Dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) wird immer wieder – je nach Standpunkt missbilligend oder dankend – in Rechnung gestellt, dass er sich in vielen früher rein national geregelten Kernbereichen der Sozialpolitik einmischt und Urteile zugunsten der Arbeitnehmer bzw. der betroffenen Personengruppen fällt. Erst vor kurzem wurde hier beispielhaft darüber berichtet: Ein „menschenwürdiger Lebensstandard“ – das Existenzminimum in der europarechtlichen Variante, so ist der Beitrag vom 21. Dezember 2019 überschrieben. »Der Gerichtshof hat … ausgeführt, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, einen würdigen Lebensstandard dauerhaft und ohne Unterbrechung sicherzustellen«, kann man der Entscheidung des EuGH entnehmen.
Und auch mit Blick auf die „Entsendearbeitnehmer“ innerhalb der EU hat der Gerichtshof immer wieder ein schützendes Auge auf die betroffenen Arbeitnehmer geworfen. Um ein aktuelles Verfahren vor dem EuGH als Beleg aufzurufen, lohnt ein Blick auf die Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-610/18. Die Mitteilung des Gerichts ist so überschrieben: „Nach Auffassung von Generalanwalt Pikamäe ist Arbeitgeber von abhängig beschäftigten Lastkraftwagenfahrern im internationalen Straßentransport das Transportunternehmen, das sie auf unbestimmte Zeit eingestellt hat, eine tatsächliche Weisungsbefugnis gegenüber ihnen ausübt und faktisch die Gehaltskosten zu tragen hat.“
Einerseits: Lkw-Fahrer in den Niederlanden, die von einem in Zypern ansässigen „Arbeitgeber“ auf Dauer zu zypriotischen Sozialversicherungsbedingungen im fernen Holland arbeiten (sollen/müssen), haben einen anderen Arbeitgeber
In diesem noch nicht abgeschlossenen Verfahren geht es um eine interessante Variante, wie man durch Rückgriff auf niedrigere Standards in anderen EU-Mitgliedsstaaten Lohndumping-Vorteile in einem anderen (für die Arbeitgeber teureren) EU-Staat realisieren will (vgl. generell zu der hier sich entfaltenden Phantasie der Arbeitgeber auch den Beitrag EU-Entsenderichtlinie: Etwas weniger Lohndumping – und die weiterhin offene Flanke Sozialdumping im Baubereich. Da setzt ein slowenisches Geschäftsmodell an, das über Brüssel gestoppt werden soll vom 27. November 2019). Im derzeit noch laufenden Verfahren geht es um diese Fallkonstellation aus den Niederlanden: Die »AFMB ist eine am 11.Mai 2011 in Zypern gegründete Gesellschaft, die Verträge mit Transportunternehmen und Fahrern, die in den Niederlanden ansässig sind, geschlossen hat.« Was ist das Problem?
Die »AFMB … macht geltend, dass die mit den Fahrern geschlossenen Arbeitsverträge den sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften Zyperns unterlägen, da in diesen Verträgen AFMB ausdrücklich als „Arbeitgeber“ bezeichnet sei, auch wenn diese Fahrer gewöhnlich niederländischen Transportunternehmen zur Verfügung stünden, mit denen AFMB Flottenmanagementverträge geschlossen habe.« Anders ausgedrückt: Die Lkw-Fahrer arbeiten in den Niederlanden, aber auf der Grundlage der im Vergleich zu den Niederlanden deutlich schlechteren (= für die Auftraggeber günstigeren) Sozialversicherungsbedingungen Zyperns, das bekanntlich ziemlich weit weg liegt. Und die AFMB ist gleichsam nur ein Strohunternehmen, um an diesen Kosten-Vorteil auch in den Niederlanden kommen zu können, weil das Unternehmen offiziell als „Arbeitgeber“ fungiert.
Die niederländische Sozialversicherungsanstalt (RSVB) sah das verständlicherweise ganz anders und hat entschieden, dass auf diese Fahrer nicht die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften Zyperns, sondern der Niederlande anwendbar seien. Der RSVB »war der Ansicht, dass die niederländischen Transportunternehmen, die die ihnen für unbestimmte Zeit uneingeschränkt zur Verfügung stehenden Fahrer eingestellt hätten, gegenüber den Fahrern die tatsächliche Weisungsbefugnis ausübten und faktisch die Lohnkosten zu tragen hätten, für die Zwecke der Anwendung der Unionsvorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit als „Arbeitgeber“ anzusehen seien.«
Die zypriotische AFMB hat dagegen geklagt und das Verfahren landete beim niederländischen „Centrale Raad van Beroep“ (Berufungsgericht in Sachen der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes), das sich wiederum an den EuGH gewandt hat mit der Bitte um Erläuterungen zu der Frage, wer „Arbeitgeber“ der Fahrer ist – die in den Niederlanden ansässigen Transportunternehmen oder AFMB.
In seinem Schlussplädoyer kommt Generalanwalt Pikamäe zu diesem Ergebnis (es sei hier darauf hingewiesen, dass die EuGH-Richter in der Regel den Plädoyers der Generalanwälte folgen, aber nicht immer): Die betroffenen Fahrer des AFMB-Unternehmens haben ausschließlich Lastkraftwagen auf Rechnung und Risiko von Transportunternehmen gefahren, die in den Niederlanden ansässig gewesen seien. »Was die Gehaltskosten betreffe, habe zwar AFMB Gehalt unmittelbar an die Fahrer gezahlt, dieses sei aber offenbar von den in den Niederlanden ansässigen Unternehmen finanziert worden, die gemäß den Vereinbarungen, die sie mit AFMB geschlossen hätten, bestimmte Beträge an diese zu leisten gehabt hätten.« Und die Schlussfolgerung des Generalanwalts: »Als Arbeitgeber von Lastkraftwagenfahrern im internationalen Straßentransport sei folglich das Transportunternehmen anzusehen, das den Betreffenden eingestellt habe, dem der Betreffende tatsächlich auf unbestimmte Zeit uneingeschränkt zur Verfügung stehe, das eine tatsächliche Weisungsbefugnis gegenüber dem Betreffenden ausübe und das faktisch die Gehaltskosten zu tragen habe.« Und es geht weiter: »Der Generalanwalt macht deutlich, dass es sich nicht um eine „Entsendung“ im eigentlichen Sinne handele, sondern AFMB den in den Niederlanden ansässigen Unternehmen Arbeitnehmer auf unbestimmte Zeit „zur Verfügung stellt“.« Deshalb können man AFMB nicht als Arbeitgeber bezeichnen, sondern das wären die niederländischen Transportunternehmen. Der Generalanwalt kommt zu dem »Schluss, dass … ein Rechtsmissbrauch vorliege, der es AFMB verbiete, sich auf ihre angebliche Arbeitgebereigenschaft zu berufen«, denn dieses Unternehmen habe »die Arbeitgebereigenschaft durch eine ausgeklügelte Konstruktion des Privatrechts erlangt« und »die Umsetzung dieser rechtlichen Konstruktion (habe) zu einer Verschlechterung des Sozialversicherungsschutzes der Fahrer geführt.«
Wenn das hohe Gericht diesen Ausführungen folgt, dann bekommen wir wieder einmal eine EuGH-Entscheidung, die den Schutzansatz hervorheben wird.
Anderseits: Bei Österreich und Ungarn kann das alles für den EuGH schon wieder ganz anders aussehen
Der EuGH kann auch ganz anders, wie man an dem folgenden Fall erkennen kann und zur Kenntnis nehmen muss:
Zum Sachverhalt: Die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) hatten zwischen 2012 und 2016 das Catering-Unternehmen Do & Co beauftragt, die Zugrestaurants und das Bordservice in mehreren Zügen zu betreuen. Die Züge verbanden München und Salzburg mit Budapest. Und jetzt kommt die aus vielen Branchen bekannte Sub-Sub-Unternehmerkette: Den Auftrag vergab Do & Co weiter an die eigene Tochtergesellschaft Henry am Zug in Österreich. Diese Firma reichte den Auftrag wieder an ein Subunternehmen weiter, die Henry am Zug Hungary Kft. Und warum das alles?
»Der Clou: Diese Gesellschaft hatte ihren Sitz in Ungarn. Die ungarischen Angestellten, die für dieses Unternehmen tätig waren, wurden nach ungarischen Bestimmungen angestellt, entlohnt und sozialversichert und das, obwohl sie zu einem Großteil der Zeit in Österreich tätig waren. Die Caterer verdienten deutlich weniger, als wenn sie nach österreichischen Regeln angestellt worden wären: 500 Euro statt 1500, rechnete die Gewerkschaft einmal vor.« So András Szigetvari in seinem Artikel Niedriglöhne für Ungarn beim ÖBB-Catering waren rechtens. Und seit Jahren tobte in dieser Angelegenheit ein Rechtsstreit rund um die Frage, ob diese Vorgehensweise legal war oder hier illegales Lohndumping betrieben wurde.
Wie es dazu kam? Dazu berichtet Szigetvari: Ausgangspunkt war eine Kontrolle des Arbeitsinspektorates am 28. Januar 2016 am Hauptbahnhof Wien.
»Dabei wurden vom Arbeitsinspektor beim ÖBB-Caterer Henry zahlreiche Rechtsverstöße festgestellt.« Konkret: »Die Bediensteten üben ihre Tätigkeit für den Caterer hauptsächlich in Österreich für österreichische Auftraggeber aus. Sie sind damit entsendete Arbeitnehmer. In diese Kategorie fallen Beschäftigte, die von einem Unternehmen in ein anderes EU-Land geschickt werden, um dort für begrenzte Zeit tätig zu sein. Eine Richtlinie schreibt vor, dass während der Entsendung die Mindestlöhne im anderen EU-Land bezahlt werden müssen und der dortige Kollektivvertrag eingehalten werden muss – in diesem Fall also die Bestimmungen in Österreich. Die Entsendung von Arbeitnehmern muss gemeldet werden, Lohnunterlagen sind laut österreichischem Gesetz mitzuführen. Weil beides im Fall der Arbeitnehmer aus Ungarn beim ÖBB-Caterer nicht der Fall war, brummte der zuständige Wiener Magistrat dem Geschäftsführer der Do-&-Co-Tochter eine hohe Verwaltungsstrafe auf, dem Vernehmen nach 1,3 Millionen Euro.«
Das betroffene Unternehmen erhob dagegen Beschwerde und unterlag vor dem Bundesverwaltungsgericht. Der Fall landete vor dem Verwaltungsgerichtshof, der wiederum den EuGH einige Fragen vorgelegt hat.
Der EuGH hat nunmehr entschieden: Urteil des EuGH vom 19.12.2019, C 16-18. Und diese Entscheidung hat so einige auf dem falschen Fuß erwischt. Denn:
»Das Gericht argumentiert, dass der „wesentliche Teil“ der Arbeit der Caterer nicht in Österreich erledigt wurde, sondern bei der Be- und Entladung der Speisen und Getränke in Ungarn stattfand. Dienstanfang und Dienstende waren ebenfalls in Ungarn, dort wurden die administrativen Aufgaben erledigt. Daher komme die Entsenderichtlinie nicht zur Anwendung.
Die betroffenen Mitarbeiter durften also zu den niedrigeren Löhnen in Ungarn angestellt werden. Auch die übrigen Vorschriften, über Unterlagen, die mitgeführt werden müssen, gelten nicht. Die Strafe gegen den Henry-am-Zug-Chef ist also rechtswidrig.«
Nun muss man im Lichte des vorliegenden Urteils des EuGH darauf hinweisen, dass die Entscheidung eben deshalb so ausgefallen ist, weil man von der Nicht-Anwendbarkeit der Entsenderichtlinie ausgeht. Aber dennoch hat die Entscheidung zu einiger Unruhe bei den österreichischen Gewerkschaften geführt. Dazu András Szigetvari in seinem Artikel: »Die Frage … ist nun, ob die EuGH-Entscheidung auch für anderes Zugpersonal und Buschauffeure Bedeutung erlangt. Für ausländische Züge mit eigenem Personal und Endbahnhof in Österreich greifen aktuell die heimischen Kollektivvertragsbestimmungen, und zwar für den Abschnitt, den man in Österreich unterwegs ist. Bleibt das so? Andere Caterer und Reinigungsfirmen könnten nun zusätzliche Möglichkeiten nutzen und Dienste über ausländische Gesellschaften anbieten, wird befürchtet.« Und die »Arbeiterkammer geht davon aus, dass auch in anderen Branchen das Argument kommen wird, dass der Hauptteil der Leistung nicht in Österreich, sondern im Ausland erbracht werde – etwa am Bau.« Da geht es um ganz andere Beschäftigtenzahlen. Man wird Antworten zu diesen Fragen bzw. Vermutungen derzeit nicht bekommen.
Eines aber ist sicher: Sowohl der Fall mit den Lkw-Fahrern, die unter der Flagge und den Sozialversicherungsbedingungen Zyperns auf Dauer in und für die Niederlande fahren sollen wie auch im zweiten Fall, den Einsatz ungarischer Arbeitskräfte in österreichischen Zügen zu ungarischen Bedingungen betreffend, muss man einen wachsenden Einfluss des EuGH für die Ausgestaltung der nationalen Arbeits- und Sozialpolitiken innerhalb und zwischen den EU-Mitgliedsstaaten zur Kenntnis nehmen und weiterhin im Auge behalten.