Die Entlastung der Pflegebedürftigen beim Eigenanteil für Pflegekosten durch eine Neuordnung der Pflegeversicherung kommt erst einmal in die Warteschleife

Mittlerweile müsste es überall angekommen sein durch viele Berichte in den Medien, ganz zu schweigen bei eigener Betroffenheit: Viele Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen haben ein Problem mit den hohen Eigenanteilen, wenn sie in einem Pflegeheim untergebracht sind. Dahinter verbirgt sich das grundlegende Problem, dass die Pflegeversicherung als Teilleistungsversicherung nur einen Teil der Pflegekosten abdecken kann und die Betroffenen einen immer größer gewordenen Eigenanteil zu schultern haben. Der wird für Januar 2019 mit durchschnittlich 1.830 Euro pro Monat in der stationären Pflege ausgewiesen – bei einer erheblichen Streuung bereits auf der Ebene der Bundesländer (die von 1.218 Euro pro Monat in Sachsen-Anhalt bis 2.252 Euro pro Monat in Nordrhein-Westfalen reicht) und einer noch ausgeprägteren Streuung zwischen den Heimen. Das sind Beträge, bei denen eine wachsende Zahl an Pflegebedürftigen in die Knie gehen muss. Dazu ausführlicher der Beitrag Die zunehmende Privatisierung des Pflegerisikos am Beispiel steigender Eigenanteile der Pflegebedürftigen und schrumpfender Teilleistungen aus der Pflegeversicherung vom 2. Februar 2019.

Doch im März dieses Jahres konnte in dem Beitrag Das bestehende System der Finanzierung der stationären Altenpflege wird immer mehr in Frage gestellt. Aktuelle Vorschläge für eine Weiterentwicklung der Pflegeversicherung verkündet werden, dass es Hoffnung gibt für die gebeutelten Eigenanteilszahler, denn aus den Reihen der Bundesländer wurde ein Vorstoß für eine Neuordnung der Pflegeversicherung bekannt, mit deren Umsetzung ein Teil des Eigenanteils eingefroren werden soll.

Konkret geht es um einen Vorstoß von vier Bundesländern (es handelt sich dabei um Schleswig-Holstein, Berlin, Hamburg und Bremen) im Bundesrat. Danach sollen die Kosten der Behandlungspflege von Heimbewohnern künftig von den Krankenkassen finanziert, eine Obergrenze für den Eigenanteil von Pflegebedürftigen eingezogen und ein Bundeszuschuss aus Steuermitteln als weitere Finanzierungssäule etabliert werden.

Nun wird der eine oder andere vielleicht anmerken – das wurde doch schon in den Bundesrat eingebracht und behandelt. Genau, am 15. März 2019. Dazu der Bundesrat selbst: Vier Länder fordern Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. Wie immer muss man genau hinschauen: »Kern der Initiative ist die Deckelung des Eigenanteils von Pflegebedürftigen und damit eine Umkehr vom bisherigen Leistungsprinzip, wonach die Leistungen der Versicherungen begrenzt sind. Damit würde die Pflegeversicherung laut Antragsteller zu einer echten Teilkaskoversicherung werden. Diese Kurskorrektur soll verhindern, dass der Eigenanteil angesichts absehbarer und notwendiger Mehrkosten für Pflegepersonal und Ausbildung weiter steigt. Die Obergrenze mache den Eigenanteil für die Versicherten stattdessen verlässlich und berechenbar, heißt es im Entschließungsantrag. Als Höchstbetrag für den Eigenanteil schlagen die Initiatoren den bundesdurchschnittlichen Eigenanteil im Pflegeheim vor. Er liegt derzeit bei 618 Euro.«

Moment, war nicht am Anfang dieses Beitrags von 1.830 Euro pro Monat Eigenanteil im Durchschnitt über alle Bundesländer die Rede? Doch und die Differenz ist für die Bewertung und Einordnung des ganzen Unterfangens keineswegs trivial: Denn die von den antragstellenden Ländern geforderte Weiterentwicklung der Pflegeversicherung im Sinne eines Umbaus hin zu einer „echten“ Teilkaskoversicherung bezieht sich nicht auf den Eigenanteil insgesamt, der für die Betroffenen relevant ist, sondern „nur“ auf den Teil davon, der die seitens der Pflegeversicherung nicht gedeckten Pflegekosten im engeren Sinne betrifft. Der Differenzbetrag zwischen den 1.830 Euro Eigenanteil im Schnitt insgesamt und dem Eigenanteil für die Pflegekosten im engeren Sinne ist expressis verbis nicht Gegenstand der Deckelungsüberlegungen der Bundesländer. Das muss deutlich gesagt werden, damit sich die Betroffenen keinen Illusionen hingeben, denn die gehen bewusst oder unbewusst verständlicherweise immer von dem gesamten Eigenanteil aus, den sie zu berappen haben.

Wie gesagt, der Antrag liegt schon im Bundesrat und wurde dort in einer ersten Runde intern behandelt – mit dem Ergebnis einer parteiübergreifenden Aufforderung der zuständigen Ausschüsse im Bundesrat, die Bundesregierung solle gemeinsam mit den Ländern die Finanzierungssystematik der Pflegeversicherung ändern. Der Gesundheitsausschuss und der Ausschuss für Arbeit, Integration und Sozialpolitik des Bundesrats hatten eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe gefordert, um exponentiell steigenden Kosten in der stationären Altenpflege etwas entgegenzusetzen. Ausgegangen war die Initiative von Hamburg. Unterstützt wird sie von Berlin, Bremen und von der schwarz-grün-gelben Koalition in Schleswig-Holstein. Auch Baden-Württemberg hat Unterstützung signalisiert. Das nun sollte heute im Bundesrat verabschiedet werden. Danach sollte der Beschluss dann weitergereicht werden an den Bundestag, der sich mit diesem Anliegen auseinandersetzen muss. Selbst wenn der auch dem Vorstoß folgen sollte, wird da noch eine gehörige Wegstrecke zu absolvieren sein. Ziemlich viele „sollte“.

Aber nun erfahren wir: Der Bundestag wird erst einmal seine Ruhe haben und muss sich nicht damit auseinandersetzen. Denn die Länderkammer berichtet höchstselbst und mehr als trocken: Initiative zur Neuordnung der Pflegeversicherung abgesetzt: »Der gemeinsame Entschließungsantrag von Schleswig-Holstein, Berlin, Hamburg und Bremen für eine grundlegende Neuordnung der Pflegeversicherung wurde am 12. April 2019 kurzfristig von der Tagesordnung abgesetzt.« Gründe dafür? Fehlanzeige. Nur der Hinweis auf die Wiedervorlage-Option: »Der Entschließungsantrag kann auf Antrag eines Landes erneut auf die Plenartagesordnung einer der nächsten Bundesratssitzung gesetzt werden.«

Dass der Antrag nun gar nicht zur Abstimmung gestellt wurde im Plenum des Bundesrats, darauf hatte bereits ein Tag vorher dieser Artikel hingewiesen, der uns auch mehr zu den (möglichen) Gründen liefert: Entlastung in der Pflege droht zu kippen: »Am Freitag berät der Bundesrat über einen Vorschlag zur Entlastung der Pflegebedürftigen in Altenheimen. Die Initiatoren befürchten, dass die Unions-geführten Länder das bereits vom Gesundheitsausschuss der Länderkammer empfohlene Konzept durchfallen lassen.«

Dabei wird doch auch von vielen anderen Handlungsbedarf angemeldet, aber wie so oft mit einem Aber: „Höhere Kosten für faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen in der Pflege dürfen nicht allein von den Pflegebedürftigen geschultert werden“, so beispielsweise der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus (CDU). Und dann gleich das Aber: „Wir wollen keine populistischen Schnellschüsse, bei denen nachhaltige Konzepte zur Weiterentwicklung der Pflege oder ein konsequent verfolgter Gerechtigkeitsaspekt fehlen“, so Westerfellhaus. Es dürfe nicht allein darum gehen, das finanzielle Risiko der stationären Pflege vom Einzelnen in die Sozialversicherung zu verlagern.

Tatsächlich fehlt bislang in der Debatte ein rundes Finanzierungskonzept, so die „Ärzte Zeitung“. Und der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat die Forderung, den Eigenanteil an den Pflegekosten der Heime einzufrieren, erst kürzlich auf dem Deutschen Pflegetag im März 2019 zurückgewiesen.

»Pikant: Für die steigenden Eigenanteile an den Pflegekosten in Altenheimen sind die Pflegereformen der vergangenen beiden großen Koalitionen mitursächlich. Rund 37 Prozent der gut 900.000 Bewohner stationärer Altenpflegeeinrichtungen können sie nicht mehr aus eigener Kraft stemmen und sind dafür auf Sozialhilfe angewiesen.«

Kaum hatte der – übrigens seit langem – vorgetragene Gedanke einer Entlastung der Pflegebedürftigen bei den nicht gedeckten Pflegekosten im engeren Sinne durch eine Begrenzung der Eigenanteile seinen Weg in den Bundesrat (und damit eben möglicherweise bald auch in den Bundestag) gefunden, setzen diejenigen, die kein Interesse an dieser Entwicklung haben, ihre Bataillone in Marsch, um gegen das Ansinnen zu argumentieren. Dazu nur ein Beispiel von „interessierter Seite“ – hier der Privaten Krankenversicherung (PKV), die auch deshalb besonders an einem Scheitern des Anlaufs interessiert ist, weil ein Element des Finanzierungsvorschlags der Zugriff auf die üppigen Reserven der privaten Pflegekassen ist. Das Wissenschaftliche Institut der PKV hat diese Gedanken zu Papier gebracht:

➔ Christine Arentz und Frank Wild (2019): Pflegefinanzierung im gesamtgesellschaftlichen Kontext denken. WIP-Kurzanalyse, April 2019

Sie beginnen mit einem Blick auf die aktuelle Debattenlage: »Momentan sind insbesondere zwei Aspekte in der Diskussion, die alleine und mehr noch in ihrer Kombination zu starkem Kostendruck in der Pflegeversicherung führen werden. Zum einen wird gefordert, die stationär Pflegebedürftigen zu entlasten, indem der Eigenanteil für die Pflegekosten gedeckelt wird („Sockel-Spitze-Tausch“). Zum anderen werden höhere Löhne für die Pflegekräfte gefordert, um den Beruf attraktiver zu machen. Dieses Ziel ist sinnvoll, um mehr Menschen für den Beruf zu gewinnen bzw. dort zu halten. Allerdings sollte diskutiert werden, auf welchem Wege dieses Ziel finanziert werden soll.«

Da kann man nur zustimmen. Und wie?

Also die Autoren sagen, wie nicht. Eine Finanzierung über höhere Beiträge zur Pflegeversicherung wird von ihnen ausgeschlossen, da die Sozialversicherungsbeiträge sowieso schon zu hoch seien und wenn man die „politische Zielmarke von 40 %“ einhalten wolle, dann kann man nicht mehr in dem notwendigen Maße an der Beitragsschraube drehen. Sie sehen allerhöchstens einen „Spielraum von 0,35 Prozentpunkten oder 5,11 Mrd. Euro“. Und nochmal – es sollen ja nicht nur die Eigenanteile begrenzt werden, sondern auch die Löhne der Altenpflegekräfte sollen unbedingt angehoben werden. Beides zusammen ließe sich mit zusätzlichen Beitragsmitteln in dem vorgegebenen engeren Korridor nicht gegenfinanzieren.

»Eine Finanzierung der Lohnerhöhungen durch die ebenfalls politisch geforderten Steuerzuschüsse für die Pflegeversicherung stellt ebenfalls keine Lösung dar.« Natürlich würde man jetzt an dieser Stelle gerne wissen, warum das keine Lösung darstellt. »Erhöht man die Steuern, ergeben sich negative gesamtwirtschaftliche Effekte.« Diese Behauptung, die wie die Verkündigung eines Naturgesetzes daherkommt, muss reichen als „Erklärung“ und so lässt man das einfach mal im Raum hängen wie eine schlechte Duftnote. Und wenn man die Steuern nach dieser „Logik“ nicht erhöhen dar, dann würde bei einer Steuerfinanzierung nur der Weg bleiben, woanders zu kürzen, um die Mittel aufzubringen. Daraus ergeben sich c.p. geringere finanzielle Spielräume für andere staatliche Aufgaben, die für die wirtschaftliche Prosperität wichtig sind, wie etwa Bildung und Infrastruktur.

Und überhaupt – wieso soll man die Leute bei den Eigenanteilen wirklich entlasten (wollen)? Dafür gibt es doch gar keine guten Gründe, ganz im Gegenteil: »Auf Anbieterseite bestünden mehr Spielräume, die Preise zu erhöhen, weil der Anreiz für Versicherte fehlt, kostengünstige Heime in Anspruch zu nehmen. Um diesen ausgabensteigernden Effekt zu dämpfen, wären weitergehende Regulierungsmaßnahmen notwendig, deren Erfolg unsicher ist. Denkbar ist auch, dass eine Deckelung der Eigenanteile zu einem höheren Anteil von Pflegebedürftigen in Pflegeheimen führt.«

Und außerdem sollten sich mal alle entspannen: »Steigende Eigenanteile in der Pflege können zu einer finanziellen Überforderung von Pflegebedürftigen führen. Die wirtschaftlich schwächste Bevölkerungsgruppe ist jedoch im heutigen System bereits vollständig abgesichert, weil die Eigenanteile in der Pflege bei Bedürftigkeit von der Sozialhilfe getragen werden.« Man fragt sich vielleicht an dieser Stelle, warum die da so gegen schießen. Könnte das mit irgendwelchen eigenen Interessen seitens der privaten Versicherungsbranche zu tun haben? Erst einmal ist das eine böse Unterstellung – oder? Lesen wir weiter:

»Von einer Deckelung der Eigenanteile würden deshalb in erster Linie Pflegebedürftige profitieren, die der Mittel- und Oberschicht zuzurechnen sind. Dieser Teil der Bevölkerung hat jedoch die Möglichkeit, sich gegen die finanziellen Folgen von Pflegebedürftigkeit abzusichern – sei es über Zusatzversicherungen oder über Vermögensaufbau.« Und damit es nun auch jeder versteht endet die „Kurzanalyse“ mit diesen Worten an das staunende Publikum: »Sinnvoller wäre es, zukünftige Ausgabensteigerungen in der Pflege nachhaltig über mehr eigenverantwortliche Vorsorge zu finanzieren.«

Und nun? Auf die lange Bank schieben zeichnet sich als ein plausibles Szenario am Horizont ab. In dem bereits zitierten Artikel Entlastung in der Pflege droht zu kippen findet man diese Hinweise – und man sollte genau lesen, was da steht:

»Die Deckelung der Eigenanteile geht wissenschaftlich auf ein Gutachten des Sozialwissenschaftlers Professor Heinz Rothgang von der Universität Bremen zurück. Auf Initiative der Evangelischen Heimstiftung soll nun im Mai mit einem weiteren Gutachten begonnen werden, das die praktische Umsetzung der Reformen in den Blick nehmen soll.
Ergebnisse sollen im Herbst 2019 vorliegen. Rothgang selbst schlägt vor, die Finanzierungslücke durch die Eigenanteile transparenter zu machen. Dann würden Pflegezusatzversicherungen für den Einzelnen verständlicher.«

Mit dem Gedanken könnte sich die private Versicherungswirtschaft sicher anfreunden.