Über die Leiharbeit – von den eher positiv gestimmten Betrachtern und der Branche selbst als Zeitarbeit oder noch neutraler daherkommend als Personaldienstleistung bezeichnet – wurde in den vergangenen Jahren mehr als kontrovers diskutiert. Und sie war immer wieder politischen Auseinandersetzungen und gesetzgeberischen „Reformen“ unterworfen, auch in der vergangenen Legislaturperiode hat es Änderungen am Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) gegeben (vgl. dazu den kritischen Beitrag Ein „kleingehäckseltes“ koalitionsvertragsinduziertes Abarbeitungsgesetz zu Leiharbeit und Werkverträgen vom 21. Oktober 2016).
Und auch wenn die Branchenvertreter und zahlreiche Arbeitgeberfunktionäre immer wieder den Untergang der Leiharbeit aufgrund der Re-Regulierung dieses ganz eigenen Modells des Verkaufs und Kaufs von Arbeitskräften vorhergesagt haben – die Daten zeigen das nicht.
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) veröffentlicht regelmäßig einen Bericht über die aktuelle Situation der Zeitarbeit:
➔ Bundesagentur für Arbeit (2019): Aktuelle Entwicklungen in der Zeitarbeit, Nürnberg, Januar 2019
Der aktuellsten Ausgabe können wir beispielsweise diese Befunde entnehmen: »Die Anzahl der Leiharbeitnehmer ist im langfristigen Vergleich in der Tendenz mit hoher Dynamik gewachsen. Zuletzt gab es Rückgänge, wohl infolge der aktuellen gesetzlichen Änderungen. Im gleitenden Jahresdurchschnitt Juli 2017 bis Juni 2018 waren gut eine Million Leiharbeitnehmer in Deutschland sozialversicherungspflichtig oder ausschließlich geringfügig beschäftigt. Der Anteil der Leiharbeitnehmer an der Gesamtbeschäftigung liegt bei knapp drei Prozent. Leiharbeitnehmer arbeiten häufiger in Tätigkeiten, die mit einem niedrigen Anforderungsniveau verbunden sind: Mehr als jeder Zweite übt eine Helfertätigkeit aus (alle Beschäftigte: jeder Fünfte). Die Mehrzahl der Zeitarbeitnehmer ist männlich und jünger. Personen ohne Berufsabschluss sind anteilig deutlich häufiger vertreten als bei den Beschäftigten insgesamt. Auch der Ausländeranteil ist in der Zeitarbeit höher. Die hohe Dynamik der gesamten Zeitarbeitsbranche spiegelt sich auch in einem überdurchschnittlich hohen Risiko, aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung heraus arbeitslos zu werden. Zuletzt hat das Entlassrisiko – anders als über alle Branchen – etwas zugenommen.« Die gemessen an ihrem Gesamtanteil an der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung weit überdurchschnittliche Bedeutung für Bewegungen auf dem Arbeitsmarkt kann man diesen Zahlen entnehmen: »14 Prozent der Zugänge in Arbeitslosigkeit aus Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt und 18 Prozent der Beschäftigungsaufnahmen aus Arbeitslosigkeit erfolgen aus bzw. in die Zeitarbeitsbranche.« Und: »Die Nachhaltigkeit von Beschäftigungsaufnahmen in der Zeitarbeit ist niedriger als im Durchschnitt über alle Branchen.«
Und noch bedeutsamer ist die Leiharbeit für das Vermittlungsgeschehen in den Arbeitsagenturen und Jobcentern: »Obwohl weniger als drei Prozent der Beschäftigten in der Leiharbeit tätig sind, entfielen im Jahr 2018 rund 32 Prozent der bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten offenen Stellen auf die Leiharbeitsbranche. Die regionalen Unterschiede sind dabei erheblich. In manchen Gegenden ist jedes zweite Stellenangebot ein Leiharbeitsverhältnis.« Das kann man dem Beitrag Bundesagentur für Arbeit: Jede dritte offene Stelle in der Leiharbeit von Lena Becher entnehmen. Und man muss sich angesichts eines Gesamtanteils der Leiharbeit an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von weniger als 3 Prozent die Bedeutung für die Arbeitsvermittlung von Agenturen und Jobcentern deutlich machen: 2018 wurden 30 Prozent der Personen, denen BA bzw. Jobcenter einen neuen Job besorgte, an Leiharbeitsfirmen vermittelt.
Der frühere BA-Chef Frank-Jürgen Weise hatte 2013 von „Fehlentwicklungen“ auf diesem Gebiet gesprochen, die es zu korrigieren gelte. Doch viel geändert hat sich nicht. Über die Jahre hinweg ist die Quote der Vermittlungen in die Leiharbeit mit jeweils rund 30 Prozent überproportional hoch geblieben.
Leiharbeit wird von Interessenverbänden wie dem iGZ (Interessenverband deutscher Zeitarbeitsunternehmen) immer wieder als niedrigschwelliger Einstieg in den Arbeitsmarkt gelobt. Leiharbeit biete nach Auffassung der iGZ arbeitsmarktfernen Personen wie zum Beispiel Flüchtlingen und Langzeitarbeitslosen eine Chance, sich auf dem Arbeitsmarkt zu etablieren. Auf der anderen Seite belegen die kurzen und immer wiederkehrenden Beschäftigungsdauern in der Leiharbeit, dass dieser Einstieg in Beschäftigung nicht zwingend zu einer nachhaltigen und beständigen Integration in Arbeit führt.
Zum Thema Flüchtlinge ein paar ergänzende Zahlen: »Obwohl immer mehr Flüchtlinge in Deutschland einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen, liegen ihre Verdienste weit unter denen aller Beschäftigten in Deutschland. Ein Grund dafür ist der hohe Anteil von beschäftigten Flüchtlingen in Leiharbeit und Helferjobs«, so diese Meldung: Flüchtlinge am Arbeitsmarkt: Zwei Drittel arbeiten zum Niedriglohn. Damit hat die Leiharbeit – unabhängig von der Bewertung der Jobs – durchaus eine hier hoch relevante Integrationsfunktion: »Mehr als jeder zweite Flüchtling in einem Vollzeitjob arbeitet lediglich auf Helferniveau. Aufgrund von fehlenden oder nicht anerkannten Sprach- und Berufskenntnissen bieten Helferjobs für viele Flüchtlinge die schnellste Einstiegsmöglichkeit in den Arbeitsmarkt. Ähnlich verhält es sich bei der Leiharbeit … Zum Stichtag am 31.12.2017 arbeitete etwa jeder fünfte vollzeitbeschäftigte Flüchtling in der Leiharbeit.«
Und das, was die Bundesagentur für Arbeit in ihrem Bericht eine „niedrige Nachhaltigkeit“ der Leiharbeit nennt, kann man konkretisieren: »Im ersten Halbjahr 2018 endeten knapp 45 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse in Leiharbeit innerhalb von weniger als drei Monaten. Jeder vierte vormalige Leiharbeiter ist außerdem bereits drei Monate nach Ende der Leiharbeitsbeschäftigung erneut in der Zeitarbeit tätig. So bietet Leiharbeit nur Wenigen eine absichernde und langfristige berufliche Perspektive.« So Lena Becher in ihrem Artikel Leiharbeit: Beschäftigung mit Drehtüreffekt?.
In der Berichterstattung wird immer wieder verständlicherweise auf kritische Aspekte dieser besonderen Beschäftigungsform berichtet, beispielsweise in diesem Artikel vom 29. März 2019: „In der Leiharbeit durch Helfertätigkeiten dequalifiziert“. Mit Blick auf die von interessierter Seite immer wieder hervorgehobene Einstiegs- und Integrationsfunktion der Leiharbeit gerade für „Problemgruppen“ des Arbeitsmarktes wird von Matthias Kamann auf eine Studie aus dem Jahr 2011 hingewiesen, nach der Personen mit längerer Arbeitslosigkeit in der Leiharbeit mit deren wechselnden Tätigkeitsfeldern besonders große Probleme haben, überhaupt wieder in die Strukturen beruflicher Tätigkeit hineinzufinden. »Nur unter ganz spezifischen Bedingungen ist die Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen mit schweren Vermittlungshemmnissen in Zeitarbeit als sinnvoller Beitrag zu ihrer Integration zu sehen«, so einer der zentralen Befunde aus der Studie Arbeitsmarktintegration durch Zeitarbeit. Die Rolle der Zeitarbeit bei der Integration von schwer vermittelbaren Langzeitarbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt von Ute Ludwig. Und Kamann weist in seinem Artikel auch noch auf eine andere Gruppe, gleichsam am „oberen“ Ende des Arbeitslosigkeitsspektrums, hin: Von denen, die zuvor Arbeitslosengeld I erhielten, also kürzer arbeitslos waren, wurden 2018 rund 28 Prozent zu Zeitarbeitsfirmen geschickt. Allerdings kann sich bei diesen Menschen die Frage stellen, ob sie bei Zeitarbeitsfirmen ihr Qualifikationsniveau halten können. Denn nach der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der grünen Bundestagsabgeordneten Beate Müller-Gemmeke (vgl. hierzu Leiharbeit – Struktur, Entlohnung und Vermittlungstätigkeit der Bundesagentur für Arbeit, Bundestags-Drucksache 19/8686 vom 22.03.2019) arbeiten 28 Prozent der Arbeitnehmer in jenen Unternehmen unter dem Niveau ihrer anerkannten Berufsqualifikation. Die Abgeordnete Müller-Gemmeke sieht bei diesen Menschen die Gefahr des Qualifikationsverlustes. „Viel zu viele Menschen“, so die Grüne, würden „in der Leiharbeit durch Helfertätigkeit dequalifiziert“.
Über die aktuelle Entwicklung der Zahl der Leiharbeiter gibt es durchaus unterschiedliche und (nur scheinbar) widersprüchliche Berichte. Beispiel Ostdeutschland: Auf der einen Seite muss man solche Meldungen zur Kenntnis nehmen: Mehr Leiharbeiter in Thüringen trotz Fachkräftemangel: »Der Arbeitsmarkt in Thüringen sieht rein zahlenmäßig gut aus. Gleichzeitig aber steigt die Zahl der Leiharbeiter: Sie werden von den Unternehmen je nach Bedarf eingestellt und wieder entlassen … 2017 (stieg) die Zahl der in Thüringen aktiven so genannten Zeitarbeitsfirmen auf über 1.200. Das waren gut einhundert mehr als vier Jahre zuvor. Als Leiharbeiter waren rund 35.000 Männer und Frauen beschäftigt und damit gut 5.000 mehr als 2013. Besonders gefragt sind Leiharbeiter in der Automobilbranche sowie dem Verkehr- und Logistikbereich … Der monatliche Durchschnittsverdienst eines vollzeitbeschäftigten Leiharbeiters in Thüringen beträgt etwa 1.600 Euro brutto. Regulär beschäftigte Vollzeitarbeitnehmer können auf 2.500 Euro brutto kommen.«
Auf der anderen Seite dann diese Nachricht: Leiharbeit geht in Sachsen deutlich zurück: »Binnen eines Jahres ist in Sachsen jeder siebente Job in der Zeitarbeit weggefallen – weil viele Leiharbeiter eine andere reguläre Stelle gefunden haben … Sächsische Betriebe stellen zunehmend lieber direkt selbst ein, als sich Mitarbeiter auszuleihen. Im Januar 2019 waren noch rund 41.700 Menschen im Freistaat als Zeitarbeiter beschäftigt – 6900 weniger als ein Jahr zuvor. Binnen eines Jahres ist also rund jeder siebente Job in der Leiharbeit abgebaut worden. So wenige Zeitarbeiter wie aktuell gab es im Freistaat seit 2007 nicht mehr … Für die Verleihfirmen ist es … aufgrund des Fachkräftemangels selbst schwieriger geworden, Mitarbeiter zu finden.« Teilweise muss man natürlich auch solche regional bedeutsamen Entwicklungen in Rechnung stellen bei der Interpretation der Zahlen: Porsche will sich in Leipzig von Hunderten Leiharbeitern trennen. Die Leiharbeiter stellen rund ein Drittel der über 6.300 Beschäftigten am Standort Leipzig. Bislang. »Gleich mehrere Hundert von ihnen dürfen nach den Betriebsferien im August nicht zurück ins Werk kommen. Man will sich von ihnen trennen. Nach Angaben des Unternehmensprechers für das Werk Leipzig, Christian Weiss, soll eine Nachtschicht in der Montage gestrichen werden … Die Stammbeschäftigten seien zudem nicht vom Personalabbau betroffen. Diese haben eine Beschäftigungssicherheit im Werk Leipzig bis 2021.«
Im Juni 2018 gab gut 1,02 Millionen Leiharbeitskräfte in 52.300 Verleihbetrieben. Weil ein Verleiher mehrere Betriebe haben kann, ist die Zahl der Betriebe höher als die der Verleiher: Insgesamt gab es im Juni vergangenen Jahres 10.232 Arbeitgeber mit einer unbefristeten Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung und 10.584 mit einer befristeten Erlaubnis. 888 Verleiher hatten ihren Sitz im Ausland.
Und wie sieht die Prüfrealität aus, für die die Bundesagentur für Arbeit zuständig ist?
»Demgegenüber standen fünf Prüfteams der BA mit insgesamt 85 Planstellen. Jedes Prüfteam ist für eine bestimmte Region und die dort ansässigen Verleiher zuständig. Aus der Regierungsantwort geht hervor, dass es 5579 Betriebsprüfungen gab; 4867 vor Ort und 712 allein anhand der Unterlagen. Das bedeutet, dass nur etwa jeder zehnte Leiharbeitsbetrieb von einem der BA-Teams überprüft werden konnte; ein Prüfer war rechnerisch für etwa 600 Betriebe und 12 000 Leiharbeitskräfte zuständig. „Eine Leiharbeitsfirma muss nur alle zehn Jahre mit einer Kontrolle durch die BA rechnen“, sagt die Arbeitsmarktexpertin Müller-Gemmeke. „Wie die Einhaltung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes so effektiv kontrolliert werden soll, ist mir schleierhaft. Das ist viel zu wenig Personal.“« Und das wird jetzt auch nicht überraschen: »Meist werden die Betriebsprüfungen zwei bis vier Wochen vorher angekündigt, auch damit das betroffene Unternehmen die entsprechenden Unterlagen zusammenstellen kann … Nicht vorgesehen sind in der Regel unangekündigte Besuche.« Und noch besser (für die Seite der Leiharbeitsfirmen): „Ist der Verleiher nicht mit einer örtlichen Betriebsprüfung einverstanden, kann er aufgefordert werden, die zu prüfenden Geschäftsunterlagen der Erlaubnisbehörde zu übersenden“, heißt es in der Regierungsantwort.
„Es ist schon irritierend, wie die Kontrollen der BA vorgenommen werden. Theoretisch und auch ganz praktisch kann ein Verleiher alles schön vorbereiten, und dann kann die BA gerne kommen“, so die Bewertung der grünen Bundestagsabgeordneten Beate Müller-Gemmeke. Hinzu kommt: Betriebe mit Sitz im Ausland werden nie vor Ort kontrolliert, sondern immer nur anhand eingesandter Unterlagen. Dieser „rein postalische Umgang“ mit ausländischen Leiharbeitsbetrieben sei „irritierend“, meint (sicher nicht nur) die Abgeordnete.
Und die dargestellten desaströsen Zahlenverhältnisse muss man auch und gerade vor dem Hintergrund sehen, dass 2018 Bußgelder in Höhe von gut 2,6 Millionen Euro gegen Verleihbetreibe verhängt wurden – »dreimal mehr als drei Jahre zuvor, als es nur drei Prüfteams gab. Die Zahl der Prüfer hat also Einfluss auf die Zahl der aufgedeckten Verstöße. Zusätzlich wurde 2018 bei 109 Betrieben die Verleiherlaubnis widerrufen.«
Und im Lichte der bisherigen Ausführungen jenseits der Miniatur-Prüfmöglichkeiten angesichts der Personalausstattung könnte man durchaus auf die Idee kommen, die Frage aufzuwerfen, ob das wirklich eine so sinnvolle Sache ist, dass die Bundesagentur für Arbeit (BA) für die Kontrollen der Leiharbeitsfirmen zuständig ist. Angesichts der enormen Bedeutung der Leiharbeit für die Arbeitsagenturen und Jobcenter als Lieferant offener Stellen wie auch als Kanal für die Platzierung der eigenen Kunden könnte man schon auf den naheliegenden Gedanken kommen, dass man angesichts des offensichtlichen gemeinsamen Geschäftsmodells die Prüfung abtrennt und von einer nicht dermaßen betroffenen Institution durchführen lassen müsste.
In diese Richtung muss man dann wohl die Schlussfolgerung der grünen Bundestagsabgeordneten Müller-Gemmeke verstehen, die dafür plädiert, »die die Zuständigkeiten der Finanzkontrolle Schwarzarbeit auszuweiten. Es läge „auf der Hand“, dass deren Kontrolleure sich auch die sonstigen Bedingungen in den Entleihbetrieben anschauten – und nicht nur die Einhaltung der Lohnuntergrenze.«
Insgesamt zeigt sich auch an diesem Beispiel wieder einmal erneut das schmerzhafte Fehlen einer einheitlichen und gut aufgestellten Arbeitsinspektion in Deutschland und die Probleme, die wir mit den wahrhaft zersplitterten Teil-Kontrollsystemen, die dann auch noch völlig unterdimensioniert sind, haben.