Neue Wege für pflegende Angehörige, die ihren Beruf aufgeben müssen: Eine Anstellung beim Bundesland und eine Bezahlung bis 1.700 Euro netto pro Monat. In Österreich.

Hin und wieder, vor allem aber in politischen Sonntagsreden, wird in der deutschen Pflege-Diskussion bei aller Dringlichkeit, über die Pflegeheime und ambulanten Pflegedienste zu sprechen, darauf hingewiesen, dass mehr als 70 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt werden – und darunter sind viele, die ausschließlich von ihren Angehörigen gepflegt und betreut werden. Hier haben wir den größten und bedeutsamsten Pflegedienst der Nation – und würde auch nur ein spürbarer Teil dieser Menschen die Entscheidung treffen, den pflegebedürftigen Angehörigen in ein Heim geben zu wollen (oder zu müssen), dann würde das deutsche Pflegesystem innerhalb von Minuten kollabieren (vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Das Pflegesystem würde in Stunden kollabieren, wenn … Pflegende Angehörige zwischen großer Politik und institutionalisierter Pflege vom 21. Oktober 2017 sowie zu den Auswirkungen auf die, das machen, den Beitrag Aus den Tiefen und Untiefen des größten Pflegedienstes in Deutschland: Pflegende Angehörige. Und das, was die tun, kann krank und arm machen, der hier am 27. September 2015 veröffentlicht wurde).

In Österreich werden sogar 84 Prozent der Pflegebedürftige zu Hause versorgt, fast die Hälfte von ihnen ausschließlich von den Angehörigen. Wie in Deutschland sprechen wir hier von einer richtig großen Gruppe: Rund 947.000 Menschen, die in irgendeiner Form mit der Pflege von Angehörigen oder Bekannten betraut sind, werden für Österreich genannt. Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Pflegende Angehörige als größter Pflegedienst der Nation – auch in Österreich. Eine Studie hat genauer hingeschaut vom 19. August 2018.

Das Burgenland ist von den neun Bundesländern Österreichs das östlichste und gemessen an seiner Einwohnerzahl kleinste. Zuweilen kommen ja gerade aus den randständigen und kleinen Regionen eines Landes interessante Ideen oder unkonventionelle Maßnahmen. Über eine solche wurde hier am 4. April 2019 berichtet: „Gewinnorientiertes Denken hat in diesem Bereich nichts zu suchen“. Also Pflegeheime nur noch in gemeinnütziger Hand. In einem Teil von Österreich. Darin wurde berichtet: »Im Burgenland sollen Pflegeheime künftig nur mehr gemeinnützig betrieben werden dürfen. Das teilte Landeshauptmann Hans Peter Doskozil (SPÖ) am Montag bei der Präsentation des „Zukunftsplan Pflege“ in Eisenstadt mit. Für Betreiber von Einrichtungen auf gewinnorientierter Basis soll es eine vierjährige Übergangsfrist geben«, so Wolfgang Millendorfer in seinem Beitrag Heime künftig nur mehr gemeinnützig. „Egal, wer in Zukunft in diesen Segmenten tätig wird – sei es in Heimen, sei es in mobilen Betreuungsformen oder sonstigen Betreuungselementen: Es darf niemand, keine Institution, kein Unternehmen hinkünftig hier einen Gewinn erzielen. Sondern das wird landesgesetzlich vorgegeben, dass Pflege nur mehr gemeinnützig zu organisieren ist“, wird Landeshauptmann Hans Peter Doskozil zitiert.

Und aus diesem Bundesland unserer Nachbarn wird nun mit Blick auf die pflegenden Angehörigen von einem interessanten Modell berichtet:

»Laut Sozialministerium pflegen 947.000 Menschen einen Verwandten oder nahen Bekannten. Meist sind es Frauen, die die Arbeit übernehmen: Zu 73% Ehefrauen, Schwestern oder Töchter und Schwiegertöchter. Bei letzteren ist der Schnitt besonders hoch: Rund ein Drittel Pflegebedürftigen werden von ihren Töchtern oder Schwiegertöchtern gepflegt; bei den Söhnen sind es gerade einmal halb so viele.
Während die Mehrheit der Pflegenden bereits in Pension ist, ist jede dritte erwerbstätig und muss Pflege zusammen mit Kindern, Haushalt, Privatleben und Beruf unter einen Hut bringen. Da das oft nicht gelingt, müssen viele ihren Beruf aufgeben (13%) oder einschränken (15%). Das bringt neben Belastung und Isolation auch finanzielle Sorgen.«

Soweit die auch in Deutschland vergleichbare und bekannte Ausgangslage.

»Um die Menschen in dieser Situation zu unterstützen, hat das Land Burgenland ein österreichweit einzigartiges Modell eingeführt: Angehörige, die für die Pflege ihren Beruf aufgegeben mussten, werden vom Land angestellt.«

Darüber berichtet Alina Bachmayr-Heyda in ihrem Artikel Anstellung und 1.700 Euro – das Burgenland zeigt, wie man mit pflegenden Angehörigen umgeht. Die Anstellung »ist ab Pflegestufe 3 möglich – mit allen arbeitsrechtlichen Ansprüchen, die dazu gehören: Was natürlich auch dazugehört und vielen Angehörigen in der Pflege fehlt: Urlaubszeit und Krankenstände. In dieser Zeit bleiben die Pflegebedürftigen nicht unbetreut: Pflegekräfte aus NGO’s übernehmen in dieser Zeit die Vertretung. So können Überforderung und Burnout vorgebeugt werden. Eine Anstellung ist ab Pflegestufe 3 möglich, da sind es 20 Stunden pro Woche. Ab Pflegestufe 4 eine 30-Stunden-Anstellung, und ab Pflegestufe 5 ist eine 40-Stunden-Anstellung – bezahlt wird der burgenländische Mindestlohn von 1.700 Euro netto. Das Geld dafür kommt einerseits aus dem Pflegegeld (zwischen 60 und 90%, je nach Pflegestufe), andererseits aus einem Fördertopf des Landes.«

Zusätzlich bekommen die pflegenden Angehörigen eine kostenlose Grundausbildung in Betreuung und Pflege. Wer möchte, kann eine weiterführende Heimhilfe-Ausbildung machen. Das soll eine professionelle Pflege zuhause sichern und gibt darüber hinaus Angehörigen eine Berufsqualifikation, die den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt erleichtert.

Als einziges österreichisches Bundesland bietet das Burgenland ab 1. Oktober 2019 die Möglichkeit an, sich als Betreuungsperson von pflegebedürftigen Angehörigen bei der landeseigenen und gemeinnützigen Pflegeservice Burgenland GmbH (PSB) anstellen zu lassen (vgl. dazu auch Die PSB-Anstellungs-Modelle). Vor allem im ländlichen Raum, wo es wenig Beschäftigung vor Ort gibt, sind solche Modelle interessant.

Ein interessanter Ansatz.

Der eine oder andere wird sich an dieser Stelle erinnern, dass das in anderen Ländern auch schon in einer ähnlichen Form praktiziert wird. Man ahnt es schon, wir müssen hier in die skandinavischen Länder blicken.

Der dort vorfindbare Ansatz wurde bereits 2015 von Cornelia Heintze angesprochen:

➔ Cornelia Heintze (2015): Auf der Highroad – der skandinavische Weg zu einem zeitgemäßen Pflegesystem Ein Vergleich zwischen fünf nordischen Ländern und Deutschland. 2. aktualisierte und überarbeitete Aufllage, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2015

»Servicebasiert sind die skandinavischen Pflegesysteme auch deshalb, weil sie bei anerkanntem Bedarf die Erbringung von Leistungen durch Familienangehörige oder Bekannte überwiegend in Anlehnung an die Alternative einer formellen Leistungserbringung goutieren. Informell Pflegende erhalten kein Pflegegeld mit der Funktion einer Anerkennungsprämie wie in Deutschland, sondern abgesehen von Finnland Lohnersatzleistungen. Es korrespondiert mit der starken Erwerbsorientierung der skandinavischen Wohlfahrtsstaaten, dass dies bis zur temporären Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen gehen kann. Pflegende Angehörige sind dann gegen entsprechende Bezahlung im Auftrag ihrer Kommune tätig. In Dänemark, Schweden und Norwegen ist dies Praxis in einem Teil der Kommunen.«

Und an anderer Stelle:

➔ Cornelia Heintze (2018): Pflege in der Dauerkrise. Die Logik des Marktes geht zu Lasten des Pflegepersonals und der Qualität. Dort findet man diesen Hinweis:

»Für die temporäre Pflege von Angehörigen aufgrund eines plötzlich eintretenden Pflegefalles halten die skandinavischen Länder ebenso wie Belgien und die Niederlande Lohnersatzleistungen bereit. Sofern der Pflege- und Betreuungsaufwand den Umfang einer Vollzeitbeschäftigung erreicht, gibt es in nordischen Ländern sogar die Möglichkeit, mit der eigenen Gemeinde zeitlich befristet ein Ersatz-Arbeitsverhältnis einzugehen. In Dänemark richtet sich die Vergütung in diesem Fall nach den Tarifen für Pflegehilfskräfte. Das temporäre Beschäftigungsverhältnis ist auf sechs Monate angelegt, eine Verlängerung um maximal drei Monate ist möglich. Seit dem 1. Januar 2017 erhält die nicht-gewerbliche Pflegeperson dann ein monatliches Entgelt von 22.020 Dänischen Kronen, umgerechnet rd. 2.961 €/mtl.«