Das „Hartz IV-System“, also die Grundsicherung für Arbeitsuchende, wie das SGB II offiziell überschrieben ist, war und ist in den vergangenen Monaten immer wieder Thema der öffentlichen Diskussionen gewesen. Viele versuchen sich an diesem Thema. Bürgergeld, Bonuspunkte: Wie Hartz IV abgelöst werden soll, so ist ein Interview mit der SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles am heutigen Tag überschrieben. Allerdings sollte jeder, der jetzt erwartungsvoll und freudig erregt das Gespräch mit ihr zu lesen beginnt, den folgenden Warnhinweis zur Kenntnis nehmen: Die Überschrift führt in die Irre, denn eines ist unbeschadet der Wertung ihrer Vorschläge hervorzuheben: Hartz IV würde auch mit Frau Nahles nicht abgeschafft werden.
Nahles hängt die Latte ziemlich hoch, wenn sie ausführt: »Wir wollen, dass der Sozialstaat wieder als Partner der Menschen auftritt – nicht als Kontrolleur oder Bevormunder. Und der Sozialstaat muss verständlich sein. Ein schwarzes Bürokratie-Loch führt nur zu Unsicherheiten und Ängsten. Der Sozialstaat braucht einen Kulturwandel.« Und wenn man sich nur etwas auskennt in dem Dickicht der unterschiedlichen Institutionen und Zuständigkeiten, dann könnte man sich fast schon in Tagträumereien verlieren, wenn man liest: »Wir müssen weg vom Prinzip der Zuständigkeiten und hin zu einer modernen Begleitung von Menschen. Das heißt, dass Betroffene sich künftig nur noch an eine einzige Stelle wenden müssen, wenn sie staatliche Leistungen benötigen.« Da werden sogar die beiden Interviewer unruhig und fragen nach: »Sie wollen eine neue Superbehörde?« Daraufhin Frau Nahles: »Auf keinen Fall. Wir machen das mit bestehenden Behörden.« Spätestens hier werden die Profis kopfschüttelnd abdrehen. Aber vielleicht kommt ja zu Hartz IV was mit Substanz?
Und wieder steigt der Hoffnungspegel: »Wir wollen Hartz IV hinter uns lassen. Oder das Arbeitslosengeld II, wie es korrekt heißt. Stattdessen wollen wir eine neue Grundsicherung einführen, die wir Bürgergeld nennen.« Also doch jetzt: Hartz IV muss weg. Oder?
Natürlich wird sofort nach den Sanktionen gefragt, die in den vergangenen Monaten, auch vor dem Hintergrund des laufenden Verfahrens beim Bundesverfassungsgericht, im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte standen. Dazu sagt sie: »Unsinnige Sanktionen müssen weg. Wenn Sanktionen nichts nützen, sondern nur neue Probleme schaffen, sind sie unsinnig. Das gilt für die verschärften Sanktionen für unter 25-Jährige, die nur dazu führen, dass der Staat den Kontakt zu diesen Menschen komplett verliert. Sanktionen dürfen auch nie zu 100-Prozent-Streichungen von finanziellen Mitteln führen, die Kosten für Wohnraum etwa sollte der Staat garantieren. Sanktionen die Obdachlosigkeit zur Folge haben, werden wir abschaffen.« Also nicht: Sanktionen müssen weg, sondern nur die „unsinnigen“ Exemplare. Sie will offensichtlich weg von der Sanktionsdebatte, ohne zu radikal zu werden: »Bonussysteme, Anreize und Ermutigungen sind uns wichtiger als Sanktionen. Bei harten Brocken aber muss das Amt die Möglichkeit haben, die Zügel anzuziehen.«
„Bonussysteme, Anreize und Ermutigungen“ – das hört sich doch viel positiver an. Nun werden viele Betroffene, denen das Hemd näher ist als der Rock, vielleicht auf die Idee kommen, zu fragen, ob die sehr knapp – und viele Experten sagen: zu knapp – bemessenen Regelleistungen im Hartz IV-System angehoben werden. Dazu Nahles, die hier möglicherweise einen Textbaustein aus der Union oder der FDP zwischen den Unterlagen hatte: »Nein, die Höhe der Regelsätze bleibt. Wir haben auch eine Verantwortung gegenüber den Menschen, die für wenig Geld jeden Tag zur Arbeit gehen. Wenn wir denen das Gefühl geben, dass sich ihr Einsatz finanziell nicht mehr lohnt, zerstören wir jede Motivation.«
Aber das wäre natürlich keine eigene Duftmarke, die man hier setzen muss im Wettbewerb der Konzepte, also legt sie auf die resignativ daherkommende Frage der Journalisten „Mehr Geld gibt es für Leistungsempfänger also nicht?“ gleich eine positive Message nach – und stellt en passant die weitgehende Pauschalierung der Leistungen, die eine wesentliche Veränderung des Hartz IV-Systems zur alten Sozialhilfe war, in Frage: »Doch, zum Beispiel über ein Bonussystem für Weiterbildung und auch bei speziellem Bedarf. Wir haben festgestellt, dass Menschen, die lange von Grundsicherung leben, irgendwann die Substanz aufgezehrt haben. Diesen Menschen wollen wir helfen und dafür die sogenannten Einmalleistungen aus der früheren Sozialhilfe wieder einführen. Wenn die Waschmaschine kaputt geht oder die alte Winterjacke aufgetragen ist, sollen die Menschen Zuschüsse für eine Neuanschaffung bekommen – nicht monatlich, sondern wenn es nötig ist.«
Und sie will zwar nicht Hartz IV abschaffen und dort auch nicht die Leistungen erhöhen, aber an den Zugängen in dieses bei vielen mit Ängsten und Schreckensvorstellungen behafteten System soll ein temporärer Staudamm errichtet werden, gleichsam eine Art „Schutzschirm“ für die, die vor dem Absturz stehen, denn: »Wer bisher aus dem Bezug von Arbeitslosengeld I fällt, bekommt sofort die volle Härte der Grundsicherung zu spüren: von der Anrechnung seines Vermögens bis hin zu der Frage, ob seine Wohnung womöglich ein paar Quadratmeter zu groß ist.« Von dieser Diagnose ausgehend reformiert Nahles gedanklich: »Mit dem Bürgergeld wollen wir deshalb eine zweijährige Übergangsphase einführen. Da soll zum Beispiel die Angemessenheit der Wohnung grundsätzlich nicht in Frage gestellt werden. Die Betroffenen brauch Kraft, einen neuen Job zu finden, nicht eine neue Wohnung. In dieser Zeit sollen die Menschen in ihren Wohnungen bleiben können und von Sanktionen verschont bleiben.« Wie immer bei solchen Interviews gibt es inhaltliche Abgründe, denn Sanktionen gibt es nicht nur im Hartz IV-System, sondern auch in der Arbeitslosenversicherung (SGB III). Aber wir wollen uns nicht mit solchen Nickeligkeiten aufhalten und lauschen der Vorsitzenden weiter:
Man will was tun, die vor dem großen Hartz IV-Tor stehen: »Wer arbeitslos ist und sich weiterbildet bekommt für eine bestimmte Zeit der Qualifizierung eine Verlängerung seines Arbeitslosengeldes I, die wir Arbeitslosengeld Q nennen. Außerdem führen wir einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung für alle ein, die länger als drei Monate arbeitslos sind. Das kann eine Kurzfristqualifizierung wie ein Gabelstaplerführerschein sein, aber auch eine richtige Umschulung. Ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld I bleibt erhalten. Im besten Fall brauchen sie den aber gar nicht – weil sie mit der Qualifizierung einen neuen Job bekommen.« Und für die älteren Semester gibt es auch was: »Ab einem Alter von 50 Jahren wollen wir die Beitragszahlerjahre noch stärker anerkennen als heute. Wer 58 Jahre alt ist, kann heute 24 Monate lang Arbeitslosengeld I beziehen. Wir wollen den Bezugszeitraum auf bis zu 33 Monate verlängern.«
Das ist ihr Angebot: »Der Staat als Partner sorgt fünf Jahre lang für Halt und Perspektive – vom Arbeitslosengeld I über Qualifizierungsangebote bis zur Übergangsphase beim Bürgergeld.« Im Ergebnis hätten wir dann die Arbeitslosengeld I-Bezieher, also die „Versicherungskunden“, an der Spitze der Pyramide. Und für einige Kunden soll die Versicherung länger zahlen. Dann gibt es eine auf zwei Jahre befristete neue Zwischenwelt der flapsig formuliert Hartz IV-Plus-Bezieher, die also weniger hart angefasst werden (dürfen). Und dann kommt natürlich noch die Kelleretage des heutigen Systems.
Wir war das noch mal mit der Überwindung der Zuständigkeiten? Jeder, der sich etwas auskennt in den Systemen einer Massenverwaltung, wird der folgende scheinbar nett klingende Hinweis erschaudern lassen: Nahles will, »dass die sogenannten Aufstocker nicht mehr vom Jobcenter betreut werden, sondern in die Zuständigkeit der Arbeitsagentur wechseln, genau so wie die Bezieher des Arbeitslosengeldes I.« Warum jetzt weg von den Jobcentern? Die Arbeitsagenturen sind nicht für die Grundsicherung zuständig, sondern für die Versicherungsleistungen. Und wieso will man denen jetzt so eine Aufgabe aufbürden? Derzeit gibt es bekanntlich mehr als 1,1 Millionen Aufstocker, bei denen oftmals überaus komplizierte Anrechnungen vorgenommen werden müssen. Man könnte zynisch einwenden, dass die Frau Nahles hier dem Anliegen der Existenzsicherung der Bundesagentur für Arbeit auf den Leim geht, denn deren Personal hat durch die Abnahme der Fälle zum SGB III weniger zu tun, während die Jobcenter oftmals am Absaufen sind.
Man könnte jetzt sogar resignierend einwerfen, dass das doch sowieso nur alles Trockenübungen sind, denn mit der Union wird sich das kaum durchsetzen lassen. Die gönnen Herrn Heil ja nicht einmal eine „Respektrente“.
Aber inhaltlich weitaus bedeutsamer ist dieser Einwand: Auch hier werden wir erneut konfrontiert mit einer beklagenswerten Engführung der Hartz IV-Diskussion auf Arbeitslose und dann auch noch auf die Teilgruppe der Arbeitslosen, die aus dem Versicherungssystem in das Fürsorgesystem absteigen müssen und nicht vorher wieder Fuß gefasst haben in einer anderen Beschäftigung. Aber Hartz IV umfasst weitaus mehr Menschen und überaus heterogene Fallkonstellationen des Lebens, die offiziell als Arbeitslose bei den Jobcentern registrierten Hartz IV-Bezieher sind sogar mit 1,44 Millionen nur eine „Minderheit“ unter den 5,9 Millionen Menschen, die auf Grundsicherungsleistungen angewiesen sind (vgl. zu der „unterkomplexen“ Fokussierung auf die Gleichsetzung von Hartz IV-Empfängern mit Arbeitslosen bereits die kritischen Anmerkungen in dem Beitrag Die abgehobene und letztendlich verlogene Hartz IV-Debatte vom 8. April 2018 sowie der im November 2018 veröffentlichte Artikel Wer bietet mehr?).
Aber eines ist gewiss: Alle, die Grundsicherungsleistungen aus welchen Gründen auch immer beziehen (müssen), schlagen bei den Jobcentern auf. Den letzten Außenposten des Sozialstaates. Über die wird oftmals kritisch berichtet, aber man muss ihre fundamentale Bedeutung für Millionen Menschen, bei denen es um das Existenzminimum geht, erkennen. Und jenseits aller berechtigten Kritik an der Arbeit oder ihrer Umgangsweise muss man auch zur Kenntnis nehmen, dass die Jobcenter ausführende Behörden sind, die das, was der Gesetzgeber mit dem SGB II, die Bundesagentur für Arbeit mit zahlreichen Weisungen sowie nicht zu vergessen die Sozialgerichtsbarkeit mit einer Flut an Gerichtsentscheidungen in die Welt gesetzt haben, im direkten Kontakt mit den betroffenen Leistungsempfängern verarbeiten müssen. Eine unerschöpfliche Quelle für zahlreiche Frustrationen und Aggressionen auf beiden Seiten generierende Missverständnisse, Konflikte und auch handwerkliche Anwendungsfehler in der Praxis vor Ort. Und auch wenn die meisten Menschen bei Jobcenter irgendwie an Arbeitsvermittlung denken oder Förderung von Arbeitslosen beispielsweise durch Qualifizierungs- oder Beschäftigungsmaßnahmen denken, so ist doch mindestens die Hälfte der gut 60.000 Beschäftigten in diesem Grundsicherungsuniversum damit befasst, leistungsrechtliche Arbeiten zu verrichten, Geld zahlbar zu machen, Bescheide und deren Änderungen zu verschicken. Dafür braucht es Personal, Räume und Infrastruktur. Und das alles kostet Geld.
Die dafür getätigten Ausgaben werden als Verwaltungsausgaben tituliert. Nun sollte man gar nicht erst auf die Idee kommen, dass es eine einfache Sache ist, genau zu bestimmen, wie viel denn nun für die Verwaltung des Hartz IV-Systems ausgegeben worden ist. Das hängt auch damit zusammen, dass die Jobcenter ganz eigene Wesenheiten sind. Die Mehrheit von ihnen sind „gemeinsame Einrichtungen“ von Bundesagentur für Arbeit und den Landkreisen bzw. kreisfreien Städten. Ein Viertel wird ausschließlich von den Kommunen betrieben.
Vor diesem Hintergrund ist immer wieder mit Respekt auf die präzise und detaillierte Zusammenstellung der statistischen Daten hinzuweisen, die seit Jahren von Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) geleistet wird. Der hat nun eine Übersicht über die Ausgabenentwicklung der vergangenen Jahre vorgelegt:
➔ Paul M. Schröder (2019): Hartz IV: „Verwaltungskosten“ stiegen 2018 auf über 6,5 Milliarden Euro – Rückblick bis 2012 bzw. 2005, Bremen: Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) , 06.02.2019
Ein zentraler Befund: Für „Verwaltungskosten für die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende“ (SGB II – Hartz IV) wurden vom Bund und den Kommunen in 2018 insgesamt 6,555 Milliarden Euro ausgegeben, davon 5,585 Milliarden Euro vom Bund und (vom BIAJ rechnerische ermittelte) 970 Millionen Euro von den Kommunen für deren Anteil an den „Gesamtverwaltungskosten der Jobcenter“. Man kann und muss diese Zahl vor dem Hintergrund einordnen, dass beispielsweise im Jahr 2017 von den Jobcentern 3,66 Milliarden Euro für Leistungen zur Eingliederung in Arbeit ausgegeben wurden.
In den Jahren von 2012 bis 2018 stiegen die „Verwaltungskosten für die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende“ nominal um 32,8 Prozent (1,619 Milliarden Euro) bzw. um durchschnittlich etwa 4,8 Prozent pro Jahr. Gemessen am durchschnittlichen Bestand der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (ELB – Arbeitslosengeld II) stiegen die „Verwaltungskosten für die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende“ von 1.121 Euro pro ELB und Jahr in 2012 nominal um 41,2 Prozent auf 1.583 Euro pro ELB und Jahr in 2018, hat Schröder berechnet.
Auch die langfristige Entwicklung der Verwaltungsausgaben seit Anbeginn des Hartz IV-Systems im Jahr 2005 hat Schröder zahlentechnisch aufbereitet – wobei sich die folgende Abbildung mit seinen Daten nur auf den Bundesanteil an den Verwaltungskostenausgaben der Jobcenter bezieht, da der kleinere kommunale Anteil soweit zurück nicht sicher bestimmt werden kann:
Und eines muss an dieser Stelle auch noch angesprochen werden: Die steigenden Ausgaben für die Verwaltung wurden in den Haushaltsplanungen kontinuierlich und vorsätzlich nicht ausreichend abgebildet, heißt also: Die Soll-Ausgaben waren geringer dimensioniert als die dann tatsächlich realisierten Ist-Ausgaben. Natürlich fragt sich der normal wirtschaftende Bürger: Wie wurde und wird denn dann die Differenz ausgeglichen? Fällt das Geld hier etwa vom Himmel? Das nun bestimmt nicht, sondern man muss es sich aus einer anderen Schatulle besorgen. Da trifft es sich gut, dass die haushaltstechnisch für Eingliederungsleistungen vorgesehenen Fördermittel mit den Verwaltungsausgaben „gegenseitig deckungsfähig“ sind, sprich: Man kann die Mittel aus dem einen in den anderen Topf schieben und es wird jetzt viele nicht überraschen, dass davon ordentlich Gebrauch gemacht wird und außerdem die „Gegenseitigkeit“ in praxi eine Einbahnstraße darstellt:
Abschließend wieder zu den Verwaltungsausgaben, die im bestehenden Grundsicherungssystem anfallen: Weil in diesem Land immer so viele glauben, dass es doch bestimmt keiner Klimmzüge bedarf, um beispielsweise die Verwaltungsausgaben einer Behörde abzurufen, hier nur dieser bemerkenswerte Hinweis von Paul M. Schröder: »Eine differenzierte, öffentlich zugängliche Dokumentation der Entwicklung der Gesamtverwaltungskosten (für welche „Verwaltungstätigkeit“) der Jobcenter fehlt auch über 14 Jahre nach Inkrafttreten des SGB II (Hartz IV).«