Reinschreiben und dann doch wieder löschen: Ein Rechtsanspruch auf Kurzzeitpflege. Ein weiteres Lehrstück aus dem mehrfach überforderten Pflege-System

Auch wenn derzeit alle Welt über ein demnächst, möglicherweise später oder auch nicht anstehendes vorzeitiges Ende der GroKo spekuliert – noch sind Union und SPD am Ruder und da gilt dann – ebenfalls noch – der Koalitionsvertrag, in dem die Vorhaben dieser temporären Vereinigung Sich-nicht-Liebender beschrieben worden sind. Und dort findet man Punkte, die auf eine Realisierung warten. Beispielsweise im Pflegebereich:

»Um Angehörige besser zu unterstützen, gehören insbesondere Angebote in der Kurzzeit- und Verhinderungspflege sowie in der Tages- und Nachtpflege, die besonders pflegende Angehörige entlasten, zu einer guten pflegerischen Infrastruktur. Wir wollen die o. g. Leistungen, die besonders pflegende Angehörige entlasten, zu einem jährlichen Entlastungsbudget zusammenfassen, das flexibel in Anspruch genommen werden kann. Damit können wir erheblich zur Entbürokratisierung in der ambulanten Pflege beitragen, die häusliche Versorgung stärken und pflegende Angehörige entlasten. Wir werden die Angebote für eine verlässliche Kurzzeitpflege stärken, indem wir eine wirtschaftlich tragfähige Vergütung sicherstellen.« (S. 96 f.)

Ganz offensichtlich haben die Konstrukteure der „Großen“ Koalition 2018 erkannt, dass es hier erheblichen Bedarf an Weiterentwicklung gibt, der immer wieder in den Sonntagsreden über eine Stärkung der pflegenden Angehörigen wie aber auch angesichts realer Versorgungsmängel beispielsweise beim Übergang aus dem Krankenhausbereich in das häusliche Umfeld gibt. Und die Zahlen zeigen – hier hätte bereits viel mehr passieren müssen.

Aber nun soll was passieren und selbst Kenner des Systems waren sicher überrascht, als sie diese Meldung der Süddeutschen Zeitung gesehen haben: »Die Koalitionsfraktionen aus Union und SPD wollen einen Rechtsanspruch auf einen Kurzzeitpflegeplatz einführen. Das geht aus einem gemeinsamen Antragsentwurf hervor … Bei der Kurzzeitpflege geht es um befristete Aufenthalte im Pflegeheim, beispielsweise, wenn nach einer Behandlung im Krankenhaus niemand da ist, um einen gebrechlichen oder kranken Menschen zu Hause zu versorgen. Die Kurzzeitpflege oder sogenannte Verhinderungspflege ist auch als Entlastung für Familien vorgesehen, die einen Angehörigen dauerhaft pflegen. Durch die Möglichkeit, den Pflegebedürftigen für einige Wochen in professionelle Betreuung zu geben, können viele Pflegende überhaupt einmal Urlaub machen«, so Kristiana Ludwig in ihrem Artikel Union und SPD wollen Rechtsanspruch auf Kurzzeitpflege. Offensichtlich wird nun endlich das bereits im Koalitionsvertrag anerkannte Problem adressiert: »Bislang sind insbesondere die Kurzzeit-Plätze in Deutschland rar. In den Heimen stehen nur selten Betten leer, und die Finanzierung dieser Angebote ist nicht auskömmlich. Laut dem Papier wollen die Regierungsfraktionen deshalb eine „wirtschaftlich tragfähige Vergütung“ stärken und außerdem Mittel dafür bereitstellen, dass Patienten, die nach einem Krankenhausaufenthalt erst einmal ins Pflegeheim gehen, dort auch bei der Organisation ihrer späteren Wohnsituation unterstützt werden.«

Aber gleich ein Rechtsanspruch? Wer soll dessen Einlösung denn sicherstellen? »Der Antrag sieht vor, dass neben den Pflegekassen auch die Bundesländer die Verantwortung für zusätzliche und rechtlich garantierte Plätze tragen.« Mit dem Rechtsanspruch will man einen verbindlichen flächendeckenden Ausbau der Kurzzeitpflege gewährleisten. Im Grunde absolut nachvollziehbar. Aber die Pflegekassen und vor allem die Bundesländer als Garanten für eine Umsetzung des Rechtsanspruchs?

Das ist – gelinde gesagt – ambitioniert, mutig, dreist. Die Pflegekassen kann man bundesgesetzlich sicher über das SGB XI verpflichten, dieses oder anderes zu tun. Aber die Bundesländer? Natürlich, man ahnt es schon, würde entsprechend des gerne zitierten Konnexitätsprinzips die Frage nach der Gegenfinanzierung auf die Tischplatte gelegt werden. Und an der Umsetzbarkeit kommen dann sofort mehr als Zweifel auf, wenn man den (angeblichen) Versuch der Koalitionsfraktionen auf der Berliner Bühne, die Quellen für eine Gegenfinanzierung zu erläutern, zur Kenntnis nimmt: Die angesprochenen Bundesländer »… „sollen Einsparungen, die sich aus der Einführung der Pflegeversicherung für die Sozialhilfeträger ergeben haben, zum Aufbau der Pflegeinfrastruktur nutzen“, heißt es.«

Nun ist die Pflegeversicherung zwar als letzte Säule der Sozialversicherungen spät installiert worden, aber aus Sicht des sich dem Ende zuneigenden Jahres 2019 ist das mittlerweile schon so einige Jahre her, 1995 haben die Leistungen aus der Pflegeversicherung das Licht der Versorgungswelt erblickt. Nun auf die damaligen Entlastungen vor allem bei der Hilfe zur Pflege nach dem BSHG und später SGB XII zu verweisen (unabhängig von der Tatsache, dass sich tatsächlich viele Bundesländer nach der Einführung der Pflegeversicherung einen schlanken Fuß gemacht haben, beispielsweise in Form eines Ausstiegs aus der Investitionskostenförderung und generell der Infrastrukturentwicklung), ist irgendwie mehr als ein bemühter Versuch. Das nicht nur, aber auch vor dem Hintergrund, dass die Bundesebene gerade erst mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz (vgl. dazu ausführlicher Die Bundesregierung will die Angehörigen von Pflegebedürftigen entlasten. Eine gute Sache. Wie immer ist es dann aber etwas komplizierter vom 27. September 2019) eine Neuregelung verabschiedet hat, mit der zwar ein Großteil der bislang unterhaltspflichtigen Kinder entlastet werden, aber die damit verbundenen ausfallenden Einnahmen in der kommunalen Sozialhilfe nicht kompensiert werden, so dass es ceteris paribus einen Ausgabenanstieg bei der Hilfe zur Pflege nach SGB XII geben muss.

Kommando zurück – das mit dem Rechtsanspruch war nicht so gemeint

Bevor man sich aber jetzt zu sehr verliert in den Umsetzungsfragen einen Rechtsanspruch betreffend – einen solchen wird es nicht geben. »Union und SPD wollen, dass die Kurzzeitpflege in Deutschland verstärkt gefördert wird. Das geht aus einem finalen Antrag der beiden Fraktionen im Bundestag hervor, der dem Deutschen Ärzteblatt vorliegt«, kann man dieser Meldung entnehmen: Koalition plant Aufwertung der Kurzzeitpflege. Die Betonung liegt hier aber auf dem schnell überlesenen Begriff „finaler“ Antrag, denn offensichtlich hat es Entwürfe vorher gegeben, die anders aussahen. Und das ist hier von besonderer Bedeutung, denn: »Einen Rechtsanspruch auf einen Platz, wie die Süddeutsche Zeitung heute berichtete, soll es hingegen nicht geben. Dem Vernehmen nach soll dieser in einer frühen Arbeitsfassung des Antrags noch enthalten gewesen sein. Es soll aber Bedenken bei der Umsetzung gegeben haben.«

Das berichtet das Deutsche Ärzteblatt und schiebt sicherheitshalber und korrekt hinterher: »Eine offizielle Bestätigung gab es dazu von Union oder SPD heute nicht.« Aber es wird sicher so sein, dass man keinen Rechtsanspruch fixieren wird, denn neben dem bereits angesprochenen föderalistischen Minenfeld muss man eben auch zur Kenntnis nehmen, dass wir gegenwärtig von einem sehr niedrigen Niveau starten: „Bundesweit besteht ein Engpass an Kurzzeitpflegeplätzen. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und steigenden Zahl an Pflegebedürftigen wird sich diese Situation noch verschärfen“, schreiben die Regierungsfraktionen in der Begründung. Was zwangsläufig ganz erhebliche Investitionen und vor allem dauerhaft sicherzustellende Mittel für die laufende Finanzierung dieser Kurzzeitpflegeplätze bedeuten würde und wird (denn der Bedarf ist da und die Politik wird so oder so Antworten auf den Ausbaubedarf geben müssen).

Zum Bedarf nur dieser Hinweis: Es geht bei der Kurzzeitpflege eben nicht nur um eine dringend erforderliche Entlastung pflegender Angehöriger im Rechtskreis SGB XI, also der Pflegeversicherung, sondern offensichtlich sind die Überschneidungsbereiche zum SGB V-System, denn: »Häufig ist nach einem Krankenhausaufenthalt die häusliche Pflege nicht möglich oder sie muss für eine bestimmte Zeit aufgrund einer akuten Krise ausgesetzt werden. In diesem Fall ist die Kurzzeitpflege , eine vollstationäre Pflege auf begrenzte Zeit, eine mögliche Betreuungsform. Gemäß den Auswertungen … traf das im Jahr 2017 auf 41 % der Nutzer von Kurzzeitpflege zu«, so dieser Beitrag aus dem Pflege-Report 2019. Und wir können uns alle vorstellen, wie der Bedarf an der Schnittstelle zwischen Krankenhausbehandlung und Weiterversorgung im (nicht-)häuslichen Umfeld in den kommenden Jahren angesichts der fortschreitenden Geriatrisierung der Krankenhäuser in Verbindung mit den verweildauerverkürzenden Effekten des Fallpauschalensystems ansteigen wird.

Aus einer von den derzeitigen Zuständen in den meisten Pflegeheimen ausgehenden praktischen Perspektive wird ein weiterer Einwand auf die schon im bestehenden System desaströse Personalsituation abstellen und schlichtweg eine Nicht-Umsetzbarkeit aufgrund fehlenden Personals konstatieren. Aber selbst wenn wir diesen wichtigen Einwand einmal außer Acht lassen, kann man auch bei dem um einen Rechtsanspruch bereinigten Vorstoß der Regierungsfraktionen zeigen, dass dort ein zentrales betriebswirtschaftliches Problem der Kurzzeitpflege zumindest erkannt wird und auch adressiert werden soll: das Problem, dass Kurzzeitpflege aus der betriebswirtschaftlichen Perspektive der Heime eine „Katastrophe“ ist, denn wenn man sie konsequent zu Ende denkt, muss man immer spürbar mehr Plätze vorhalten, als tatsächlich belegt werden können, denn der Entlastungsbedarf fällt situationsbedingt an und folgt keiner gleichmäßigen und planbaren Auslastungslogik. Das aber heißt ökonomisch ausgedrückt: Kurzzeitpflege hat ungleich höhere Stückkosten zur Folge, als beispielsweise eine möglichst lang laufende Dauerpflege in den stationären Einrichtungen. Anders ausgedrückt: Das sowieso schon vorhandene Finanzierungsrisiko für den Träger wird mindestens gedoppelt durch ein nicht-auflösbares Auslastungsdilemma, wenn man die Kurzzeitpflege angemessen entwickeln will.

Im Antrag wird das wohl gesehen, folgt man der Berichterstattung: »Dem Entwurf zufolge wollen die Regierungsfraktionen … eine „wirtschaftlich tragfähige Vergütung“ für die Kurzzeitpflege schaffen … Besonders bei der Vergütung berücksichtigt werden soll unter anderem, dass die Kurzzeitpflege mit einem hohen administrativen und organisatorischen Aufwand einhergeht. Darüber hinaus gebe es hohe Vorhaltekosten wegen saisonal stark schwankender Nachfrage. Auch müssten die heterogenen Pflege-, Betreuungs- und Behandlungserfordernisse sowie ein höherer behandlungspflegerischer Aufwand und Koordinierungsaufwand mit Ärzten, Therapeuten und Krankenhäusern sowie die Überleitung in die häusliche Versorgung in die Vergütung einfließen. Am Ende müsse eine „auskömmliche Vergütung“ sichergestellt werden, heißt es.«

Das ist eine absolut notwendige, im bestehenden defizitären System aber herkulische Aufgabe. Nur wenn man das in den Griff bekommen würde, steht ein Rechtsanspruch irgendwann einmal (wieder) auf der Tagesordnung (auch wenn man sich das heute schon wünschen würde).