Mit den Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst der Länder hat die Tarifrunde 2019 Fahrt aufgenommen. Die Forderungen der Gewerkschaften liegen zumeist zwischen 5,5 und 6,0 Prozent. Damit bewegen sie sich auf einem ähn- lichen Niveau wie im Vorjahr – und für das liegt nun eine detaillierte Bilanzierung des Erreichten vor. „Kräftige Lohnzuwächse und mehr Selbstbestimmung bei der Arbeitszeit“, so ist der Tarifpolitische Jahresbericht 2018 des WSI-Tarifarchivs überschrieben.
»Wie das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung in seinem … tarifpolitischen Jahresbericht 2018 aufzeigt, sind die Tarifvergütungen im Jahr 2018 nominal im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt um 3,0 Prozent gestiegen. Gegenüber Steigerungsraten von jeweils 2,4 Prozent in den beiden Vorjahren hat die Lohnentwicklung damit deutlich an Dynamik gewonnen. Nach Abzug des Verbraucherpreisanstiegs von 1,9 Prozent ergibt sich für 2018 ein realer Zuwachs der Tarifvergütungen um 1,1 Prozent.«
Die Abbildung zeigt die Tariflohnentwicklung in den vergangenen Jahren. Das WSI-Tarifarchiv berücksichtigt bei der Berechnung der kalenderjährlichen Tariferhöhungen sowohl die Neuabschlüsse aus dem jeweils laufenden Jahr als auch Abschlüsse aus Vorjahren, die eine Laufzeit bis mindestens bis Ende des jeweiligen Jahres haben. Beispiel vergangenes Jahr: Insgesamt schlossen die DGB-Gewerkschaften in Deutschland 2018 Lohn- und Gehaltstarifverträge für über 11 Millionen Beschäftigte ab. Für weitere 8,6 Millionen Beschäftigte traten im Jahr 2018 Erhöhungen in Kraft, die bereits 2017 oder früher vereinbart wurden. In der Tarifrunde 2019 verhandeln die DGB-Gewerkschaften für rund 7,3 Millionen Beschäftigte.
Auch interessant: Die Laufzeit der 2018 neu abgeschlossenen Verträge beträgt durchschnittlich 26,5 Monate. Damit setzt sich der seit Jahren anhaltende Trend zu immer längeren Laufzeiten der Tarifverträgen fort.
Und wie immer bei Durchschnittswerten wie in der ersten Abbildung muss man sich die Streuung anschauen, denn nicht in allen Branchen gab es 3 Prozent mehr. In der Tarifbilanz für 2018 zeigen sich zwischen den verschiedenen Branchen und Wirtschaftsbereichen deutliche Unterschiede.
In den Branchen mit unterdurchschnittlichen Tarifzuwächsen wurden die Erhöhungen zumeist bereits in den Vorjahren vereinbart, während 2018 keine Tarifabschlüsse getätigt wurden.
Wenn man den gesamtwirtschaftlichen Verteilungsspielraum versteht als als Summe aus Preis- und Produktivitätsentwicklung, dann ist dieser durch die Tariferhöhungen übertroffen worden und damit konnte eine Umverteilung zugunsten der Arbeitseinkommen durchgesetzt werden. „In der Tarifrunde 2018 hat sich damit der seit einigen Jahren zu beobachtende Trend fortgesetzt, dass der Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkom- men wieder steigt – nachdem sie zuvor über einen längeren Zeitraum gesunken waren,“ so die Einordnung des WSI-Tarifexperten Thorsten Schulten.
Aber es ging (und geht) nicht nur um mehr Geld: »„Mit der Tarifrunde 2018 haben die Gewerkschaften nicht nur kräftige Lohnzuwächse durchgesetzt, sondern auch eine Renaissance der tariflichen Arbeitszeitpolitik eingeleitet“, so wird Thorsten Schulten vom WSI-Tarifarchiv zitiert. Was damit gemeint ist?
»In einer Reihe von Branchen, wie z.B. der Metall- und Elektroindustrie, der Deutschen Post AG oder des öffentlichen Nahverkehrs, wurde erstmalig die Möglichkeit für Beschäftigte geschaffen, auf einen Teil der vereinbarten Lohnerhöhung verzichten und stattdessen zusätzliche freie Tage wählen können. Bei der Deutschen Bahn AG wurde bereits zum zweiten Mal hintereinander ein Wahlmodell vereinbart, bei dem sich alle Beschäftigten individuell zwischen mehr Geld oder mehr freier Zeit entscheiden können.« „Damit ist den Gewerkschaften ein wichtiger Schritt hin zu mehr Selbstbestimmung der Beschäftigten bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeiten gelungen“, meint Schulten.
Zu diesem Aspekt einer „qualitativen Tarifpolitik“ mit Blick auf den Abschluss der IG Metall aus dem vergangenen Jahr vgl. beispielsweise diesen Artikel: Mehr Geld? 260.000 Arbeitnehmer wollen lieber kürzer arbeiten: Rund 260.000 Schichtarbeiter, Eltern kleiner Kinder oder pflegende Familienangehörige in der Elektro- und Metallindustrie nutzen die Möglichkeit zur Arbeitszeitverkürzung. »Das zeige eine Umfrage in 2600 Betrieben. Der Gewerkschaft zufolge waren 93 Prozent der Anträge auf mehr Freizeit in den Betrieben erfolgreich.« Berichtet die IG Metall. Bereits in einer ersten, kleineren Umfrage im November 2018 hieß es, bei den Schichtarbeitern würden 70 bis 80 Prozent die Freizeitoption wählen.
Zum Hintergrund: »In dem Tarifvertrag, den die IG Metall vor knapp einem Jahr mit der Arbeitgeberseite ausgehandelt hatte, wird dieser Gruppe von Arbeitnehmern ermöglicht, sich zwischen mehr Freizeit und einem tariflichen Zusatzgeld zu entscheiden. Arbeitgeber müssen den Aufschlag von 27,5 Prozent eines Monatslohns ab diesem Jahr jeweils im Juli an alle Beschäftigte auszahlen. Stattdessen können die betroffenen Arbeitnehmer aber auch acht zusätzliche freie Tage wählen.« Der Tarifvertrag war Anfang Februar 2018 zunächst in Baden-Württemberg beschlossen und dann für ganz Deutschland übernommen worden. Er beinhaltet auch die Option auf verkürzte Vollzeit, bei der Arbeitnehmer in Vollzeit ihre Arbeitszeit auf 28 Stunden absenken und später wieder auf Vollzeit erhöhen können.
Nur am Rande: Die IG Metall ist Deutschlands größte Gewerkschaft. Sie konnte 2018 die Zahl der Mitglieder wieder steigern.
In diesem Zusammenhang wird zuweilen die Kritik vorgetragen, dass das eine Art „Luxusabschluss“ wäre, den sich die gut bezahlten IG Metall-Mitglieder leisten können. Schaut man sich aber die Branchen an, in denen die Gewerkschaften qualitative Regelungen gerade im Sinne einer Wahlfreiheit haben durchsetzen können, dann erkennt man, dass darunter nicht nur Branchen sind, wo gute oder sehr gute Löhne gezahlt werden: