.«

Aus unerfindlichen Gründen? Was sagt Novartis dazu? Wie begründen die das irritierende Vorgehen mit der Lotterie? In den USA seit Mai 2019 zugelassen, wird in Europa die Zulassung des Medikaments noch von der Europäischen Arzneimittelagentur geprüft. Man muss wissen: Die Zulassung in den USA beruht im Wesentlichen auf zwei Studien mit insgesamt 36 Kindern, wie die zuständige Behörde FDA 2019 mitgeteilt hat. Novartis verweist vor allem auf Sachzwänge: Man habe bislang nur in den USA eine Zulassung für eine Produktionsstätte erhalten. Diese könne der Welt über inländische Bestellungen hinaus nur 100 Dosen zur Verfügung stellen. Die Herstellungskapazitäten seien begrenzt, so eine Sprecherin von Novartis. Mehr als 100 Dosen könne das einzige Werk in Illinois in den USA in diesem Jahr nicht zusätzlich zu den erwarteten Bestellungen liefern. Da man aber schnell helfen wolle, zumindest ein bisschen, habe man gemeinsam mit einem Ethikrat ein Losverfahren ausgearbeitet. Um allen Patienten eine faire Chance zu geben, sei nur das Zufallsprinzip in Frage gekommen, so die Novartis-Sprecherin. «Es ist ein Dilemma», räumt sie ein. „Wir haben einfach nicht so viele Dosen zur Verfügung wie wir gerne hätten. Bei aller Kritik an diesem Verfahren mangelt es vorerst an Alternativvorschlägen.“

Daran haben so manche ihre Zweifel und sehen hier nicht mehr oder weniger als eine versteckte Marketingaktion am Werk. Novartis unterlaufe die in vielen Ländern noch laufenden Zulassungsverfahren für das Medikament. Es gehe darum, möglichst schnell einen Fuß im Markt zu haben – und darum, bei Betroffenen „Begehrlichkeiten“ zu wecken. Wobei wir hier aus der individuellen Perspektive der Betroffenen von wahrlich existenziellen Fragen sprechen, vgl. dazu beispielsweise den Artikel Kampf um 2-Millionen-Euro-Spritze: Kleinkind Frida rennt die Zeit davon. Und wenn man berücksichtigt, dass in den USA, Europa und Japan jedes Jahr mehr als tausend Kinder mit SMA geboren werden, dann kann man die Vermutung, dass Betroffene, die bei der Novartis-Tombola leer ausgehen, Druck auf Regierungen und Krankenkassen ausüben, das Medikament recht bald zuzulassen und zu finanzieren, durchaus für plausibel halten.

Gibt es Argumente seitens der Verteidigung? Sebastian Balzter hat in seinem Artikel Arzneimittel aus der Lostrommel darauf hingewiesen, dass Novartis die Preisverhandlungen in Amerika geschickt geführt hat. »Rund zwei Millionen Dollar je Einzeldosis kostet das Medikament dort, es ist das teuerste Medikament der Welt. Pharmakritiker halten das für obszön. Aber wie sonst soll es sich lohnen, solche Therapien für so wenige Patienten zu entwickeln? Erst recht, wenn das Medikament nur ein einziges Mal verabreicht werden muss. Auf lange Sicht ist das vermutlich günstiger als das einzige in seiner Wirkung vergleichbare Konkurrenzprodukt, das ein ganzes Leben lang immer wieder verabreicht werden muss. Ein Problem entsteht dort, wo die Behörden das Medikament noch nicht zugelassen haben, zum Beispiel in Europa. Hier müssen die Krankenkassen es nicht bezahlen, und die Eltern sind damit überfordert. Deshalb hat sich Novartis die Verlosung ausgedacht. Ökonomen können diesem Verfahren zur Verteilung knapper Güter viel abgewinnen.«
Das mag ja sein, dass Ökonomen, besser: ein Teil von Ihnen und sicher nicht alle, am Schreibtisch und abstrahierend den hier gewählten Verteilungsansatz gutheißen, aber muss es wirklich eine Lotterie sein? Dazu Balzter: »Eine Alternative dazu wäre, die Patienten nach Bedürftigkeit zu sortieren. Aber wer legt da die Kriterien fest? Wer überprüft jeden Fall bis ins Detail? Wie geht das unter Zeitdruck, bis zum zweiten Geburtstag der Kinder? Und wer garantiert, dass einzelne Bewerber nicht doch aus sachfremden Gründen bevorzugt werden?«

Das wird nicht überall geteilt: Der Medizinethiker Norbert W. Paul widerspricht, kann man diesem Artikel entnehmen: Die zwiespältige Aktion eines Pharma-Riesen: »Ethischer wäre es gewesen, klare Kriterien als Voraussetzung für die Verabreichung des Medikamentes festzulegen, sagt der Professor der Universitätsmedizin Mainz. Zum Beispiel, ob es für die Kinder alternative Therapien gebe, ob eine Klinik in der Nähe sei, die mit Gentherapie umgehen könne, ob eine Nachsorge und im Notfall auch eine Krisenversorgung möglich sei.« Das Losverfahren lehnt er ab. „Novartis unterläuft mit dieser Abgabe aus Mitleid die Zulassung, um einen Fuß im Markt zu haben und so Druck zu machen, dass die Zulassung gar nicht mehr erforderlich zu sein scheint“, sagt er. Es sei wie eine verdeckte Marketingkampagne. Es entstehe der Eindruck, als handele es sich bei dem Medikament um eine Zauberkugel, und als sei die Standardtherapie mit Spinraza schlechter oder eine Billigvariante. „Dem ist ja gar nicht so“, betont Paul. „Aber natürlich greifen verzweifelte Eltern nach jedem Strohhalm. Um so bedenklicher ist eine Verlosung.“

Interessanterweise wird das Losverfahren auch von Sebastian Balzter in seinem Artikel abgelehnt, obgleich er die Argumente zitiert hat, die dafür sprechen. Und warum dann doch eine Ablehnung? Die Verlosung sei in diesem Fall eine schlechte Idee. Er argumentiert so:

»Das Leben an und für sich ist Lotterie genug: Wo wir geboren werden, ob unsere Eltern reich sind oder arm, ob unser Erbgut Fehler hat, das liegt nicht in unserer Hand. Manche sind bevorzugt, andere benachteiligt. Die Menschheit hat es sich zu einer ihrer edelsten Aufgaben gemacht, die Folgen dieser Lotterie für die Benachteiligten zu dämpfen. Medizinischer Fortschritt ist eines der wichtigsten Mittel dabei. Ihn ausgerechnet in einer Lotterie zu verteilen höhlt diesen Grundgedanken aus. Es gibt eine Ausnahme von dieser Regel. Wenn es um Leben und Tod ginge, dann wäre es unverantwortlich, auch nur einem einzigen Kind die Behandlung zu verwehren, nur weil die Vorräte nicht für alle anderen Patienten reichen. Ein gradueller Unterschied in der Behandlungsqualität zu einem erprobten Präparat, das ausreichend verfügbar ist, rechtfertigt das Losverfahren hingegen nicht. In ein paar Monaten wird das neue Mittel voraussichtlich auch in Europa zugelassen, dann sollen auch die Produktionsanlagen ausgebaut sein. Es wäre besser gewesen, darauf zu warten.«

Am Ende bleibt das Dreiecks-Dilemma des nicht-monetarisierbaren Werts des einzelnen Lebens, des preis- und gewinngesteuerten Handelns von Pharmaunternehmen sowie der Finanzierungsgrenzen solidarischer Versicherungssysteme

Wie hat das Balzter ausgedrückt? „Wenn es um Leben und Tod ginge, dann wäre es unverantwortlich, auch nur einem einzigen Kind die Behandlung zu verwehren“ – das nun aber ist unabhängig vom hier aufgerufenen Fallbeispiel Zolgensma global gesehen tagtägliche Praxis, denn Millionen Menschen, nicht nur Kindern, wird eine Behandlung verwehrt, obwohl die Medikamente im Grunde zur Verfügung stehen (würden). Weil sich diese Menschen eine Behandlung aufgrund des gegebenen Preisniveaus schlichtweg nicht leisten können und damit das hier nun ganz handfest wirkende und überhaupt nicht (mehr nur) theoretische Ausschlussprinzip bei privaten Gütern zur Anwendung kommt. Wenn die Zahlungsfähigkeit nicht gegeben ist, dann wird man eben vom Konsum des Gutes exkludiert. Und das ist wahrlich nicht nur ein Problem in Entwicklungsländern, man werfe hier nur einen Blick auf die Rationierungswirklichkeiten in den Gesundheitssystemen der USA, in Großbritannien oder anderer „hoch entwickelter“ Staaten.

Aus einer moralisch gut begründbaren Perspektive kann und darf man keine einziges menschliches Leben an der Schranke der (angeblichen) „Unbezahlbarkeit“ auflaufen lassen, es in der Konsequenz an dieser überaus manipulierbaren bzw. neutraler formuliert: gestaltbaren Hürde scheitern lassen. Dem ist moralisch gesehen uneingeschränkt zu folgen, führt aber in der Realität dann doch zu Verteilungskonflikten, bei denen es im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod geht. Und das betrifft nicht nur den hier behandelten Fall der Arzneimittel – man denke an das Beispiel der im Mittelmeer ertrunkenen sowie der derzeit und zukünftig ertrinkenden Flüchtlinge. Jeder Einzelne hat das unbedingte Recht gerettet zu werden und spiegelbildlich existiert die unbedingte Pflicht der anderen, jedes menschliche Individuum vor dem Tod zu bewahren. Aber wie die wirkliche Wirklichkeit aussieht, muss an dieser Stelle nicht in extensio ausgebreitet werden. Und auch hier gibt es – natürlich auf einer anderen Ebene – durchaus Analogien zu den (möglichen) „Anreizproblemen“, mit denen wir bei Zolgensma & Co. konfrontiert werden: Die unbedingte Einhaltung des Menschenrechts auf Rettung aus einer das Leben bedrohenden Gefahrenlage kann im Ergebnis dazu führen, dass bei ansonsten fehlender Steuerung mehr Menschen das Wagnis eingehen, auf diesem lebensbedrohlichen Weg die Festung Europa zu erreichen. Man denke dieses immer wieder vorgetragene Argument konsequent zu Ende: Dann wird die bewusste Inkaufnahme des Todes vieler Einzelner ein zwangsläufiges Element der Abschottung. Das verstößt natürlich gegen das an und für sich nicht relativierbare Menschenrecht auf individuelle Rettung, aber es folgt seiner eigenen und überaus wirkkräftigen Logik der Systeme.

Auf unser Medikamentenbeispiel übertragen: Wenn es ein wirksames Medikament gibt, mit dem ein einzelner Mensch gerettet oder zumindest sein Leiden erheblich geliefert werden kann, dann muss man die Verfügbarkeit herstellen. Auf der anderen Seite steht das Interesse des Pharmaunternehmens an einem möglichst hohen Return on Investment, was auf der konkreten Preisebene aber dazu führen kann und wird, dass der Zugang zu dem Medikament höchst selektiv ausgestaltet wird. Bis zu einem gewissen Grad kann man dieses Ungleichheitsproblem dadurch abmildern, dass der Preis regulativ nach unten gedrückt wird, aber man darf sich hier keinen Illusionen hingeben: das wird nicht dazu führen, dass die Medikamente vom Himmel fallen und dann auch noch wenig kosten werden. Auch ein nach unten regulierter Preis wird ein bestimmtes Niveau nicht unterschreiten (können), wenn man denn weiterhin privat, auf Gewinn gerichtete Unternehmen in der Forschung halten will. Und dann gibt es hier noch einen weiteren gewichtigen Akteure zu berücksichtigen, der gerade bei uns in Deutschland eine ganz entscheidende Bedeutung hat: die Krankenversicherungen, vor allem in Form der für 90 Prozent der Menschen relevanten solidarischen Gesetzlichen Krankenversicherung. Und die stehen vor dem Problem, dass sie zum einen ihre Versicherten möglichst optimal versorgen wollen (oder gezwungen sind, bestimmte, darunter auch sehr teure Behandlungen für die bei ihnen versicherten Patienten zu übernehmen), zugleich aber natürlich auch ein Interesse dran haben, dass sie nicht Arzneimittelherstellern ausgeliefert sind, die teilweise exorbitant hohe Preise verlangen (können).

Ergänzend zu dieser strukturellen Problemstelle muss dann auch noch berücksichtigt werden, dass die Krankenkassen gerade bei Fällen wie Zolgensma & Co. in größte Unruhe versetzt werden, denn das hier besprochene Medikament steht stellvertretend für eine neue Entwicklungslinie, auf die mit den bislang ausdifferenzierten Steuerungselementen kaum oder gar nicht mehr geantwortet werden kann. So haben die Kassen in Deutschland beispielsweise mit Rabattverträgen versucht, bei Massenmedikamenten einen entsprechenden Preisdruck nach unten zu produzieren. Zolgensma aber steht für eine neue Welt – die der „individualisierten Medizin“. Dazu Thomas Trappe in seinem Artikel Wieviel ist uns die Gesundheit des Individuums wert?: »Was das deutsche Gesundheitssystem auszeichnet, ist ein Versprechen: Jeder Mensch bekommt unabhängig von seinem Einkommen die bestmögliche Therapie nach dem aktuellen Stand der Medizin.« Für ihn sind die Vorgänge rund um Zolgensma das »Symptom einer Entwicklung, auf die die deutsche Gesundheitspolitik eine Antwort finden muss. Wieviel Spitzenmedizin gestehen wir dem Einzelnen zu?« Trappe bringt das sich abzeichnende Dilemma auf den Punkt, wenn er schreibt: »Bislang gibt es in Europa sechs zugelassene Gentherapien, und es werden dank des wissenschaftlichen Fortschritts in den kommenden Jahren neue dazukommen. Immer bessere Kenntnisse genetischer Zusammenhänge werden immer mehr Therapien ermöglichen, die auf immer kleiner werdende Patientengruppen mit seltenen Erkrankungen abzielen. Und je weniger Patienten es pro Krankheit es gibt, desto mehr muss pro Patient erlöst werden, um die Entwicklungskosten eines Medikaments wieder reinzuholen, die ebenfalls ansteigen, je spitzer in der Entwicklung auf bestimmte Gendefekte abgezielt wird.«

Trappe bilanziert: »Eine Novartis-Lotterie könnte vor dem moralischen Dilemma, dem wir uns stellen müssen, ganz schnell verblassen.« In einem Krankenversicherungssystem, das auf dem Prinzip der Solidarität beruht und in einer Gesellschaft, die sich zugleich offensichtlich entsolidarisiert, hat die Ausdifferenzierung der individualisierten Medizin eine enorme Sprengkraft. Die hier angesprochenen Fragen müssen umfassend und kontrovers diskutiert werden, denn sie lassen sich nicht einfach und nicht nach dem heutzutage so verbreiteten Schwarz-Weiß- bzw. Gut-Böse-Schema beantworten.

Nachtrag am 10.02.2020:

In der Online-Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts wurde dieser Artikel veröffentlicht: Zolgensma-Härtefallprogramm: Begrenzung auf dringliche Fälle vorgeschlagen: »Das Vorgehen von Avexis (Novartis) im Rahmen eines globalen Härtefallprogramms die Zolgensma-Behandlung von Patienten mit 5q-Spinaler Muskelatrophie (SMA) auszulosen, stößt weiter auf Kritik. Die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke (DGM) und die Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP) schlagen nun stattdessen vor, das Härtefallprogramm auf dringliche Fälle zu begrenzen.
Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI), Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel, hatte das Härtefallprogramm für Zolgensma am 3. Februar abgesegnet. Novartis will dadurch weltweit insgesamt 100 Kinder mit SMA, die bestimmte Antragskriterien erfüllen, per Zufall – im zweiwöchentlichen Rhythmus – für eine Behandlung mit der rund 1,9 Millionen Euro teuren Einmalspritze auswählen. Sie sollen das Medikament kostenlos noch vor der Zulassung erhalten. Die Zulassung in der Europäischen Union (EU) wird für Mitte des Jahres erwartet.
Man lehne die Losvariante des Zolgensma-Härtefallprogramms „aus ethischen Gründen“ ab, schreiben DGM und GNP in einem Brief an Novartis, der dem Deutschen Ärzteblatt vorliegt. Man sei „überzeugt, dass sich die Vergabe des Medikaments bei begrenzten Ressourcen an medizinischen Kriterien der Dringlichkeit orientieren muss und nicht durch ein Zufallsverfahren entschieden werden darf“, heißt es.
DGM und GNP erläutern weiter, dass die Vergabe eines nicht zugelassenen Medikaments im Rahmen eines Härtefallprogramms primär an diejenigen Betroffenen erfolgen sollte, „für die keine Standardtherapie zur Verfügung steht oder bei denen die Standardtherapie nicht wirksam ist“ … Zugleich erklären sich DGM und GNP bereit, in einer Kommission von neuromuskulären Experten, Patientenvertretern und unabhängigen Ethikern zu prüfen, bei welchen Patienten die Kriterien für eine Therapie mit Zolgensma vorliegen. Falls Novartis nicht genügend Dosen bereistellen könne, um alle Patienten zu behandeln, werde die Kommission sich auch der Aufgabe stellen, die Prioritäten in der Behandlung der Patienten festzulegen. Die Behandlungszentren in Deutschland würden sicherstellen, dass die zugeteilten Therapien dann auch zeitnah durchgeführt werden könnten, schreiben DGM und GNP.«