Von der erstplatzierten und (partei)politisch gerne in das Schaufenster gestellten „Respektrente“ über das „Rollerchaos“ zum eigentlichen sozialpolitischen Problem: Alles nur ein „Grundrenten-Bluff“?

Die „Grundrente“ hat es geschafft. Nicht nur für einen Moment lang in alle Medien, sondern die vom Bundesrentenminister Hubertus Heil (SPD) fast schon zärtlich als „Respektrente“ titulierte rentenpolitische Maßnahme wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) nun zum „Wort des Jahres 2019“ gekürt. Die „Respektrente“ steht damit an der Spitze einer illustren Sammlung von Begriffen, denen man für das sich dem Ende zuneigende Jahr 2019 besondere Bedeutung zuschreibt. Auf den folgenden Plätzen sind diese Worte gelandet: Rollerchaos, Fridays for Future, Schaulästige, Donut-Effekt, brexitmüde, gegengoogeln, Bienensterben, Oligarchennichte und Geordnete-Rückkehr-Gesetz, so diese Pressemitteilung: GfdS wählt »Respektrente« zum Wort des Jahres 2019.

Aber warum „Respektrente“ auf Platz 1? Dazu aus der Gründung der Jury: »Aus sprachlicher Sicht handelt es sich um die Neubildung eines Hochwertwortes in der politischen Debatte, die der Selbstaufwertung durch Fremdaufwertung dient. Es gehe bei dem Projekt nicht ausschließlich um einen Beitrag zur Bekämpfung von Altersarmut, so der Bundesarbeitsminister, sondern vor allem um Respekt, die „Anerkennung der Lebensleistung“.« Das sollten wir uns merken: Selbstaufwertung durch Fremdaufwertung. Sollte man das als einen wohlverpackten Hinweis verstehen, dass hier vor allem Politik-Marketing betrieben wird? Aber auch die Wahl des Zweitplatzierten unter den Wörtern des Jahres 2019 ist aufschlussreich: „Rollerchaos“. Dazu die Jury: Es geht um die 2019 erfolgte Zulassung von mietbaren E-Rollern. »Diese entwickelten sich in vielen deutschen Städten rasch zu einem Problem, da sie häufig rücksichtslos und verkehrswidrig benutzt und unkontrolliert überall abgestellt werden.« Das hat man sich bestimmt anders vorgestellt. Wie möglicherweise immer noch viele unter der „Grundrente“ etwas anderes vor Augen haben, als das, was bei dem Kompromiss innerhalb der GroKo herausgekommen ist. Was genau aber ist das eigentlich, diese „Grundrente“?

Der sozialdemokratische Minister ist hellauf begeistert und spart auch nicht mit Superlativen: »Für die Menschen, die die Grundrente bekommen, ist es ein sozialpolitischer Meilenstein … Mir war wichtig, dass jemand, der ein Leben lang gearbeitet hat, am Ende mehr bekommt als die Grundsicherung. Dafür wollte ich eine unbürokratische Lösung. Das haben wir erreicht«, so Hubertus Heil in einem Interview. Da stellt sich natürlich die Frage, ob das eigentlich wirklich auch so sein wird durch das Instrumentarium, auf das man sich nach monatelangem Ringen in der GroKo verständigt hat. Diese Frage gewinnt an Brisanz, weil man zeigen kann, dass mindestens ein ganz dickes Fragezeichen anzubringen ist, wenn nicht sogar der abschließende Stempel: Das war sicher gut gemeint, aber rauskommen wird etwas anderes, wenn man von den am 10. November 2019 vorgestellten Koalitionsbeschluss ausgeht. Die Abbildung soll verdeutlichen, was man sich unter der „Grundrente“ im engeren Sinne vorstellen muss und was es sonst noch an ergänzenden Vereinbarungen gibt.

Der kritische Blick von oben: Die „Grundrente“ wird mehrfach zu heiß gewaschen und läuft wunschgemäß ein

Ein kurzer vergleichender Blick zurück in das Frühjahr 2019 kann hilfreich sein: »Im Mai sah der Gesetzentwurf des Sozialministeriums noch vor, dass 2021 etwa 2,9 Millionen Menschen Grundrente erhalten könnten. Der „Kompromiss“ geht jetzt von 1,2 bis 1,5 Millionen aus. Die Kosten wurden von ursprünglich geplanten 3,8 Milliarden Euro auf 1,1 bis 1,5 Milliarden Euro fast auf ein Drittel gekürzt. „Keine Bedürftigkeitsprüfung“ wurde in Einkommensprüfung geändert«, so beispielsweise Reiner Heyse in seinem Beitrag Grundrente: Ergebnis mit Schwindsucht, aber gesteigerte Begeisterung. 35 Jahre Beitragszeiten sind erforderlich – ohne Berücksichtigung von Zeiten der Arbeitslosigkeit. Weitaus problematischer: »Über 60% der Rentnerinnen in den alten Bundesländern haben weniger als 35 Beitragsjahre.« Und eine weitere Zugangshürde: Die »Rente darf nicht weniger als 30% und nicht mehr als 80% von der Durchschnittsrente betragen. Aktuell beträgt die Durchschnittsrente bei 35 Beitragsjahren 1.157€. Davon 30% gerechnet ergeben 347€. Wer weniger als 347€ Rente bezieht, ist zu arm für die Grundrente! Und das, obwohl er/sie 35 Jahre eingezahlt hat. Bei z.B. 45 Beitragsjahren wird das noch absurder: Die Durchschnittsrente beträgt dann 1.487€. Davon 30%, ergeben 446€. Daraus folgt, dass Menschen, die 45 Jahre Beiträge geleistet haben, aber eine Rente unter 446€ beziehen, von der Grundrente ausgeschlossen sind.« Auch hier sind wir Zeugen eines Schrumpfprozesses: »Ursprünglich (Februar) waren 20% geplant, daraus wurden im Gesetzentwurf (Mai) 24% und nun im November die 30%.«

Und dann die für die meisten Menschen ominösen 12,5 Prozent, die von dem Zuschlag wieder abgezogen werden sollen: diese Kürzung gab es Anfang des Jahres 2019 in dem damaligen Modell noch nicht. Sie verringern die Grundrente und sollen ein vermeintliches Gerechtigkeitsproblem verhindern helfen: Im Koalitionsbeschluss wird dieses Kürzung der „Grundrente“ als „Stärkung des Äquivalenzprinzips“ verkauft, also die Beitragszahler, die keine Aufstockung ihrer niedrigen Rentenbezüge bekommen, aber auch 35 oder mehr Jahre gearbeitet haben, sollen etwas besser dastehen als die armen Schlucker, bei denen niedrige Renten aufgewertet werden.

Wie das BMAS selektiv und am obersten Rand zu rechnen versucht

Das alles lässt einen schon ernüchtert zurück. Das Bundesarbeitsministerium (BMAS) versucht, dagegen zu halten und hat als ein Beispiel, das dann auch gerne von den verständlicherweise überforderten Medien aufgegriffen wurde und wird, eine fiktive Friseurin hervorgezaubert, die es zu auf den ersten Blick zu ansehnlichen Verbesserungen bringen wird. Bei der würde es sich laut Ministerium so aussehen:

Beispiel: Eine Friseurin, die 40 Jahre auf dem Niveau von 40 % des Durchschnittslohns voll gearbeitet hat, kommt derzeit auf eine monatliche Rente von 528,80 Euro, mit der Grundrente käme sie künftig auf eine Monatsrente von 933,66 Euro.*
*1 EP entspricht derzeit 33,05 €. 40 Jahre o. g. Lohnniveau ergeben einen Durchschnittswert von 0,4 EP, 40 x 0,4 EP = 16 EP; 16 x 33,05 € = 528,80 €. Durch die Grundrente würden künftig die Durchschnitts-EP von 0,4 EP für 35 Jahre auf das 1,875-Fache angehoben. Das ergibt einen Zuschlag zu den durch Beiträge erworbenen 16 EP von 35 x 0,4 EP x 87,5 % = 12,25 EP; 12,25 EP x 33,05 € = 404,86 €; 404,86 € + 528,80 € = 933,66 €.
Quelle: BMAS (2019): Die Grundrente kommt, Berlin, 11.11.2019

Nun wird der eine oder andere sofort erkennen können, dass das Ministerium hier ein Fallbeispiel gewählt hat, bei dem zum einen der höchste Aufstockungsbetrag realisiert werden kann (die maximal 35 Jahre können höchstens auf 0,8 Entgeltpunkte angehoben werden; wenn die anderen Voraussetzungen erfüllt sind), zum anderen erweckt der vom BMAS ausgewiesene Betrag den Eindruck, dass man über den Grundsicherungsbetrag – der derzeit im statistischen Durchschnitt und mit regionalen Streubreiten versehen bei 808 Euro pro Monat liegt – kommen wird. Immerhin hat unsere Friseurin am Ende durch den Grundrenten-Zuschlag einen Betrag von mehr als 933 Euro im Monat und damit mehr als der Grunsicherungsempfänger.

Wenn das tatsächlich so einfach wäre.

Hat das Ministerium bei dem schönen Beispielfall nicht etwas vergessen? Wie wäre es mit den Beiträgen an die Kranken- und Pflegekassen? Um nur einen Punkt anzudeuten

Sollte es sich für viele tatsächlich eher um einen „Grundrenten-Bluff“ handeln?

Das ist natürlich starker Tobak, wenn man von einem „Bluff“ spricht. Aber schauen wir einmal genauer hin, ob da was dran ist.

»Mit der Grundrente wollte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil langjährig Versicherte vor der Sozialhilfe bewahren. Doch nun zeigt sich: In den meisten Fällen wird die Grundrente dafür nicht reichen«, so Niklas Hoyer in seinem Beitrag Der Grundrenten-Bluff. Wie kommt er zu so einer Feststellung?

„In den meisten Fällen von langjährigen Niedrigverdienern wird die ausgezahlte Grundrente unter der Grundsicherung liegen“, sagt der Finanzmathematiker und Rentenexperte Werner Siepe. Der Grund: Bezieher einer Grundrente müssen darauf rund elf Prozent Beitrag für Kranken- und Pflegekasse zahlen. In der Grundsicherung hingegen fällt kein Kassenbeitrag an.

Höchst aufschlussreich ist an dieser Stelle die Reaktion des BMAS: »Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales beschwichtigt: Bezieher einer niedrigen Grundrente könnten zusätzlich Grundsicherung beziehen. Dann wäre sichergestellt, dass sie in Summe mehr Geld zur Verfügung hätten als ein Grundsicherungsbezieher. Dafür soll ein spezieller Freibetrag bei der Grundsicherung eingeführt werden, sodass die Rente nicht voll verrechnet wird, sondern Rentner einen Teil davon auf die Grundsicherung obendrauf bekommen.«

Aber der Freibetrag setzt voraus, dass die Betroffenen in der Grundsicherung im Alter sind oder diese beantragen. Wenn man sich nicht im Grundsicherungsbezug befindet, dann greift der geplante Freibetrag schlichtweg gar nicht. Auch Hoyer präsentiert uns eine Rechnung:

»Beispiel: Ein Rentner mit 35 Beitragsjahren im Westen, der immer 50 Prozent des allgemeinen Durchschnittsverdienstes erzielt hat, würde derzeit eine normale Rente von 578 Euro erhalten. Sie errechnet sich aus 35 Jahren multipliziert mit dem aktuellen Rentenwert von 33,05 Euro (den gibt es beim allgemeinen Durchschnittsverdienst) und 50 Prozent. Nun würde der Abstand zwischen den erreichten 50 Prozent des Durchschnittsverdienstes und den bei der Grundrente angestrebten 80 Prozent aufgestockt, abzüglich 12,5 Prozent. Der Aufstockungsbetrag läge also bei: 35 Jahren mal (0,8 minus 0,5) mal 33,05 Euro abzüglich 12,5 Prozent, ergibt 303,65 Euro. Die aufgestockte Grundrente läge bei rund 882 Euro (578 Euro normale Rente + 303,65 Euro Aufstockung). Nur gingen davon elf Prozent Beitrag für Kranken- und Pflegeversicherung runter, also 97 Euro. Ausgezahlt würden nur 785 Euro. Im Durchschnitt liegt die Grundsicherung im Alter laut Statistischem Bundesamt aber bei 808 Euro, also darüber.«

Aber sicher ist das nur ein Einzelfall – oder doch nicht?

»Und das ist kein Einzelfall. Mit 35 Beitragsjahren würden Rentner in den alten Bundesländern derzeit zwischen 650 und 920 Euro Grundrente erhalten, vor Abzügen. Nach Abzug von elf Prozent Kassenbeitrag blieben ihnen 580 bis 820 Euro monatlich übrig. Sollten Rentner sich für eine abschlagspflichtige Frührente entscheiden, läge das Niveau noch niedriger.«

Am Ende dann doch: Ab zum Sozialamt? Inklusive der angeblich vermiedenen Bedürftigkeitsprüfung

Allen rosa-wolkigen Versprechungen des Bundesarbeitsministers zum Trotz könnte es für die meisten Betroffenen dann doch so heißen wie ein Artikel von Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung vom 27.11.2019 überschrieben ist: “ Ab zum Sozialamt“. Auch Öchsner zitiert den Finanzmathematiker Werner Siepe: „Viele der betroffenen Rentner werden trotz der Grundrente, also trotz des neues Zuschlags auf ihre erreichte Rente weiter auf die Grundsicherung angewiesen sein. Sie müssen also beim Sozialamt ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse komplett offenlegen. Dabei wollte man das über die Grundrente ja gerade verhindern“, kritisiert Siepe.

»Geht es um die gesetzliche Rente, kann man mit zwei unterschiedlichen Beträgen rechnen: Das eine ist die Bruttorente, von dieser ist der Beitrag zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung abzuziehen. Das andere ist der tatsächliche Rentenzahlbetrag, bei dem die Beiträge für die Krankenkasse schon abgezogen sind. Sinnvoll ist es daher, den Rentenzahlbetrag und nicht die Bruttorente mit der beitragsfreien Grundsicherung zu vergleichen. Genau dies geschehe in den Papieren des Arbeitsministeriums aber nicht, schreibt Siepe in seiner Analyse. Und dies führe dann zu „irreführenden Ergebnissen“.«

Werner Siepe bilanziert: „In vielen Fällen von langjährigen Niedrigverdienern mit 35 oder 40 Beitragsjahren wird der Zahlbetrag der Grundrente unter der Grundsicherung liegen. Davon, dass die Grundrente laut Koalitionsvertrag rund zehn Prozent über der Grundsicherung liegen soll, kann nur in absoluten Ausnahmefällen die Rede sein.“

Nun wird der eine oder andere darauf hinweisen, dass es aber neben der Aufwertung unterdurchschnittlicher Entgeltpunkte doch auch noch den Freibetrag geben soll, dass man also einen Teil der gesetzlichen Rente behalten kann, wenn – genau, wenn man denn Grundsicherung im Alter bezieht. Eine bedürftigkeitsabhängige Sozialhilfe-Leistung. So dass am Ende dann doch die von der Union immer geforderte Bedürftigkeitsprüfung stehen würde. Damit überhaupt ein paar Krümel mehr auf dem Konto der Betroffenen landen können.

Fazit: Offensichtlich hängen „Respektrente“ und das zweitplatzierte „Rollerchaos“ enger miteinander zusammen in der angeblich schönen neuen „Grundrenten“-Welt, als mancher sich das so vorgestellt hat (oder vorstellen wollte).

Wenn man dann noch bedenkt, dass die Finanzierung der bereits erheblich eingedampften 1,1 bis 1,5 Mrd. Euro pro Jahr aus der in Aussicht gestellten, aber noch gar nicht vorhandenen „Finanztransaktionssteuer“ erfolgen soll (vgl. hierzu kritisch den Beitrag Man ist guter Hoffnung: Die Finanzierung der „Grundrente“ aus einer derzeit noch nicht vorhandenen, aber in Aussicht gestellten Finanztransaktionssteuer, die zugleich woanders landen wird, als ursprünglich geplant vom 12. November 2019), dann wird klar, dass wir bei der großkoalitionären „Grundrente“ einer veritablen Rosstäuscherei aufsitzen, wenn das nicht alles entsprechend einsortiert, kritisiert und idealerweise korrigiert wird. Für eine Korrektur bestehen aber in dieser GroKo nach dem Gerangel in den vergangenen Monaten leider kaum realistische Aussichten.