Man kann es nie genug betonen: Mit Zahlen wird Politik gemacht (oder eben nicht). Die Angst vor möglicherweise „zu großen“ Zahlen prägt ganze Politikbereiche und die dort immer wieder zu beobachtenden Klimmzüge, durch kreative „Gestaltung“ dessen, was man (nicht) mitzählt, die Ergebnisse zu beeinflussen. Man denke hier nur an den „Klassiker“ der Arbeitsmarktstatistik, beispielsweise bei der Frage, wer denn nun als Arbeitsloser ausgewiesen werden dar und welche trotzdem arbeitslose Menschen man ausklammern kann.
Auch in der Debatte über Altersarmut kann man diesen Mechanismus beobachten. In einer gleichsam doppelten Variante. Da wird zum einen behauptet, die Zahl der Menschen, die Grundsicherung im Alter nach dem SGB XII, also Sozialhilfe für ältere Menschen beziehen, würde die Altersarmut in unserem Land abbilden. Das ist nach den berechtigten Konventionen der Armutsforschung wie auch der seit Jahrzehnten betriebenen offiziellen Statistik schlichtweg falsch, denn ausgehend von diesen Fachstandards bemisst sich die Zahl der altersarmen Menschen an denjenigen, die über weniger als 60 Prozent des am Median gemessenen durchschnittlichen Haushaltseinkommens verfügen können. Konkret: Wenn man im vergangenen Jahr als Alleinstehender weniger als 1.035 Euro pro Monat für alle Ausgaben zur Verfügung hatte, dann gehörte man zur Gruppe der „von Armut bedrohten Menschen“. Das betraf mehr als 20 Prozent der älteren Bevölkerung. Da sehen dann diese Zahlen deutlich „besser“ aus:
„Besser“? Besser wegen der Quote. Interessierte Kreise verweisen gerne darauf, dass doch nur etwas mehr als 3 Prozent der Menschen ab 65 Jahren im Grundsicherungsbezug sind und damit von „Altersarmut“ betroffen seien. Viele Medien haben diese Sprachregelung übernommen und verbreiten dadurch – ob bewusst oder unbewusst – die Botschaft, dass Altersarmut messbar sei am Bezug von „Hartz IV für Ältere“, denn darum handelt es sich bei dieser Sozialhilfeleistung. Aber wie bereits angesprochen handelt es sich hierbei nur um die unterste Grenze von Altersarmut.
➔ Um an dieser Stelle zumindest etwas von den Höhen der Statistik herunterzukommen: Um welche Beträge geht es hier eigentlich? Mit wie viele Geld müssen die Betroffenen über die Runden kommen? Vom Statistischen Bundesamt erfahren wir dazu: Im Juni 2019 gab es in Deutschland 566.244 Empfänger von Grundsicherung im Alter. Deren durchschnittlicher Bruttobedarf wurde mit 808 Euro pro Monat beziffert – für alles, also Wohnen, Lebenshaltung, Teilhabe. Als „anerkannte Aufwendungen für Unterkunft und Heizung“ werden 370 Euro pro Monat ausgewiesen. Und von den Betroffenen selbst werden 353 Euro pro Monat angerechnet, die dann aus deren eigenen Renten stammen ( – ein Betrag, der zugleich verdeutlicht, dass die Menschen im Bezug in der Regel arm wie eine Kirchenmaus sind, was ihre eigenen Einkünfte angeht). Mit diesen Beträgen kann man nun wirklich keine Sprünge machen in unserem Land, oftmals noch nicht einmal die elementaren Dinge des Lebens bestreiten.
Außerdem muss man als zweiten hoch problematischen Aspekt berücksichtigen, dass die Zahlen natürlich nur diejenigen ausweisen, die sich im Bezug von Grundsicherung im Alter befinden, nicht aber die Menschen, die eigentlich in diese Gruppe gehören, sich aus unterschiedlichen Motiven heraus aber dem System entzogen haben, weil sie ihnen eigentlich zustehende Leistungen des Sozialstaates nicht in Anspruch nehmen. Damit wären wir dann bei der sogenannten „Dunkelziffer“ angekommen, also der Zahl und dem Anteil der Nicht-Inanspruchnahme dieser Leistung.
Und deren Zahl ist nun wirklich nicht unerheblich oder gar zu vernachlässigen, worauf schon seit vielen Jahren von wissenschaftlicher Seite immer wieder hingewiesen wurde und wird.
So beispielsweise in dem Beitrag Die vorhandene und kommende Altersarmut diesseits und jenseits der bedürftigkeitsabhängigen Grundsicherung im Alter vom 1. September 2018: »… tatsächlich zeigen Studien eine immer noch sehr hohe Dunkelziffer – darunter versteht man die Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen aus der Grundsicherung für Ältere, obwohl einem die eigentlich zustehen. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang ein Wert in Höhe von 40 Prozent genannt – also 40 Prozent derjenigen, die Ansprüche auf Grundsicherungsleistungen haben, nehmen die aus unterschiedlichen Gründen nicht wahr.« Als Quelle für diese Schätzung der Nicht-Inanspruchnahme wurde diese Veröffentlichung angegeben:
➔ Irene Becker (2012): Finanzielle Mindestsicherung und Bedürftigkeit im Alter, in: Zeitschrift für Sozialreform, Heft 2/2012
Dazu wurde dann in dem Beitrag aus dem vergangenen Jahr ausgeführt: »Ihre Berechnungen auf Basis von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) für das Jahr 2007 förderten den folgenden Befund zu Zage: Von gut einer Million Menschen ab 65 Jahren, denen damals Grundsicherung zustand, bezogen nur 340.000 tatsächlich Leistungen. Die „Quote der Nichtinanspruchnahme“, also die Dunkelziffer der Armut, betrug 68 Prozent. Becker hat damals darauf hingewiesen, dass so ausgewiesene Dunkelziffer eher eine Unterschätzung darstellen könnte, wenn man davon ausgeht, dass Menschen, die den Gang zum Sozialamt scheuen, auch überdurchschnittlich häufig vor der Teilnahme an Befragungen zurückschrecken.«
Offensichtlich sind die von Becker genannten 40 Prozent eher eine Unterschätzung der tatsächlichen Nicht-Inanspruchnahme. Dazu gibt es nun aus dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine neue Studie, die zu noch höheren Werten kommt:
➔ Hermann Buslei, Johannes Geyer, Peter Haan und Michelle Harnisch (2019): Starke Nichtinanspruchnahme von Grundsicherung deutet auf hohe verdeckte Altersarmut, in: DIW Wochenbericht, Nr. 49/2019
Einige zentrale Befunde aus der Studie von Buslei et al. (2019): Die Grundsicherung im Alter wird von rund 60 Prozent der Anspruchsberechtigten – hochgerechnet etwa 625.000 Privathaushalten – nicht in Anspruch genommen. Anders ausgedrückt: von 100 Berechtigten nehmen nur 38 die Grundsicherung in Anspruch. Personen mit geringem Anspruch, ImmobilieneigentümerInnen, ältere und verwitwete Personen verzichten häufiger als andere auf Grundsicherung. Bei voller Inanspruchnahme würde das verfügbare Einkommen der Haushalte, die Grundsicherung aktuell nicht beziehen, aber beziehen könnten, um rund 30 Prozent steigen.
„Vier Gründe vermuten wir hinter der Nichtinanspruchnahme der Grundsicherung: Unwissenheit, geringe Ansprüche, Stigmatisierung und Komplexität. Viele Menschen wissen nicht, dass sie anspruchsberechtigt sind. Andere trauen sich nicht zuzugeben, dass sie bedürftig sind, und wieder anderen ist das Verfahren zu bürokratisch und aufwendig.“ (Peter Haan)
In ihrem Fazit schreiben die Wissenschaftler des DIW: »Vor allem Grundsicherungsberechtigte mit geringen Ansprüchen beziehen keine Grundsicherung. Dabei ist zu bedenken, dass die Ansprüche zwar gering ausfallen, aber gerade in diesem Einkommensbereich auch kleinere Geldbeträge erhebliche Verbesserungen bedeuten können. Hinzu kommt, dass Bezieherinnen und Bezieher von Grundsicherungsleistungen beispielsweise von der Rundfunkgebühr befreit sind und in vielen Regionen vergünstigte Angebote der öffentlichen Infrastruktur wahrnehmen können (beispielsweise ermäßigter öffentlicher Nahverkehr oder ermäßigter Eintritt in Museen). Grundsicherungsberechtigte mit geringen Einkommen und einem hohen Anspruch erhalten dagegen in vier von fünf Fällen Leistungen (Nichtinanspruchnahme von 20 Prozent).«
»Die Analysen zeigen auch, dass sich für Haushalte, die ihren Anspruch heute nicht geltend machen, die Einkommen im Fall der Inanspruchnahme merklich erhöhen würden. Bei den meisten Gruppen liegt die Zunahme bei rund 30 Prozent. Diese Einkommenseffekte hätten auch Auswirkungen auf die Einkommensverteilung aller Seniorinnen und Senioren. Die Einkommen im untersten Dezil würden um etwa 15 Prozent steigen.«
Was aber wiederum an anderer Stelle erhebliche Auswirkungen hätte, denn das müsste dann ja aus Steuermitteln gegenfinanziert werden. Anders ausgedrückt – der Staat spart eine Mengel Geld durch dieses Verhalten älterer Menschen: Für 2015 kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass es sich hierbei um etwa zwei Milliarden Euro im Jahr handelt.
Und Buslei et al. (2019) machen auch Verbesserungsvorschläge: »Erleichterungen im Verfahren könnten sich durch eine Standardisierung der Einkommensprüfung ergeben. Insbesondere könnten die Träger der Sozialhilfe oder der Rentenversicherung einen „vorausgefüllten Antrag“ mit allen ihnen bekannten Einkommensinformationen der Antragstellerin oder des Antragstellers und nach Zustimmung von Partnerin oder Partner zusenden. Dies könnte bei der Bewilligung der Rente und der jährlichen Rentenmitteilung erfolgen. Zielführend könnte es auch sein, die Bewilligungsphase von derzeit zwölf Monaten zu verlängern. Das vereinfacht den Aufwand für die Seniorinnen und Senioren und wird zu keinen größeren Anpassungen oder Fehlerquoten führen, da – abgesehen vom Todesfall des Partners oder einer Heirat – sich im Rentenalter die Einkommenssituation im Regelfall nur noch geringfügig ändert.«
Und es sei darauf hingewiesen, dass die Nicht-Inanspruchnahme von Grundsicherung ganz erhebliche Auswirkungen in anderen, vorgelagerten Systemen haben kann. Dazu am Beispiel der „Grundrente“ dieser Beitrag vom 30. November 2019: Von der erstplatzierten und (partei)politisch gerne in das Schaufenster gestellten „Respektrente“ über das „Rollerchaos“ zum eigentlichen sozialpolitischen Problem: Alles nur ein „Grundrenten-Bluff“? Dort wurde aufgezeigt, dass der Bezug von Grundsicherung im Alter Voraussetzung dafür ist, dass ein Teil der gesetzlichen Rentenbezüge im Sinne eines Freibetrags nicht auf die Grundsicherung angerechnet und mit dieser zu 100 Prozent verrechnet wird.
Abschließend bleibt zu hoffen, dass gerade die Medien zur Kenntnis nehmen, dass man nicht ungeprüft die offiziellen Zahlen über die Empfänger von Grundsicherung im Alter heranziehen sollte, sondern das hier besonders ausgeprägte Problem einer Nicht-Inanspruchnahme berücksichtigen muss, um zu einer realistischeren Einschätzung kommen zu können.
Und es sei hier darauf hingewiesen, dass das Problem der Nicht-Inanspruchnahme eigentlich zustehender Leistungen nicht auf die Grundsicherung im Alter beschränkt oder dort besonders auffällig hoch ist. Auch Buslei et al. (2019) verweisen auf die Studie von Irene Becker aus dem Jahr 2012 als Ausnahme unter den bislang vorliegenden Forschungsarbeiten, die sich mit der Nicht-Inanspruchnahme von Sozialhilfe bzw. Grundsicherung beschäftigt haben, denn Becker hat sich explizit mit den Älteren beschäftigt. Die bisher veröffentlichten Studien weisen je nach Annahmen und Daten eine Quote der Nichtinanspruchnahme von etwa 40 bis 60 Prozent aus. In anderen Worten: Würden alle berechtigten Personen ihre Ansprüche geltend machen, lägen die Bezugsquoten etwa doppelt so hoch wie beobachtet.
Zu den angesprochenen Studien und den dort präsentierten Schätzergebnissen: Joachim R. Frick und Olaf Groh-Samberg (2007): To Claim or Not to Claim: Estimating Non-Take-up of Social Assistance in Germany and the Role of Measurement Error; Kerstin Bruckmeier und Jürgen Wiemers (2012): A New Targeting: A New Take-Up?, in: Empirical Economics 43/2, 565–80; Kerstin Bruckmeier et al. (2013): Simulationsrechnungen zum Ausmaß der Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Abgrenzung und Struktur von Referenzgruppen für die Ermittlung von Regelbedarfen auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008; Michelle Harnisch (2019): Non-Take-Up of Means-Tested Social Benefits in Germany; Kerstin Bruckmeier, Regina T. Riphahn und Jürgen Wiemers (2019): Benefit Underreporting in Survey Data and Its Consequences for Measuring Non-Take-up: New Evidence from Linked Administrative and Survey Data.
Dass die Bezugsquoten bei voller Berechtigung auf der Basis der bestehenden Normen doppelt so hoch liegen würden als heute beobachtet – das sollten sich alle merken, die sich in Politik und Medien immer mit großer Verve auf die Fälle stürzen, bei denen jemand zu Unrecht Leistungen bezieht.