Mehr als sechs Milliarden Sendungen wurden 2016 von Hermes, DPD, UPS, DHL oder anderen Kurier-Express-Paketdiensten ausgeliefert. Rund 21 Milliarden Euro Umsatz erzielte die Branche. Wir alle sind als Kunden des Online-Handels Teil dieser boomenden Branche. Die wächst und wächst, was sich natürlich auch bei der Zahl der Beschäftigten niedergeschlagen hat. Dazu berichtet die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken im Deutschen Bundestag „Arbeitsbedingungen bei Kurier-, Express- und Postdiensten sowie der Deutschen Post AG“ (BT-Drs. 19/656):
»Nach Angaben der Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit waren im Juni 2017 in der Wirtschaftsabteilung Post-, Kurier- und Expressdienst (53, WZ 2008) bundesweit 182.000 geringfügige Beschäftigte, 131. 000 sozialversicherungspflichtige Teilzeit- und 152. 000 sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte tätig. Im Vergleich zum Juni 2008 ist die Zahl der geringfügigen Beschäftigten um 1,8 Prozent, die der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigten um 30 Prozent und die der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten um 44 Prozent gestiegen.«
Was für Wachstumsraten. Wir haben also derzeit 283.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte bei den Paketdiensten und viele der offiziell 182.000 geringfügig Beschäftigten, die hinzugerechnet werden müssen, arbeiten in der wirklichen Wirklichkeit deutlich mehr als das, was sie offiziell als Minijobber dürften.
Und man braucht immer mehr Personal, solange die Pakete so zugestellt werden, wie das heute der Fall ist. Da überraschen dann solche Meldungen nicht wirklich: Paketdiensten fehlen Tausende Fahrer: »Es werde „immer schwieriger“, Fahrer zu finden, sagte ein Sprecher des Paketdienstes DPD. Auch Marktführer DHL sprach von einer „Herausforderung, den Bedarf an gutem Personal zu decken“, insbesondere in Ballungsräumen. „Der Mangel an Fachkräften für die Paketzustellung wird sich absehbar weiter verschärfen“, sagte Frank Rausch, Deutschlandchef der Otto-Tochter Hermes.« Nun wird das viele, die ein Auge geworfen haben auf die Arbeitsbedingungen in diesem Metier, nicht wirklich verwundern. Der Personalmangel ist mehr als hausgemacht.
Denn eigentlich müsste nach dem Lehrbuch der Ökonomen in dieser Branche etwas passieren, was die steigende Nachfrage nach Arbeitskräften abbildet: Die Arbeitsbedingungen müssten sich entsprechend zugunsten der Arbeitnehmerseite verbessern, allen voran die Löhne. Denn die sollen ja Knappheitsverhältnisse auf dem Markt widerspiegeln. Aber Theorie und Praxis klaffen bekanntlich oftmals ziemlich weit auseinander. So auch im konkreten Fall der Paketdienste und der händeringend gesuchten Paketboten.
Denn der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Linksfraktion im Bundestag kann man auch diese Information entnehmen – die auf den ersten Blick den einen oder anderen, vor allem den Lehrbuch-Gläubigen verwirren wird. Auf die Frage nach der Entwicklung der Verdienste in der Branche muss das zuständige Bundesarbeitsministerium berichten, dass die die mittleren nominalen Bruttomonatsverdienste von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Vollzeit von Ende 2008 bis Ende 2016 um 15,5 Prozent auf 2.507 Euro gesunken sind.
Moment, die Löhne sind um mehr als 15 Prozent gesunken, nicht etwa gestiegen. Aber das überrascht den langjährigen Beobachter der Verhältnisse in dieser Branche nicht. Das ist nicht vom Himmel gefallen, sondern Ergebnis einer entsprechenden Lohndumping-Politik in der Branche. Dazu als ein Beispiel der Beitrag Die einen profitieren davon, die anderen fördern es. Lohndumping durch das Subunternehmerunwesen bei den Paketdiensten und darüber hinaus als europäisches Projekt, der hier am 1. Juli 2017 veröffentlicht wurde. Dort wurde der Finger auf die große Wunde des Subunternehmerunwesens gelegt, das sich durch diese Branche frisst und die dabei ist, die letzten Standards „guter“ Arbeit zu schleifen. Und den (vorläufigen?) Höhepunkt der Wild-West-Methoden in diesem Bereich haben wir in den vergangenen Jahren erleben müssen in Form der Ausbeutung osteuropäischer Paketboten, mit deren Hilfe man die Lohnkosten nach unten gedrückt hat. Und das hat sich in den Kernbereich der noch halbwegs „normal“ beschäftigten Paketboten gefressen, wobei alle Paketdienste mitgemacht haben, man denke hier nur an die Gründung einer Billigtochter für die Paketzusteller bei der Deutschen Post DHL.
Jetzt müssen wir die verheerenden Folgen dieser über viele Jahre praktizierten Lohndumping-Strategie in Augenschein nehmen. »31 Prozent der Paketzusteller sind Niedriglöhner, beziehen also weniger als zwei Drittel des mittleren Entgelts. In der Gesamtwirtschaft traf das Ende 2016 laut Bundesregierung nur auf 20 Prozent der Beschäftigten zu. In Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Sachsen arbeiten sogar mehr als vier von zehn Paketzustellern im Niedriglohnsektor – mit steigender Tendenz.« So Frank Specht in seinem Artikel Paketboten verdienen im Schnitt weniger als vor zehn Jahren. Hinzu kommt ein hoher Anteil an Leiharbeitern. Zudem sind viele Mitarbeiter der Branche nur befristet beschäftigt, bei der Deutschen Post etwa 13 Prozent.
Die Initiatoren der Kleinen Anfrage fassen die Ergebnisse der Antwort unter dieser Überschrift zusammen: Kurier-Express-Paketdienste wachsen auf Kosten der Beschäftigten. Und hier wird nicht nur auf die beklagenswerte Lohnentwicklung abgestellt: »Zugleich sind branchenbedingt viele Beschäftigte von Wochenend-, Nacht- oder Schichtarbeit betroffen. Mehr als die Hälfte der Beschäftigten in der KEP-Branche müssen zu untypischen Arbeitszeiten Pakete stapeln, Päckchen ausliefern oder Expresspost zustellen.« Aber machen die auch Lösungsvorschläge?
»Um den ruinösen Preisdruck zu beenden, braucht es dringend allgemeinverbindliche Tarifverträge. Zumindest die tariflichen Mindestlöhne müssen in der Branche endlich für alle gelten, auch für aus dem Ausland entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.« So der gewerkschaftspolitische Sprecher der Linken im Bundestag, Pascal Meiser.
Das scheint doch durchaus anschlussfähig zu sein – zumindest an eine der Regierungsparteien. Dazu Frank Specht in seinem Artikel: »Als die SPD noch im Wahlkampf stand, hatte sie einen „Pakt für anständige Löhne“ versprochen.«
Das war halt Wahlkampf wird der eine oder andere einwerfen, aber dennoch – schauen wir genauer hin. Frank Specht startet vielversprechend – und muss dann dort landen, wo es finster wird:
»Die schwarz-rote Bundesregierung hatte schon in der vergangenen Legislaturperiode die Hürden für allgemeinverbindliche Tarifverträge gesenkt. Galt früher, dass ein Tarifvertrag mindestens die Hälfte der Beschäftigten einer Branche erfassen musste, bevor die Regierung ihn für allgemeinverbindlich erklären konnte, reicht heute ein „öffentliches Interesse“.
Allerdings kann die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) einen entsprechenden Antrag im Tarifausschuss beim Arbeitsministerium leicht mit ihrem Veto blockieren.«
Und er fügt mit Blick auf von vielen Seiten geforderte weitere Veränderungen zur Erleichterungen bei der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen an: »Ob sich aber die Große Koalition zu weiteren Erleichterungen bei der Allgemeinverbindlichkeit entschließt, ist mehr als fraglich.« Das ist noch „nett“ formuliert. Dazu ein Blick in den Beitrag Umrisse einer GroKo neu. Teil 1: Arbeitsmarkt und Arbeitsrecht vom 13. Januar 2018: Hinsichtlich der so wichtigen Frage der (schwindenden) Tarifbindung und hierbei vor allem der wichtigen Frage, wie man endlich mehr allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge hinbekommen kann, findet man im Übereinkommen von Union und SPD – nichts. Man wolle die Tarifbindung stärken, so kann man lesen, aber dieses semantische Lüftchen war es denn auch zum Thema.
Und selbst wenn die SPD wollte, müssen wir davon ausgehen, dass die Union an dieser Stelle die Rollläden herunter lässt.
Also steht zu befürchten, dass sich an dieser Front nichts bewegen wird, es sei denn, der Blitz der Erkenntnis schlägt im Kabinett ein, was eher unwahrscheinlich ist.
Erwarten dürfen wir hingegen typisch betriebswirtschaftliche Lösungsversuche innerhalb der Branche. Man wird notwendige Lohnanpassungen mit Händen und Füßen abzuwehren versuchen und stattdessen auf einen Mechanismus setzen, den wir auch aus anderen Bereichen kennen: Rationalisierung. Da die Paketboten heute schon im Laufschritt immer mehr Mengen zu bewältigen versuchen, ist dem aber innerhalb des bestehenden Systems eine unüberwindbare Hürde gesetzt. Also wird man versuchen, die Zustellung auf den Rücken der Kunden zu verlagern, in dem man auf die Selbst-Arbeit der Kunden setzt. Sollen die sich doch ihre Pakete abholen da, wo man gut anliefern kann. Sollte dann jemand dennoch auf eine Zustellung an die Haustür Wert legen, kann man diese Leistung anders als heute bepreisen und eine neue, erweiterte Erlösquelle erschließen. Die dann theoretisch den Paketboten zugute kommen könnte. Theoretisch. Oder dann doch den Aktionären? Der Realist wird wissen, wie man das Fragezeichen auflösen muss.
Apropos Erlöse und Gewinne: Paketboom: Rekordgewinn für Deutsche Post, so eine Meldung vom 08.03.2018: „2017 war erneut ein sehr gutes Jahr“, wird der Konzernchef Frank Appel zitiert. Der operative Gewinn (Ebit) kletterte um 7,2 Prozent auf 3,74 Milliarden Euro. Unter dem Strich und nach Anteilen Dritter blieb ein Gewinn von 2,7 Milliarden Euro. Besonders das Paketgeschäft hat dazu beigetragen und das soll nach den Vorstellungen des Konzerns auch so bleiben – dann muss man aber „natürlich“ auf der Kostenseite die Daumenschrauben am besten noch eine weitere Drehung anziehen. In diese Suppe könnte nur gespuckt werden, in dem von außen regulatorisch eingegriffen wird (was – wie wir gesehen haben – bei der derzeitigen Konstellation mehr als unwahrscheinlich ist). Oder aber auf der Seite des offensichtlich immer knapper werdenden Arbeitskräfteangebots wird mit den Füßen abgestimmt und man verweigert sich den Arbeitsbedingungen. Partiell passiert das natürlich, aber eben nicht kollektiv. Und offensichtlich hoffen die Paketdienste, dass sie die Zeit, bis dass die Verlagerung der Arbeit auf die Kunden greift, damit überbrücken können, dass es genügend Menschen gibt, die eben auf jeden Cent angewiesen sind und nichts anders haben als den Verkauf ihrer Arbeitskraft.