Die Bundesregierung wirbt damit, dass sie durch zahlreiche gesetzgeberische und andere Maßnahmen den Kampf gegen den Pflegenotstand aufgenommen habe. Von besonderer Bedeutung gerade für die Krankenhäuser des Landes ist das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG) als ein bereits umgesetzter Teil des „Sofortprogramms Pflege“. Dazu berichtet das Bundesgesundheitsministerium unter Leitung von Jens Spahn (CDU) unter der Überschrift „Krankenhausindividuelle Vergütung von Pflegepersonalkosten“: »Künftig sollen Pflegepersonalkosten besser und unabhängig von Fallpauschalen vergütet werden. Die Krankenhausvergütung wird ab dem Jahr 2020 auf eine Kombination von Fallpauschalen und einer Pflegepersonalkostenvergütung umgestellt wird. Dieses Pflegebudget berücksichtigt die Aufwendungen für den krankenhausindividuellen Pflegepersonalbedarf und die krankenhausindividuellen Pflegepersonalkosten für die unmittelbare Patientenversorgung auf bettenführenden Stationen. Die DRG-Berechnungen werden um diese Pflegepersonalkosten bereinigt … Die Krankenhäuser und Kostenträger vor Ort vereinbaren die krankenhausindividuelle Pflegepersonalausstattung in der unmittelbaren Patientenversorgung auf bettenführenden Stationen auf der Grundlage der von den Krankenhäusern geplanten und nachgewiesenen Pflegepersonalausstattung und der entsprechenden Kosten (krankenhausindividuelle Kostenerstattung). Die zweckentsprechende Mittelverwendung ist nachzuweisen.«
Nun wird das erst – geplant – 2020 kommen. Und für die Übergangszeit hat man sich in Berlin auch was ausgedacht, um Anreize zu setzen (wieder) mehr Pflegepersonal in den Kliniken zu beschäftigen. Dafür will man die Krankenhäuser auf der Kostenseite entlasten – beispielsweise dann, wenn die Pflegepersonalkosten durch Tariferhöhungen steigen. Ein wichtiges und ehrenwertes Unterfangen. Unter der Überschrift „Tarifsteigerungen voll refinanziert statt Sparen zu Lasten der Pflege“ teilt uns das Ministerium mit:
»Bereits für das Jahr 2018 werden anstelle der bisherigen hälftigen Refinanzierung die linearen und strukturellen Tarifsteigerungen für die Pflegekräfte vollständig von den Kostenträgern refinanziert. In der Vergangenheit wurde der Teil der Tarifsteigerungen, der nicht ausgeglichen wurde, teilweise durch Einsparungen zu Lasten der Pflege kompensiert. Dies wollen wir beenden. Die zusätzlichen Finanzmittel sind für die Finanzierung von Tariferhöhungen beim Pflegepersonal einzusetzen. Das ist durch einen Nachweis zu belegen.«
Prima, gut so. Aber wie immer im Leben muss man dann genauer hinschauen und nicht selten wird man wieder ernüchtert feststellen, dass es auf das Kleingedruckte ankommt.
Denn nun kommen solche Meldungen auf den Tisch: Beschwerdebrief an Spahn: Krankenhäuser beklagen Wortbruch bei Lohnkosten, so das Handelsblatt: »Kliniken monieren, dass Kosten von Tarifsteigerungen in der Pflege nicht wie versprochen voll ausgeglichen werden. Es geht um hunderte Millionen Euro.« Was ist hier (angeblich) los?
„Die politische Zusage, alle Tarifsteigerungen für die Pflege würden zu 100 Prozent refinanziert, trifft nicht zu.“ Mit diesen Worten wird Georg Baum, der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft zitiert. Insgesamt würden den Krankenhäusern in den Jahren 2018 und 2019 rund 600 Millionen Euro vorenthalten, die sie zur Deckung der Zusatzkosten für höhere Pflegelöhne bräuchten. Darüber herrsche „Enttäuschung und Unverständnis“, schreibt Baum in einem Brief, der dem Handelsblatt vorliegt.
Wie kann das sein vor dem Hintergrund der Ausführungen des Bundesgesundheitsministeriums, dass die „linearen und strukturellen Tarifsteigerungen für die Pflegekräfte vollständig von den Kostenträgern refinanziert“ werden? Dazu muss man wissen: »In der Vergangenheit hatten sich Kliniken und Kassen die Kosten für Tariferhöhungen im Krankenpflegebereich geteilt. Die Krankenhäuser versuchten ihre Mehrausgaben für höhere Löhne nicht selten zu kompensieren, indem sie Pflegestellen zusammenstrichen. Diese Praxis wollte Spahn beenden – und ließ den vollen Kostenausgleich durch die Krankenkassen ins Gesetz schreiben.«
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft beklagt nun aber die bereits erwähnte Unterfinanzierung durch die Art und Weise der Umsetzung dieses Anliegens, denn die bringe mit sich, »dass das Tarifplus in der Pflege mit den Lohnsteigerungen der übrigen Mitarbeitergruppen einschließlich der Ärzte zusammengefasst werde. Der Gesamtzuwachs bei den Lohnkosten falle dabei geringer aus, als wenn die Pflegekräfte isoliert betrachtet würden.«
Zwei konkrete Punkte werden in dem Handelsblatt-Artikel aufgeführt, die zu diesem Effekt geführt haben (sollen):
➔ »Als Vergleichswert für die Erstattung von tariflichen Mehrkosten in der Pflege wurde in Spahns Gesetz die sogenannte Grundlohnrate festgelegt, die den Anstieg der beitragspflichtigen Einnahmen aller Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen ausdrückt. Da der gesamte Tarifzuwachs im Krankenhausbereich die für 2018 ermittelte Grundlohnrate von 2,97 Prozent nicht überschreite, würden die Kliniken keinen Ausgleich für die Pflegekostensteigerung erhalten. Dabei seien die tarifbedingten Kosten für die Pflege im vergangenen Jahr um 4,5 Prozent deutlich stärker angewachsen, erklärt die DKG.«
➔ Hinzu kommt: »Die Krankenhäuser beschweren sich auch, dass nur der für Bund und Kommunen geltende Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst in die Berechnungen einfließe. Nicht berücksichtigt würden Mehrkosten, die sich aus dem Anfang März vereinbarten Tarifabschluss im Länderbereich ergeben. Universitätskliniken und landesgebundene Krankenhausträger blieben so auf einem tarifbedingten Anstieg der Pflegekosten um etwa sieben Prozent sitzen, kritisiert die DKG.«
Jetzt wird es offensichtlich diffizil und kompliziert. Zuweilen hilft ja ein Blick ins Gesetz. Im Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Pflegepersonals (Pflegepersonal-Stärkungsgesetz – PpSG), Bundestags-Drucksache 19/4453 vom 24.09.2019 findet man die folgenden Hinweise: Der § 6 Abs. 3 Satz 5 des Krankenhausentgeltgesetzes (KHEntG) wird so gefasst (S. 25):
„Wird eine Erhöhungsrate für Tariferhöhungen nach § 9 Absatz 1 Nummer 7 vereinbart, so ist die von den Vertragsparteien vereinbarte Erlössumme um 40 Prozent dieser Erhöhungsrate zu erhöhen, erstmals für das Jahr 2018, wobei der Erhöhungsbetrag über das Budget des nächstmöglichen Pflegesatzzeitraums abzuwickeln ist; für diese Erhöhung der Erlössumme gilt keine Begrenzung durch den Veränderungswert nach § 9 Absatz 1b Satz 1.“
Und schon steigen wir hinab in die Untiefen der Gesetzesexegese. Was meinen die mit einer Vereinbarung der Erhöhungsrate für Tariferhöhungen nach § 9 Abs.1 Satz 7 KHEntG? Dort findet man diesen Auftrag an die Selbstverwaltung:
»(1) Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen und der Verband der Privaten Krankenversicherung gemeinsam vereinbaren mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft (Vertragsparteien auf Bundesebene) mit Wirkung für die Vertragsparteien nach § 11 insbesondere …
7. die Erhöhungsrate für Tariferhöhungen nach § 10 Absatz 5 Satz 4 sowie bis zum 31. März 2019 die Einzelheiten für einen Nachweis, dass die zusätzlichen Mittel für Tariferhöhungen von Pflegepersonal zweckentsprechend für dessen Finanzierung verwendet werden, und ein Verfahren, das gewährleistet, dass Krankenhäuser Mittel zurückzuzahlen haben, die sie nicht zweckentsprechend verwendet haben.«
Also weiter im Dickicht des Gesetzes – springen wir zum § 10 Abs. 5 Satz 4 des KHEntG:
»(5) Bei der Vereinbarung des Basisfallwerts sind erstmals für das Jahr 2018 nach Maßgabe der folgenden Sätze Tariferhöhungen für Löhne und Gehälter über den Veränderungswert nach Absatz 4 Satz 1 hinaus zu berücksichtigen; eine Erhöhung wirkt als Basiserhöhung auch für die Folgejahre. Bezogen auf die Personalkosten werden für den Pflegedienst 100 Prozent sowie für den übrigen nichtärztlichen Personalbereich und für den ärztlichen Personalbereich jeweils 50 Prozent des Unterschieds zwischen dem Veränderungswert und der Tarifrate berücksichtigt. Maßstab für die Ermittlung der Tarifrate ist für
1. den Bereich des Pflegepersonals,
2. den übrigen nichtärztlichen Personalbereich und
3. den ärztlichen Personalbereich
jeweils diejenige tarifvertragliche Vereinbarung, die in dem jeweiligen Bereich für die meisten Beschäftigten maßgeblich ist; maßgeblich dabei sind für den Bereich nach Nummer 1 die durchschnittlichen Auswirkungen der tarifvertraglich vereinbarten linearen und strukturellen Steigerungen sowie Einmalzahlungen.«
Das hört sich doch genau nach dem an, was die Krankenhäuser erwartet haben – also eine vollständige Refinanzierung der Tariferhöhungen für das Pflegepersonal, sogar unter Berücksichtigung struktureller Veränderungen im Tarifwerk. Oder?
Auch als Nicht-Jurist sollte man gelernt haben, dass bei Gesetzen immer der Blick in die Begründungen zu den einzelnen Veränderungen im jeweiligen Gesetzesentwurf notwendig ist. Die findet man in dem bereits zitierten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Pflegepersonals (Pflegepersonal-Stärkungsgesetz – PpSG), Bundestags-Drucksache 19/4453 vom 24.09.2019, konkret zu dem hier interessierenden Sachverhalt auf den Seiten 86-87. Schauen wir uns das einmal genauer an.
Es »wird eine vollständige Refinanzierung von erhöhten Personalkosten eingeführt, die durch Tarifsteigerungen für das Pflegepersonal in Krankenhäusern entstehen. Die Regelung ersetzt die bisherige hälftige Refinanzierung von linearen Tarifsteigerungen und tarifvertraglich vereinbarten Einmalzahlungen für das Pflegepersonal. Die Regelung gewährleistet, dass Krankenhäuser das vorhandene Pflegepersonal auch bei dynamischen Tarifsteigerungen weiterhin beschäftigen können. Damit wird dem besonderen Handlungsbedarf in der Pflege Rechnung getragen.« Und weiter heißt es dann: »Bei der bisherigen, nach ärztlichem und nichtärztlichem Personal differenzierenden Bestimmung der maßgeblichen Tarifverträge, die Grundlage für die Ermittlung der Tarifrate sind, wurde das Pflegepersonal mit den übrigen nichtärztlichen Beschäftigten zusammengefasst. Da die Tarifrefinanzierung für das Pflegepersonal auf 100 Prozent angehoben wird, wird zukünftig zwischen dem maßgeblichen Tarifvertrag für das Pflegepersonal und für die übrigen nichtärztlichen Beschäftigten unterschieden.«
Genau, das wollen ja auch die Kliniken gerne so haben. Wo also soll dann das Problem sein? Die DKG beklagt ja, dass dieses Versprechen nicht eingelöst wurde.
Die Auflösung folgt einige Zeilen später, denn da liest man auf S. 87 des Entwurfs die folgende Formulierung, die dafür sorgt, dass die „ausbrechende“ Pflege wieder eingefangen wird: »Trotz der aus finanzierungstechnischen Gründen erforderlichen differenzierteren Unterscheidung der Personalbereiche ist auch für die Zukunft davon auszugehen, dass für das Pflegepersonal und für die übrigen nichtärztlichen Beschäftigten derselbe Tarifvertrag maßgeblich ist.«
Das muss man verdauen. Eigentlich sollen die Tarifsteigerungen für das Pflegepersonal gesondert betrachtet werden, was ja auch notwendig ist, um eine vollständige Refinanzierung gewährleisten zu können, fügt dann aber wieder eine Annahme ein, dass man eigentlich so weiter machen kann wie bisher, wo man die Tarifentwicklung aller Berufe zusammengefasst hat – nach dem Motto, wird schon passen.
Und der folgende Passus verdeutlicht dann die praktische Umsetzung der Erstattung, die eben nicht so abläuft, dass man die tatsächlich anfallenden personenbezogenen Erhöhungen durch Tarifsteigerungen addiert und den betroffenen Kliniken auszahlt, sondern man wählt dieses Pi-mal-Daumen-Verfahren innerhalb der gegebenen Mechanik der Krankenhausfinanzierung, das dann am Ende zu dem nun von der DDKG beklagten „Verlust“ von angeblich 600 Mio. Euro führt:
»Durch die vollständige Refinanzierung der Tarifsteigerungen für das Pflegepersonal erhöht sich der Anteil der Erhöhungsrate, um den der Landesbasisfallwert anzuheben ist, von einem Drittel auf 40 Prozent. Der Anteil der Erhöhungsrate von 40 Prozent entspricht bezogen auf den Landesbasisfallwert, der sowohl Personal- als auch Sachkosten umfasst, einer vollständigen Tarifrefinanzierung beim Pflegepersonal und einer – bereits bislang gel- tenden – hälftigen Tarifrefinanzierung für den übrigen nichtärztlichen und für den ärztlichen Personalbereich. Dabei sind die unterschiedlichen Anteile der drei Personalbereiche an den Gesamtpersonalkosten berücksichtigt.«
An diesem Fallbeispiel kann man erneut nachvollziehen, warum die Juristen, wenn sie ihr Handwerk verstehen, die Macht haben. Allein um die Winkelzüge nachzuvollziehen, braucht man so viel Zeit, dass der Patient zwischenzeitlich möglicherweise verstorben ist. Nun stand das wie gesagt alles schon im Gesetzentwurf und die DKG war doch auch am Gesetzgebungsverfahren beteiligt wie andere Akteure auch und die hätten doch … Hätte, hätte, Fahrradkette.
Was bleibt zum jetzigen Zeitpunkt? Neben dem Warten auf eine Stellungnahme aus dem Bundesgesundheitsministerium kann man dieses nur an diese Aussage im Allgemeinen Teil der Begründung des Gesetzentwurfs erinnern. Dort findet man auf der Seite 37 unter der Überschrift „Vollständige Finanzierung von Tarifsteigerungen für das Pflegepersonal“ diese eindeutige Zielsetzung:
»Bereits für das Jahr 2018 werden anstelle der bisherigen hälftigen Refinanzierung die linearen und strukturellen Tarifsteigerungen für die Pflegekräfte vollständig von den Kostenträgern refinanziert. In der Vergangenheit wurde der Teil der Tarifsteigerungen, der oberhalb der maßgeblichen Obergrenze lag, soweit er nicht ausgeglichen wurde, teilweise durch Einsparungen zu Lasten der Pflege kompensiert. Die zusätzlichen Finanzmittel sind daher für Pflegepersonal einzusetzen. Dies ist durch einen Nachweis zu belegen. Nicht zweckentsprechend verwendete Mittel sind zurückzuzahlen.«
Punkt. Also, wieder zurück auf Start und sicherstellen, dass diese Zielbestimmung auch tatsächlich realisiert wird bzw. werden kann. Die ist nicht nur generell für die Schatullen der Kliniken wichtig, sondern vor allem, wenn es einem darin geht, die tarifliche Vergütung der Pflegekräfte zu stärken, damit also nicht die Krankenhäuser, die sich an die Tarifbindung halten, „bestraft“ werden durch eine eben nur anteilige Refinanzierung zusätzlicher Personalkosten in der Pflege. Jens Spahn wird das „Missverständnis“ aufgrund der gesetzestechnischen Umsetzung bestimmt ganz bald heilen.