Warum prüfen, wenn man sich auszahlen lassen kann. Über einen modernen Ablasshandel bei Krankenhausrechnungen

Es geht um Geld. Um viel Geld. Bekanntlich wird das Gesundheitswesen und darunter der Krankenhausbereich als das Schwergewicht nicht ohne Grund als Haifischbecken bezeichnet, denn wo so viele Milliarden fließen wird nach allen Regeln des Zulässigen und darüber hinaus um die einzelnen Kuchenstücke gekämpft. Die Behandlung von Patienten in Krankenhäusern ist der größte Kostenblock der Krankenkassen, 2017 sind hier rund 75 Milliarden Euro bewegt worden. Bei solchen Größenordnungen in Verbindung mit den Besonderheiten eines auf DRGs basierenden Finanzierungssystems über Fallpauschalen kann man sich gut vorstellen, dass es zu Manipulationen kommen kann, um mehr Geld aus einer Behandlung zu generieren, als einem eigentlich zusteht.

Nun lässt sich argumentieren, dass es Verfehlungen in derart hochkomplexen Abrechnungssystemen wie zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen immer geben wird, dass man das nicht wird vermeiden können, sondern versuchen muss, durch Kontrollen das Ausmaß zu begrenzen. Aber eine andere Qualität hätte die ganze Sache, wenn es in diesem System strukturelle Anreize geben würde, die einen systematischen Missbrauch befördern. Und noch ärgerlicher wäre es, wenn man von diesen Anreizen weiß, aber nichts dagegen unternimmt.

Das kann es nicht geben? Schauen wir uns diesen Artikel an: Kritik an Klinikrabatten bleibt folgenlos. Dort wird behauptet: »Krankenkassen lassen sich den Verzicht auf Rechnungsprüfung von Kliniken abkaufen. Gesundheitsminister Spahn will dagegen vorerst nichts unternehmen.« Da wird der eine oder andere mehr als nur die Stirn runzeln. »Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will vorerst nicht per Gesetz gegen die Praxis mancher Krankenkassen vorgehen, auf die Prüfung von Klinikrechnungen zu verzichten, wenn sich die Krankenhäuser im Gegenzug verpflichten, ihnen Abschläge von bis zu 50 Prozent zu gewähren. Dies teilte das Ministerium jetzt in der Antwort auf eine Anfrage der Linken mit«, die dem Handelsblatt vorliegt. Was ist da genau los?

Dazu lohnt der Blick in diesen Artikel von Peter Thelen: Viele Kassen prüfen Klinikrechnungen nicht. »Mehr als 4.500 Euro betrug die durchschnittliche Krankenhausrechnung im Jahr 2017. Grund genug für die Kassen, bei der einzelnen Rechnung genau hinzusehen, sollte man meinen.«

»Tatsächlich sind sie sogar gesetzlich dazu verpflichtet, bei Auffälligkeiten den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) zur Begutachtung einzuschalten. Und der findet in mehr als jedem zweiten geprüften Fall Fehler. 2,2 Milliarden Euro bringen diese Überprüfungen den Krankenkassen jedes Jahr. Es könnte wohl deutlich mehr sein.«

Denn ein Prüfbericht des Bundesrechnungshofs habe ergeben, »dass viele Krankenkassen bereits seit Jahren „freiwillig“ auf die Rechnungsprüfung verzichten. Sie haben Verträge mit den Kliniken abgeschlossen, in denen diese quasi als Gegenleistung einer pauschalen Kürzung der Rechnungen zustimmen.« Die machen das ohne eine entsprechende gesetzliche Grundlage. „Der Bundesrechnungshof sieht in den Sondervereinbarungen einen Verstoß gegen die gesetzliche Verpflichtung der Krankenkassen, bestimmte Abrechnungen einer Prüfung zu unterziehen. Im Ergebnis führt dieser Verzicht zu einer systemwidrigen Vergütung der Krankenhausleistungen“, heißt es wörtlich in dem Bericht, aus dem Thelen zitiert.

Zum Hintergrund erfahren wir: Die Höhe der Krankenhausvergütung hängt nicht davon ab, welche Leistungen im Einzelnen erbracht wurden. Vielmehr richtet sie sich nach den behandelten Diagnosen. Dafür gibt es einen Katalog diagnosebezogener Fallpauschalen, der jährlich von einem wissenschaftlichen Institut weiterentwickelt wird. Je teurer die Diagnose, umso höher also die Rechnung. Das nun löst sofort „Optimierungsstrategien“ aus, wie man sich vorstellen kann, denn die „Gestaltung“ der Diagnosen beeinflusst unmittelbar den Rechnungsbetrag. Seit Beginn dieser Art der Krankenhausfinanzierung in den 2000er Jahren wird über das hier angesprochene „Upcoding“ diskutiert und man versucht, seine betriebswirtschaftlich nachvollziehbare Ausbreitung zu begrenzen und einzudämmen. Upcoding im deutschen DRG-System bezeichnet jeden „Case-Mix-Index“ (CMI)-Anstieg, der nicht in einer durchschnittlichen Schweregraderhöhung, sondern in einem geänderten Kodierverhalten, meist durch ungerechtfertiges Kodieren von Nebendiagnosen zur Erhöhung des „Patient Clinical Complexity Level“ (PCCL), der patientenbezogene Gesamtschweregrad, begründet ist. Davon zu unterscheiden ist ein CMI-Anstieg, der daraus resultiert, dass sich die Kodierqualität in den Krankenhäusern verbessert, was natürlich keine Manipulation darstellt.

Die Erkenntnisse des Bundesrechnungshofs lassen sich so zusammenfassen: Ursache fehlerhafter Krankenhausrechnungen war in der Vergangenheit vor allem „ein erlösorientiertes Up- oder Falschcoding“. Dem muss man durch Rechnungskontrollen begegnen. Aber:

Die überhöhten Rechnungen der Krankenhäuser blieben wegen der – aus Sicht des Bundesrechnungshofs – rechtswidrigen Verträge nicht nur ohne Sanktion. Es sei sogar wahrscheinlich, dass die Kliniken „die vereinbarten Rechnungskürzungen im Vorfeld eingepreist haben.“

Diese vereinbarten Kürzungen liegen laut Rechnungshof zwischen einem und 50 Prozent. Ein Beispiel: »So sieht ein besonders ausgefeilter Vertrag vor, dass die erste bis zur 285. Rechnung um 22 Prozent, die 286. bis zu 350. um 50 Prozent gekürzt wird. Ab der 351. Rechnung wird gar nicht mehr gezahlt. Schwer vorstellbar, dass das betreffende Krankenhaus nicht versucht, den Honorarverzicht durch „optimierte“ Rechnungsstellung zumindest auszugleichen.«

Dass es sich – sollte es so sein, dass die Abrechnung manipuliert wurde – in jedem Einzelfall um Betrug handelt, ist die eine Seite der Medaille. Der Bundesrechnungshof weist allerdings auch auf bedenkliche strukturelle Auswirkungen hin:

➞  Solche Manipulationen wirken wettbewerbsverzerrend zu Lasten kleinerer Krankenkassen, die solche Verträge nicht schließen können, weil es ihnen an Verhandlungsmacht fehlt.
➞  Außerdem komme es auch zu systematischen Fehlern bei der jährlichen Weiterentwicklung des diagnosebezogenen Vergütungssystems, die ja nur auf der Basis realer Diagnoseangaben funktioniert.
➞  Und die systematische Fehlerfortschreibungsproblematik gilt ebenso für die krankheitsorientierten Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds. Auch hierfür bedürfe es „einer einheitlichen Datengrundlage, die auf ordnungsgemäßen Abrechnungen von Krankenhausleistungen beruht“.

An dieser Stelle ein „historischer“ Hinweis: Die Problematik ist wahrlich nicht neu oder vor kurzem vom Himmel gefallen: »Die Abrechnungen der Krankenhäuser an die Krankenkassen sind häufig fehlerhaft und nach Schätzungen des Bundesrechnungshofes jährlich um 875 Mio. Euro zu hoch. Einfachere Abrechnungen, Anreize für ein korrektes Abrechnungsverhalten und effektive Prüfverfahren könnten Fehler vermeiden und bürokratischen Aufwand verringern«, so der Bundesrechnungshof bereits am 12.04.2011 unter der Überschrift 2010 Bemerkungen – Weitere Prüfungsergebnisse Nr. 05 „Fehlerhafte Krankenhausabrechnungen belasten die Krankenkassen mit 875 Mio. Euro“.

Wieder zurück in die Gegenwart: »Dass die Versicherungsaufsichten diesem Treiben so lange zugesehen haben, ärgert den Bundesrechnungshof besonders. Erst 2016 versuchte das Bundesversicherungsamt (BVA) laut Bericht die Verträge zu stoppen, indem es einzelne Krankenkassen anschrieb – ohne Ergebnis. Auf Anregung des damaligen Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) versuchte es schließlich auf der 90. Arbeitstagung der Aufsichtsbehörden der Sozialversicherungsträger im Frühjahr 2017, ein formelles Verbot der Verträge durchzusetzen«, berichtet Thelen.

Und was ist dabei rausgekommen? Nun ja, das Ergebnis ist ernüchternd wie zugleich so typisch für das verschachtelte System der organisierten Unzuständigkeit: »Landesaufsichten und Bundesversicherungsamt seien sich einig „dass die von Krankenkassen geschlossenen Sondervereinbarungen aufsichtsrechtlich nicht toleriert werden können“, heißt es im Beschlussentwurf des BVA. Genüsslich zitiert der Rechnungshof aus dem Protokoll der Sitzung: „Die Aufsichtsbehörden einigten sich auf folgenden Beschluss. ‚Es fand ein Meinungsaustausch statt‘“. Das gleiche wiederholte sich bei der 92. Tagung im Mai dieses Jahres. Diesmal fand ausweislich des Protokolls ein „Erfahrungsaustausch“ statt.« Und man kann den Blockierer an dieser Stelle klar benennen: »Auch dieses Mal verhinderten die Landesaufsichten ein Verbot zum Wohl der von ihnen beaufsichtigten Ortskrankenkassen.«

In seinem neuen Artikel Kritik an Klinikrabatten bleibt folgenlos berichtet Peter Thelen: In einer Antwort des Bundesgesundheitsministeriums auf eine Kleine Anfrage der Linken kündigt das Ministerium lediglich an, es werde sich „weiterhin dafür einsetzen, dass dem Abschluss unzulässiger Sondervereinbarungen aufsichtsrechtlich begegnet wird“. Zugleich weist das Ministerium darauf hin, dass sich dazu die für regionale Kassen wie die AOK zuständigen Landesaufsichten erst mit dem Bundesversicherungsamt (BVA) verständigen müssten. Es ist für bundesweit geöffnete Kassen wie Barmer und DAK zuständig. Aber genau diese Verständigung gelingt seit Jahren nicht bzw. das Anliegen wird seitens der Landesaufsichten am ausgestreckten Arm vor sich hergetragen. »Der Rechnungshof rügte vor allem, dass die Vereinbarungen seit 2008 nur deshalb aufsichtsrechtlich unbeanstandet bleiben, weil die Landesaufsichten anders als das BVA nicht bereit sind, sie zu verbieten.«

Offensichtlich geht das Bundesgesundheitsministerium angesichts der Blockadehaltung der Bundesländer mit ihren für die AOKen zuständigen Aufsichten auf Tauchstation. Aber hier geht es, wie wir gesehen haben, wahrlich nicht um Peanuts, was die Summe der angeblich fehlerhaft in Rechnung gestellten Leistungen angeht. Und es geht wieder einmal um eine Schlechterstellung der Kliniken, die korrekt abrechnen und der Kassen, die sich nicht an dem modernen Ablasshandel beteiligen.