Das „Nomadentum“ der Lkw-Fahrer auf den europäischen Straßen wird endlich beendet. Wirklich?

Keine Frage – wenn man die vielen teilweise abgrundtief beunruhigenden Berichte auch in diesem Blog über die Situation vieler Lkw-Fahrer auf den europäischen Straßen Revue passieren lässt, dann freut man sich zutiefst über jede Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Lebenslagen der Betroffenen. Und Grund dazu kann man haben, wenn solche Schlagzeilen die Berichterstattung bestimmen: EU will „Nomadentum“ der Lkw-Fahrer beenden. Dort erfahren wir: »Wenn es nach dem Willen der EU-Staaten geht, sollen Lkw-Chauffeure nicht mehr in ihren Fahrerkabinen schlafen dürfen und in Zukunft das Recht haben, alle drei bis vier Wochen heimzukommen. Darauf hat sich der Verkehrsministerrat nach Marathonverhandlungen in der Nacht auf Dienstag geeinigt. Die EU will damit das derzeit bestehende „Nomadentum“ von Lkw-Fahrern – wochenlange Touren ohne feste Unterkünfte – beenden. Damit das Paket in Kraft tritt, muss das EU-Parlament noch zustimmen.« Man muss an dieser Stelle aufrufen, dass wir hier über zwei Millionen Lkw-Fahrer sprechen, viele von ihnen kommen aus osteuropäischen EU-Staaten, deren Speditionen sich als Niedrigpreismodell etabliert haben und die erhebliche Einnahmen generieren, was auch den Widerstand gerade der osteuropäischen EU-Mitglieder gegen die Regulierungsversuche auf der EU-Ebene erklärt.

»Enthalten sind auch neue Regeln für die Kabotage, das heißt für Transporte innerhalb eines anderen EU-Staates. Weiterhin sollen maximal drei Kabotage-Fahrten innerhalb von sieben Tagen erlaubt sein, teilte der EU-Ministerrat mit. Die Kontrollen sollen dabei verstärkt werden. Um systematische Kabotage zu verhindern, einigten sich die EU-Staaten auf eine „Abkühlphase“ von fünf Tagen, bevor weitere Kabotage-Transportfahrten im selben Land mit demselben Lkw durchgeführt werden dürfen.« Hinter dieser Regel steht wohl die Hoffnung, dass die Fahrer mit ihren Lastwagen dann wegen der langen Zwangspause zumindest vorübergehend in ihr Herkunftsland zurückkehren.

Kabotage? Das war doch was? In dem Beitrag Die bewusst Vergessenen: Die Lkw-Fahrer bleiben bei der Reform des EU-Entsenderechts auf der Strecke vom 26. Oktober 2018 findet man diese Hinweise: Dominique John vom DGB-Projekt »Faire Mobilität« berichtet von Gesprächen mit etwa tausend osteuropäischen Fahrern. »Wir beobachten eine besorgniserregende Systematik.« Die allermeisten Fahrer transportierten westeuropäische Waren in Westeuropa und lebten dafür monatelang am Stück in ihren engen Lkw-Kabinen am Rande der Autobahnen.« Und er behauptet: »Die „Kabotage“ wird vom Zoll kaum kontrolliert. Zwar erlauben die EU-Regeln nur drei Transporte innerhalb von sieben Tagen für Fahrzeuge, die im Ausland gemeldet sind, aber in Deutschland fahren. Doch die Praxis sieht so aus, dass Lkw-Flotten, die in Polen, Rumänien oder Bulgarien gemeldet sind, bis zu einem halben Jahr in Deutschland stationiert bleiben – im Auftrage hiesiger Logistikunternehmen wie Amazon.« Seit 2010 gibt es eine Verordnung der EU-Kommission und die lässt »Kabotagebeförderungen im Anschluss an eine grenzüberschreitende Beförderung erst nach vollständiger Entladung des Fahrzeuges zu. Zudem kann innerhalb von drei Tagen nach der Einfahrt mit einem unbeladenen Fahrzeug in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates eine Kabotagebeförderung durchgeführt werden. Dies setzt voraus, dass zuvor eine grenzüberschreitende Beförderung in einen anderen Mitgliedstaat stattgefunden hat, und dass insgesamt die 7-Tage-Frist eingehalten wird«, so die Erläuterungen des Bundesamtes für Güterverkehr (BAG).

Ganz offensichtlich ist hier nichts wirklich Neues beschlossen worden. Aber das in der Vergangenheit beschriebene Problem war und ist die Kontrolle. Dazu erfahren wir nun: »Ein Schlüssel für die neuen Regeln ist der „digitale Tachograf“, der in einer neueren Version bis 2024 in allen Lastwagen für internationale Transporte vorhanden sein muss. Das Gerät registriert automatisch, wann und wo ein Lkw eine Grenze passiert hat, und zeichnet auch Lade- und Entladetätigkeiten auf.« Die Verkehrsminister haben sich nun darauf verständigt, dass in der EU von 2024 an – zehn Jahre früher als eigentlich geplant – sogenannte smarte Tachographen eingesetzt werden müssen.

In der Presse wird vor allem auf den eingangs erwähnten Aspekt hingewiesen, dass die Lkw-Fahrer »nicht mehr in ihren Fahrerkabinen schlafen dürfen«, was eine allerdings mehr als verkürzte Wiedergabe dessen ist, was man da beschlossen hat. Denn: Die Mehrheit der Verkehrsminister will erreichen, dass die Fahrer während der regulären wöchentlichen Ruhezeit nicht in der Kabine schlafen. Diese Pause muss nach spätestens 56 Stunden Arbeit hinterm Lenker für 45 Stunden genommen werden. Die Fahrer müssten sich demnächst also Hotel-/Motelzimmer nehmen, was die Kosten für Spediteure erhöht. Allerdings merkt Frank-Thomas Wenzel in seinem Artikel Nur noch ausgeschlafen im Brummi an: »Das Verbot soll aber nicht für die täglichen Ruhezeiten nach maximal zehn Stunden am Steuer gelten, dann bleibt die Kabine als Schlafstätte erlaubt.«

Auch dazu wurde in diesem Blog bereits ausführlich berichtet: Bereits am 20. Dezember 2017 wurde unter der Überschrift Lkw-Fahrer und arbeitslose Selbständige als Gegenstand der Rechtsprechung des EuGH darauf hingewiesen, dass Lkw-Fahrer regelmäßig eine Pause von mindestens 45 Stunden einlegen müssen. Diese dürfen sie allerdings nicht in ihrem Lkw verbringen, so der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einer Entscheidung nach einem jahrelangen Rechtsstreit (EuGH, Urteil vom 20.12.2017, C‑102/16). Aber: »Hingegen darf die reduzierte wöchentliche Ruhezeit unter bestimmten Voraussetzungen im Fahrzeug eingelegt werden.« Eine verwirrende Angelegenheit, dazu diese Tabelle mit einer Übersicht über die regeln die Lenk- und Ruhezeiten der Lkw-Fahrer betreffend und die Ausnahmen:

Eine Folge von Nachtsitzungen ist bekanntlich eine Bewusstseins- und Reaktionsminderung bei den Beteiligten, die eigentlich nur noch ins Bett wollen. Das erklärt dann auch die Verwirrung, die der Verhandlungsführer mit seiner Zusammenfassung der angeblichen Verhandlungsergebnisse ausgelöst hat, was dann zu vielen sehr verkürzten Meldungen das „Schlafverbot“ in den Fahrzeugen betreffend geführt hat: »Es ist die Nacht auf Dienstag. Österreichs Verkehrsminister Norbert Hofer verkündet nach 15 Stunden zäher Verhandlungen ein „absolutes Kabinenschlafverbot“ für Lkw-Fahrer in ganz Europa. Auch bei dem ein oder anderen deutschen Spediteur mögen da sämtliche Lkw-Reifen durchgedreht sein und jede einzelne Brummi-Hupe laut geschrillt haben – die Spediteure hätten dann nämlich ihren Fahrern für jede einzelne Nacht Motels, Pensionen oder Wohnungen buchen müssen. Doch so dick kommt es nun doch nicht. Eine Sprecherin in Brüssel korrigierte, das Kabinenschlafverbot gelte nur für die wöchentliche Ruhezeit der Fahrer, nicht für die Übernachtung nach einer regulären Tagesschicht.« So die Darstellung von Elisabeth Schmidt in ihrem Bericht Mehr Rechte für Brummi-Fahrer: Was heißt das?.

Trotzdem sei der Beschluss, der noch vom Europäischen Parlament gebilligt werden muss, ein Meilenstein so Schmid: »Bislang galt das Kabinenschlafverbot nur in Frankreich, Belgien und Deutschland. Hierzulande gilt ein entsprechendes Gesetz bereits seit Mai 2017: Lkw-Fahrer müssen nach sechs Schichttagen 45 Stunden Pause machen und dürfen dabei nicht im Lkw übernachten. Es gibt Ausnahmen: Verkürzte Ruhezeiten von 24 Stunden mit Übernachtung im Lkw sind erlaubt, allerdings nur alle zwei Wochen. Bei Verstößen drohen Strafen von bis zu 500 Euro für den Fahrer und bis zu 1.500 Euro für den Halter des Lkw.«

Auch hier wieder ein Aber, das auf das immer wieder thematisierte Kontrollproblem verweist: »Doch die Kontrollen des Bundesamts für Güterverkehr (BAG) scheinen nicht immer zu wirken. Das Problem sei, dass die Fahrer auch anderthalb Jahre nach der Gesetzesänderung in ihren Lkw übernachten, teilt der Gesamtverband Verkehrsgewerbe Niedersachsen (GVN) … mit. Dort, wo nicht kontrolliert werde, habe sich an der Übernachtungspraxis der Fahrer nichts geändert. GVN-Präsident Mathias Krage führt weiter aus: „Es ist nicht so, dass das BAG explizit am Wochenende prüft und da die Flotten alle miteinander gut vernetzt sind, kann ich mir vorstellen, dass die Fahrer in den Netzwerken auch kommunizieren, dass Kontrollen stattfinden.“«

Ein weiteres und noch größeres Problem ist, dass es in Deutschland nach wie vor zu wenige geeignete Schlafmöglichkeiten für die rund eine Million Kraftfahrer auf deutschen Autobahnen und Bundesstraßen gibt. Motels an Autobahnen sind meist zu teuer, rund 50 bis 60 Euro die Nacht werde hier schon verlangt. Außerdem seien die Parkplätze dort in der Regel nicht bewacht. Die Lkw-Fahrer übernachten auch deshalb bei ihrer Ladung. Bewachte Autohöfe gibt es zwar auch, aber viel zu wenige und diese sind dann auch meist zu teuer.

Gibt es dann wenigstens bei der teilweise menschenverachtend niedrigen Bezahlung (und dem mit diesem massiven Lohndumping verbundenen existenziellen Wettbewerbsproblematik der Speditionen, die ihre Fahrer halbwegs anständig bezahlen) eine Verbesserung? Es scheint so: Künftig soll das Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit am gleichen Ort gelten. Das würde vor allem bedeuten, dass zum Beispiel bei Kabotage-Aufträgen hierzulande die Fahrer nach dem deutschen Mindestlohn bezahlt werden müssten, berichtet Frank-Thomas Wenzel in seinem Artikel. Natürlich darf auch hier das Aber nicht fehlen: »Für Fahrten über Landesgrenzen hinweg sollen hingegen zahlreiche Ausnahmeregelungen gelten.«

Und was sagt der Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) als Vertreter der deutschen Speditionen zu dem Beschluss der Verkehrsminister der EU? Von dort hat man sich unter dieser Überschrift zu Wort gemeldet: BGL zieht überwiegend positive Bilanz aus den Beschlüssen des EU-Verkehrsministerrats zum Mobilitätspaket. Der BGL begrüßt insbesondere drei Kernelemente der von den Verkehrsministern erzielten Einigung:

➞ Die vorgesehene Heimkehr für Fahrer nach spätestens drei bzw. vier Wochen ist Grundvoraussetzung, um wirksam gegen Sozialdumping, Nomadentum und unwürdige Bedingungen auf überfüllten Parkplätzen vorzugehen.
➞  Die Einführung des intelligenten Fahrtenschreibers der 2. Generation ab Ende 2024 ist unerlässlich zur Verbesserung der Kontrolle der Sozialvorschriften.
➞  Ergänzt wird dies durch die von den Ministern vorgesehene EU-weit verbindliche Klarstellung des Verbots, die reguläre wöchentliche Ruhezeit in der Fahrerkabine zu verbringen.

Die vorgesehene Kabotageregelung mit der fünftägigen Karenzzeit »kann systematischer (dauerhafter) Kabotage einen Riegel vorschieben.« Aber nicht zu früh freuen: »Zum Bedauern des Verbandes bleibt das vordringlichste Problem, wie die Anzahl von Kabotagefahrten in der Praxis zu kontrollieren ist, ungelöst. Ohne zusätzliche Vorgaben können Umgehungen dieser Regel nicht ausgeschlossen werden.«

Der BGL wäre für die Einbindung grenzüberschreitender Transporte in die EU-Entsenderichtlinie – was Konsequenzen für die Bezahlung der Fahrer hätte, wenn sie denn beispielsweise in Deutschland oder Frankreich unterwegs sind. Aber: Zweifel hat der BGL allerdings an deren Kontrollierbarkeit. Die Minister schaffen mit der Unterteilung des grenzüberschreitenden Verkehrs in „bilaterale Verkehre“ und „Cross-Trade-Verkehre“ zwei Kategorien, die bei Kontrollen nur schwer zu unterscheiden sein dürften. Die „bilateralen Verkehre“ aus dem bzw. in das Heimatland sollen von den Mindestlohnbestimmungen ausgenommen werden. „Das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit dürfte damit für die Fernfahrer nur sehr schwer durchzusetzen sein. Wie soll ein Kontrollbeamter erkennen, ob der Fahrer eine grenzüberschreitende Fahrt mit Mindestlohnanspruch durchführt oder einen bilateralen Verkehr? Dem Anspruch der Kontrollierbarkeit wird man damit nicht gerecht“, wird der BGL-Hauptgeschäftsführer, Dirk Engelhardt, zitiert.

Man sieht, der angeblich Durchbruch für die vielen „Nomaden“ auf den europäischen Straßen muss doch deutlich eingedampft werden. Und selbst wenn man das Übriggebliebene als Schritt auf dem langen Weg des Fortschritts abbucht – in trockenen Tüchern ist das alles nicht nicht, denn der Beschluss der Verkehrsminister der EU zu dem bereits im Mai 2017 von der EU-Kommission vorgelegten Mobilitätspakt ist nur ein Schritt unter mehreren, damit das auch Wirklichkeit werden kann. Denn in Kraft treten kann das jetzt noch nicht. Bei Wenzel findet man diesen Hinweis: »Die EU-Mitgliedsstaaten wollen nun die Arbeitsbedingungen verbessern. Das wird auf harten Widerstand stoßen. Denn osteuropäische Niedrigpreismodelle geraten dadurch in Gefahr.« Und Elisabeth Schmid berichtet: »Die EU und die Verkehrsminister der Mitgliedsländer werden also noch einiges mehr zu regeln haben, sollte das Europäische Parlament den neuen Beschluss absegnen. Letztlich gilt es vor allem noch Länder wie Polen, Ungarn, Bulgarien, Kroatien, Malta, Irland, Lettland und Litauen zu überzeugen. In diesen acht Ländern drehten nämlich definitiv die meisten Lkw-Reifen durch und es schrillten definitv sämtliche Brummi-Hupen, als sie die neuen Sozialstandards für Lkw-Fahrer vorgelegt bekamen: Diese acht Länder stimmten gegen den Verkehrsminister-Vorschlag.«

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat dann auch diese Überschrift gewählt: Fauler Kompromiss für Beschäftigte im Rat – EU-Parlament muss nachbessern. Annelie Buntenbach wird mit diesen Worten zitiert: „Weiter bleiben Nebentransporte im Rahmen einer Transportoperation von A nach B aus der Entsenderichtlinie ausgeklammert. Das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit wird so mit Füßen getreten und dem rollenden Prekariat der Weg geebnet. Jetzt heißt es dranbleiben – es kommt auf die Abgeordneten des Europäischen Parlaments an. Das Parlament muss seine Stärke als soziales Korrektiv der EU beweisen, diese falschen Ansätze aufhalten und dringend notwendige Verbesserungen der Sozialstandards für die Beschäftigten auf den Weg bringen.“ Und ihr Kollege Stefan Körzell findet diesen deutlichen Worte: „Es kann nicht sein, dass osteuropäische LKW weiterhin wochen- oder sogar monatelang zu Hungerlöhnen in Westeuropa touren – wie im Fall der philippinischen LKW-Fahrer in Ense. Deshalb muss die Rückkehrpflicht nach Hause – nicht zum Sitz des Arbeitgebers – nach vier Wochen nicht nur für die Fahrer gelten, sondern auch für die LKWs. Die neuen Regelungen müssen die Missstände im Transportbereich verbessern, statt sie einfach wie jetzt zu legalisieren.“

So bleibt weiter zu hoffen, dass es im EU-Parlament entsprechende Korrekturen geben wird. Sicher ist das nicht.