Wenn über „Hartz IV“, also die Grundsicherung nach SGB II, diskutiert wird, dann stehen meistens die Regelleistungen im Mittelpunkt, also der Geldbetrag, mit dem Hartz IV-Empfänger ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen- für einen alleinstehenden Leistungsbezieher sind das 416 Euro im Jahr 2018. Aber da gibt es noch eine zweite ganz wichtige Säule des Grundsicherungssystems: Bedarfe für Unterkunft und Heizung, so ist der hier relevante § 22 SGB II überschrieben. Dort findet man gleich am Anfang diesen Satz: »Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind.«
Das liest sich im ersten Moment einfacher, als es dann tatsächlich ist. Denn das Problem verbirgt sich hinter dem unbestimmten Rechtsbegriff „angemessen“, denn die Angemessenheit selbst ist eben nicht im Gesetz definiert, muss also im Verwaltungsalltag festgelegt und durch Richterrecht falls notwendig korrigiert und fortgeschrieben werden. Vgl. dazu ausführlich den Beitrag Die angemessenen „Kosten der Unterkunft und Heizung“ im Hartz IV-System: Wenn ein unbestimmter Rechtsbegriff mit elementaren Folgen von der einen Seite bestimmt werden soll vom 16. Februar 2018. Die Konflikte zwischen den Betroffenen und den Jobcentern um die Frage, welche Mietkosten (noch oder nicht mehr) „angemessen“ sind, landen oftmals vor den Sozialgerichten.
Und es geht hier neben der absolut existenziellen Bedeutung des Wohnens für jeden einzelnen Betroffenen wahrlich nicht um Peanuts: Über 14 Mrd. Euro werden für die Unterkunftskosten ausgeschüttet – wobei der Vorbehalt der „Angemessenheit“ dazu führt, dass viele Hartz IV-Empfänger aus ihren sowieso schon mehr als knapp kalkulierten Regelleistungen 600 Mio. Euro abzweigen mussten zur Finanzierung der von den Jobcentern nicht übernommenen Unterkunftskosten (vgl. dazu Hartz IV-Empfänger bekommen 1,63% mehr Geld. Von der Angemessenheit, ungedeckten Stromkosten und Mieten mit Selbstbeteiligung vom 22. September 2017).
Nun gibt es zum einen die immer wieder umstrittene Grundsatz- und Einzelfallfrage der Angemessenheitsgrenze nach oben, wo sich natürlich auch die auseinanderlaufenden Interessen spiegeln, denn die Betroffenen wollen natürlich die tatsächlichen Kosten erstattet bekommen, während die Jobcenter ein Interesse daran haben, dass ihnen die Ausgaben aus ihrer Sicht nicht aus dem Ruder laufen. Zum anderen aber stellen sich wieder einmal zahlreiche praktische Umsetzungsprobleme vor Ort, von denen diejenigen, die am Schreibtisch Gesetze machen und Regelungen in die Welt setzen, oftmals nicht den Hauch einer Vorstellung haben. Die sich aber eigentlich schon bei einfachem Nachdenken ableiten lassen – beispielsweise der Aspekt, dass sich die Verhältnisse des Leistungsbeziehers ändern, die eigentlich eine Anpassung des bislang bewilligten erforderlich machen.
Streitfragen, die sich aus diesem Grundsatzproblem ergeben, landen dann immer wieder vor den Gerichten. Wie so ein Sachverhalt:
»Erst sitzt er allein in der Wohnung. Frau und Kind sind ausgezogen, er bleibt zurück. Die 849 Euro an monatlicher Warmmiete muss der 51-Jährige nun selbst berappen. Dann verliert er auch noch seine Stelle im Online-Marketing. Es folgen Arbeitslosengeld, dann Hartz-IV. Die Miete ist dem Jobcenter in Hannover schließlich zu hoch, es gibt dem Mann eine Frist von sechs Monaten. Danach solle er umziehen.«
Darüber berichtet Jean-Philipp Baeck in seinem Artikel Unfriede in den Hütten. Und über zwei Entscheidungen des Sozialgerichts Bremen und des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen zu Wohnkosten von Hartz IV-Empfängern.
In dem beschriebenen Fall des 51-Jährigen gewährte das Landessozialgericht dem Mann nun in einem Eilverfahren weiteren Aufschub (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27. Juli 2018 – L 11 AS 561/18 B ER). Dazu auch die Pressemitteilung des LSG Niedersachsen-Bremen: Wie lange muss das Jobcenter für teure Wohnungen zahlen? Darin heißt es: »Für große und teure Wohnungen von Hartz-IV-Empfängern muss das Jobcenter nicht die volle Miete tragen. Dieser Grundsatz gilt aber nicht unbegrenzt, wie das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen nun entschieden hat. Wer zwischenzeitlich gearbeitet hat und danach erneut Grundsicherungsleistungen erhält, kann ggf. eine zweite Übergangsfrist beanspruchen.«
Das versteht man besser, wenn man sich den bereits in Grundzügen skizzierten Sachverhalt genauer anschaut. Dazu das LSG: »Zugrunde lag das Eilverfahren eines 51-jährigen Hannoveraners, der seit dem Auszug von Frau und Kind in einer großen Wohnung allein lebte. Nachdem er auch noch seine Arbeit im online-Marketing verloren hatte und die Leistungen des Arbeitsamts erschöpft waren, bezog er Grundsicherungsleistungen („Hartz-IV“). Das Jobcenter forderte ihn auf, die viel zu hohen Wohnkosten binnen einer Frist von sechs Monaten zu senken, was durch Untervermietung an eine Studentin zeitweilig gelang. Der Mann fand später auch eine neue Arbeitsstelle und konnte sich die Wohnung wieder leisten. Nach fünf Monaten der Probezeit kündigte der Arbeitgeber und der Mann war erneut hilfebedürftig. Das Jobcenter wollte jetzt nur noch die Kosten einer angemessenen Wohnung übernehmen. Hierauf habe es bekanntlich schon einmal hingewiesen. Demgegenüber sah sich der Mann als „Neufall“, der eine neue Aufforderung und eine neue Frist erfordere. Außerdem verwies er auf den angespannten Wohnungsmarkt in Hannover. Das LSG hat dem Mann vorläufig eine weitere Frist von drei Monaten zur Kostensenkung eingeräumt.«
Aber grundsätzlich wird das System als solches nicht zur Disposition gestellt, nach der neuen Frist müsste der Betroffene aus eigener Tasche zuzahlen, wenn er in dieser Frist nicht eine andere Lösung (beispielsweise eine Untervermietung) hinbekommen hat.
Die bereits angesprochene Grundsatzfrage nach der angemessenen Höhe der vom Jobcenter zu übernehmenden Unterkunftskosten tauch dann in einem zweiten Urteil auf: »Weitreichender ist ein Urteil des Sozialgerichts in Bremen … (AZ: S 28 AS 1213/16). Darin erklärte das Gericht die in Bremen bis 2017 geltenden Richtwerte für Mieten für nicht realistisch. Das Jobcenter muss deshalb einer Mutter, die mit ihren zwei Kindern in Bremen-Blumenthal lebt, nun Miete nachzahlen.« Zum Sachverhalt berichtet Baeck in seinem Artikel:
»Blumenthal ist ein armer Stadtteil im etwas abseits liegenden nördlichen Teil Bremens. Rund 650 Euro bezahlte die Frau dort Anfang 2016 an Kaltmiete – zu hoch, wie das Jobcenter Bremen zunächst meinte. Denn laut einer Verwaltungsanweisung der Sozialsenatorin lag der damalige Richtwert für einen Dreipersonenhaushalt bei lediglich 507 Euro Miete im Monat. Für einzelne teurere Wohnlagen, etwa im beliebten Bremer „Viertel“, wären die Richtwerte um 10 bis 20 Prozent höher. Nicht aber für Blumenthal.«
Nun muss man wissen: in Bremen fehlt ein Mietspiegel, auf den man sich bei der Operationalisierung der „angemessenen“ Mietkosten beziehen könnte. Man könnte als Alternative einfach die Beträge zahlen, die bundesweit im Wohngeld-Gesetz festgelegt sind. Das aber ist vielen Kommunen zu teuer, denn hier orientieren sich die Höchstbeträge an einem bundesweiten Durchschnitt. »Für einen dreiköpfigen Haushalt stehen etwa 626 Euro in der Wohngeldtabelle.« Also hat man in Bremen selbst Hand anlegen lassen: »In der eigenen „Mietstruktur-Analyse“, die Bremen von der Firma „Analyse und Konzepte“ hatte erstellen lassen, waren die Werte niedriger.«
„Analyse und Konzepte“? Da war doch schon mal was, wird sich der eine oder andere erinnern. Tatsächlich, das Hamburger Unternehmen mit einem höchst umstrittenen Ansatz war schon mal 2015 Thema hier in diesem Blog: Und wieder einmal grüßt täglich das Murmeltier: Hartz IV und die Wohnungsfrage, so ist der Beitrag vom 20. Dezember 2015 überschrieben. Die in ganz Deutschland von Jobcentern in Anspruch genommene Arbeit dieses Unternehmens wird heftig kritisiert.
Auch in Bremen. Dort kam das Sozialgericht zu diesem Ergebnis: Die „Ermittlung der Referenzmieten“ ist laut Gericht „nicht auf Grund eines schlüssigen Konzepts erfolgt“. Das aber muss nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vorhanden und nachvollziehbar sein. Aber in Bremen erkannte das Sozialgericht ein Vorgehensmuster, dass auch aus vielen anderen Regionen berichtet wurde: »… die Firma „Analyse und Konzepte“ habe laut Gericht überwiegend Mieten von kommunalen Wohnungsbaugesellschaften erfasst, Mieten kleinerer Vermieter seien nicht ausreichend repräsentiert worden. Auch konzentrierten sich die erhobenen Mieten ganz überwiegend auf wenige Stadtteile – vor allem aus der Vahr, Osterholz, Vegesack, Obervieland, Gröpelingen und Blumenthal. Allesamt Stadtteile mit einer ärmeren Bevölkerungsstruktur. Wohnungen aus innenstadtnahen Stadtteilen waren kaum vertreten. Zudem seien nur weniger Neuvermietungen und zu viele alte Bestandsmieten Teil der Erhebung gewesen.«
Und was hat das Sozialgericht nun nach dem Kippen der Obergrenzen in Bremen getan? »Mangels eigener Ermittlungsmöglichkeiten hat das Gericht als Richtwert für die Miete der Klägerin deshalb die jeweils geltenden Werte aus dem Wohngeldgesetz zu Grunde gelegt, zuzüglich eines Sicherheitszuschlages von zehn Prozent. Der Entscheidung kommt laut Gericht eine „grundsätzliche Bedeutung“ zu, da sich eine „erhebliche Anzahl an Streitigkeiten vor dem Sozialgericht Bremen“ um diese Mietobergrenzen drehe – etwa 200 Klagefälle sind betroffen.«
Aber nicht nur Bremen – dessen Jobcenter Berufung gegen die Entscheidung einlegen will – hat Probleme. Solche werden auch aus dem Saarland gemeldet, um ein weiteres Beispiel aufzurufen. Das Sozialgericht Saarbrücken hat die KdU-Werte des Jobcenters/Sozialamtes Saarbrücken für rechtswidrig erklärt (vgl. hierzu SG SB v. 26. März 2018 – S 32 SO 32/16).
Und auch das Bundesverfassungsgericht hat sich mit der KdU-Problematik beschäftigt. Bereits am 15. November 2017 wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Das Bundesverfassungsgericht und die Angemessenheit der Kosten für Unterkunft und Heizung im Grundsicherungssystem. Darin wurde ausgeführt, dass sich das BVerfG – nicht – mit dem Thema angemessene Unterkunftskosten beschäftigt hat. Dazu ein Zitat aus der Pressemitteilung des hohen Gerichts, die unter der Überschrift Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Begrenzung auf Übernahme der angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung veröffentlicht wurde:
»Vor den Sozialgerichten wird immer wieder darum gestritten, ob im Rahmen des Bezugs von Arbeitslosengeld II die Kosten für die Wohnung nicht nur in „angemessener“, sondern in tatsächlicher Höhe übernommen werden. Das Sozialgesetzbuch beschränkt die Erstattung auf „angemessene“ Aufwendungen. Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat in einem heute veröffentlichten Beschluss entschieden, dass diese Begrenzung mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. Der Gesetzgeber muss keinen Anspruch auf unbegrenzte Übernahme der Wohnungskosten vorsehen. Die Regelung ist auch ausreichend klar und verständlich. Damit hat der Gesetzgeber seiner aus der Verfassung herzuleitenden Pflicht genügt, einen konkreten gesetzlichen Anspruch zur Erfüllung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zu schaffen.«
Aber es lohnt sich, hier genauer hinzuschauen. Denn es geht insgesamt um drei Entscheidungen, von denen eine bislang unbemerkt geblieben ist, weil sie nicht veröffentlicht wurde. Harald Thomé hat das gemacht und in dem Artikel Die unbekannte dritte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zu den Kosten der Unterkunft nach dem SGB II veröffentlicht. Wenn man sich das anschaut, dann wird man Zeuge eines höchst problematischen Verabschiedungsversuchs des BVerfG in das Nirwana seiner angeblichen Nicht-Zuständigkeit – und zugleich eines weiteren Abrückens von dem „historischen“ Grundsatzurteil zum Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums aus dem Jahr 2010 (vgl. dazu BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09).
Thomé beschreibt die Ausgangslage so: »Im Oktober 2017 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Sachen Kosten der Unterkunft nach dem SGB II zwei Entscheidungen veröffentlicht: Mit der ersten Entscheidung, dem Beschluss vom 6.10.2017, wurden zwei Richtervorlagen als unzulässig verworfen. Mit der zweiten Entscheidung, dem Beschluss vom 10.10.2017, wurde eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.« Aber mittlerweile wurde bekannt, dass es noch eine dritte Entscheidung gegeben hat, die das BVerfG nicht veröffentlicht hat. Und die ist in dem hier interessierenden Kontext hinsichtlich der Angemessenheitsfrage höchst relevant.
Harald Thomé hat seine Auseinandersetzung mit der Entscheidung des BVerfG unter diese Überschrift gestellt: „Die unbekannte dritte Entscheidung (Beschluss vom 10.10.2017, 1 BvR 944/14)“. Ausgangspunkt ist für ihn die Annahme, dass das BVerfG die Rechtsprechung des BSG zur „Angemessenheitsobergrenze“, die in offenem Widerspruch zum „Hartz-IV-Urteil“ vom 9.2.2010 des BVerfG steht, mindestens kritisch prüfen würde.
Wie kommt er zu dieser Annahme? Schaut man in das BVerfG-Urteil aus dem Jahr 2010, dann findet man in den Leitsätzen zur Entscheidung unter Punkt 3 diesen Passus:
»Zur Ermittlung des Anspruchumfangs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen.«
Diese Maßstäbe müssten doch auch an die „Angemessenheitsobergrenze“ des Bundessozialgerichts angelegt werden, sollte man denken. Das BSG entscheidet in ständiger Rechtsprechung, dass auch dann, wenn ein Jobcenter kein schlüssiges Konzept vorlegt, eine Angemessenheitsgrenze gelte: nämlich die vom BSG so genannte „Angemessenheitsobergrenze“, die das BSG aus § 12 WoGG ableitet. Dazu Thomé: § 12 WoGG gibt vor, bis zu welcher Höhe die Miete bei der Berechnung des sog. Tabellenwohngeldes nach dem Wohngeldgesetz berücksichtigt wird. Nach der Rechtsprechung des BSG sind die Werte aus der Höchstbetragstabelle des § 12 WoGG um 10 % zu erhöhen. So ergibt sich die „Angemessenheitsobergrenze“. Und daraus entspringt nach Thomé ein Widerspruch zu den Anforderungen des BVerfG, denn: »Es handelt sich hier um eine „gegriffene Größe“ – mit anderen Worten: um eine freie Schätzung des BSG, die gar nicht den Anspruch erhebt, transparent und sachgerecht ermittelt zu sein.«
Dieses vom BSG geöffnete Scheunentor wird auch genutzt: »Viele Jobcenter haben erkannt, dass die Angemessenheitsgrenzen, die sie durch ein schlüssiges Konzept ermitteln, höher ausfallen müssten als die „Angemessenheitsobergrenze“, die aus der Höchstbetragstabelle des § 12 WoGG abgeleitet wird. Insgesamt verzichtet rund ein Fünftel der Jobcenter von vorneherein darauf, ein schlüssiges Konzept zu erstellen, und wendet stattdessen die Höchstbetragstabelle aus § 12 WoGG an.« Die Daten stammen aus dieser vom Bundesarbeitsministerium im Januar 2017 veröffentlichten Studie von Malottki et al.: Ermittlung der existenzsichernden Bedarfe für die Kosten der Unterkunft und Heizung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).
Thomé erläutert dann, warum viele Jobcenter gerne von dieser Option Gebrauch machen:
➔ Die Werte werden rückblickend ermittelt und hinken der Entwicklung der Mieten um Jahre hinterher.
➔ Für Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern gilt der Wert des gesamten Landkreises. Umlandgemeinden von Städten von hohen Mieten, die weniger als 10.000 Einwohner haben, weisen damit bundeweit viel zu niedrige Mietstufen aus.
➔ Die Werte aus § 12 WoGG nur um den Faktor 1,67 gespreizt sind: Der Wert der Mietstufe 6 ist 1,67 mal so hoch wie der Wert der Mietstufe 1. Die Mieten in Deutschland sind aber um den Faktor 3,5 gespreizt: Die höchste mittlere Angebotsmiete (München) für eine 60 qm-Wohnung ist 3,5 mal so hoch wie die niedrigste mittlere Angebotsmiete … Das heißt: Die Werte der Mietenstufen 4 bis 6 der Höchstbetragstabelle des § 12 WoGG viel zu niedrig.
Aber: Das BVerfG hat mit der dritten Entscheidung eine Verfassungsbeschwerde, die die „Angemessenheitsobergrenze“ zum Gegenstand hatte, zurückgewiesen. Die Beschwerdeführer hatten sich auf das „Hartz-IV-Urteil“ des BVerfG vom 9.2.2010 berufen. Die „Angemessenheitsobergrenze“ sei eine willkürliche Festlegung des BSG. Das sei mit der Rechtsprechung des BVerfG zum Grundsicherungsrecht nicht vereinbar.
»Damit hätte das BVerfG sich auseinandersetzen müssen.« So die zutreffende Feststellung von Thomé. Und weiter: »Wenn es – was schwer vorstellbar ist – zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass die richterrechtlich eingeführte „Angemessenheitsobergrenze“ des BSG mit der Verfassung zu vereinbaren ist, hätte das BVerfG das begründen müssen. Die Nichtannahmeentscheidung erging jedoch ohne Begründung (Beschluss vom 10.10.2017, 1 BvR 944/14 – nicht begründeter Nichtannahmebeschluss) und wurde in der Pressemitteilung des BVerfG nicht erwähnt.«
Fazit: »Das legt den Schluss nahe, dass das BVerfG einerseits die willkürliche Setzung des Bundessozialgerichtes, auf der die Angemessenheitsobergrenze beruht, nicht in Frage stellen wollte, sich aber andererseits nicht in der Lage sah, dieses Ergebnis widerspruchsfrei zu begründen.«
Und der Schlussfolgerung von Thomé ist leider zu folgen: »Im „Hartz-IV-Urteil“ hat das Gericht vollmundig versprochen: „Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.“ (BVerfG, 9.2.2010, 1 BvL 1/09 Rn 137) Wenn die Leistungsberechtigten dann aber die Einlösung dieses Versprechens verlangen, will das Bundesverfassungsgericht nichts mehr davon wissen, behilft sich mit hässlichen Winkelzügen und hofft, dass es keiner merkt.«
Das alles ist über die hier thematisierte KdU-Problematik im Grundsicherungssystem hinaus relevant und kann durchaus Bauchschmerzen verursachen. Denn es gibt andere Baustellen innerhalb des Hartz IV-Systems, die zur Entscheidung anstehen: An dieser Stelle sei nur an das seit langer Zeit in Karlsruhe anhängige Verfahren zur Frage nach einer (möglichen) Verfassungswidrigkeit der Sanktionen erinnert (vgl. hierzu ausführlicher „Keine Atempause. Geschichte wird gemacht. Es geht voran“. Das würden sich manche wünschen vom Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der umstrittenen Sanktionen im Hartz IV-System vom 27. Februar 2018). Gerade das mehrfach erwähnte BVerfG-Urteil aus dem Hartz IV ist angesichts seiner Grundrechtsstringenz von zentraler Bedeutung für diejenigen, die sich vom hohen Gericht eine klare Entscheidung gegen das bestehende Sanktionsregime erhoffen. Schreibt man die mittlerweile erkennbaren Seitwärtsbewegungen der Entscheidungen nach dem „historischen“ Urteil von 2010 fort, dann kann man durchaus plausibel annehmen, dass das BVerfG in seiner jetzigen Zusammensetzung auch bei der Sanktionsfrage nach Wegen sucht, dass der Kelch an ihnen vorbeigehen möge. Das könnte auch erklären, warum sich einfach nichts tut bei der Richtervorlage des SG Gotha zur Sanktionsfrage und eine Entscheidung mehr als überfällig ist.
Und auch in anderen sozialpolitisch hoch relevanten Feldern muss man eine mehr als defensive Linie des Verfassungsgerichts im Vergleich zu den wegweisenden Entscheidungen früherer Zeiten diagnostizieren: In der Familienpolitik und in der Pflege. Und immer stärker hat man in jüngerer Zeit den Eindruck, dass die Richter in Karlsruhe irgendwie keine Lust mehr haben, sich aktiv zu positionieren.