Am 11. März 2018 wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Die angeblich so drangsalierte Leiharbeit boomt vor sich hin und (nicht nur) die Kassiererinnen einer Supermarktkette erleben die niederen Realitäten des Geschäfts am eigenem Leib. Darin ging es zum einen um den neuen Beschäftigungsrekord der Leiharbeitsbranche – trotz der im vergangenen Jahr, als am 1. April 2017 die Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) in Kraft getreten ist, von manchen an die Wand gemalten Horrorszenarien angesichts der Würgegriffs der Regulierung. Darüber hinaus wurde in dem Beitrag auch kritisch die Erfolgsversprechen der ehemaligen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) auf den Prüfstand gestellt:
»1. Wir stärken gute Löhne durch die wirksame Umsetzung des „Equal Pay“-Grundsatzes („gleicher Lohn für gleiche Arbeit“) nach neun Monaten. 2. Wir verhindern unbegrenzte Leiharbeit mit der Einführung einer Überlassungshöchstdauer von grundsätzlich 18 Monaten.«
So die verheißungsvolle Ankündigung aus dem Bundesarbeitsministerium. Es wurde aufgezeigt, dass man das nicht allzu wörtlich nehmen darf und dass es zahlreiche Umgehungsmöglichkeiten gibt. Als Beispiel wurde die Jubelbotschaft, dass die Leiharbeiter nach neun Monaten „equal pay“ bekommen, also die gleiche Bezahlung wie die Stammbelegschaft, genauer unter die Lupe genommen. Erster Einwand: Tarifvertragliche Regelungen können auch als Schlechterstellung daherkommen, denn die 9 Monate können über solche Vereinbarungen bis zu 15 Monaten gestreckt werden. Der zweite und hier besonders relevante Einwand: Zeiträume vorheriger Überlassungen durch denselben oder einen anderen Verleiher an denselben Entleiher sind auf die Wartezeit von equal pay anzurechnen, wenn zwischen den Einsätzen nicht mehr als drei Monate liegen. Wenn sie darüber hinaus reichen, dann fängt das Spiel wieder von vorne an. Und die in einem gut gemeinten Referentenentwurf ursprünglich mal vorgesehenen sechs Monate Wartezeit sind unterwegs in Berlin verloren gegangen.
In dem Beitrag wurde ein konkretes Beispiel zitiert, über das der SWR berichtet hat: »Jahrelang arbeiteten die Leiharbeiterinnen Carmen H. aus Reutlingen und Birgit J. aus Tübingen bei der Supermarktkette „real“ an der Kasse. Seit dem 1. Januar hätten die beiden eigentlich Anspruch auf den gleichen Lohn wie die Stammbelegschaft – so steht es im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG). Doch statt gleicher Bezahlung wurde den beiden von ihrer Zeitarbeitsfirma zu Beginn des Jahres gekündigt … „real“ behauptet, man könne es sich nicht leisten, den Kassiererinnen „Equal Pay“, also den gleichen Lohn wie der Stammbelegschaft, zu zahlen – das geht aus den Gerichtsunterlagen hervor, die dem SWR vorliegen.« Vgl. dazu auch den Bericht Kein gleicher Lohn für gleiche Arbeit des Fernsehsenders SWR vom 8. März 2018.
Und nun erreicht uns diese Nachricht, die auf dem Blog arbeitsunrecht.de von Jessica Reisner unter der Überschrift Leiharbeit: Wegweisendes Urteil gegen Umgehung von equal pay in einen lesenswerten Artikel gegossen wurde. Auch hier geht es um die Kette real – und um Kassiererinnen, die als Leiharbeiterinnen in den Filialen eingesetzt werden.
»Die Erste Kammer des Arbeitsgerichts Mönchengladbach verkündete am 20.03.2018 ein Urteil, das Leiharbeitsfirmen und Unternehmen, die den Anspruch auf gleiche Bezahlung systematisch umgehen, deutschlandweit aus der Ruhe bringen dürfte … Geklagt hatte Heike O., die bereits seit 2013 für den Verleiher Mumme Personalservice GmbH als Kassiererin bei der Handelskette real gearbeitet hatte. Rund fünf Jahre (!) kassierte sie in der real-Filiale in Grevenbroich. Mumme kündigte ihr zum 31.12.2017, exakt 9 Monate nach in Kraft treten der Reform des Arbeitnehmerüberlassugsgesetzes (AÜG) zum 01.04.2017. So erging es auch Kolleg*innen aus der selben real-Filiale, die alle bei der Mumme GmbH angestellt gewesen waren. Heike O. klagte als Einzige. Sie vermutete einen direkten Zusammenhang mit der Reform des AÜG: ab 01.01.2018 hätte Heike O. Anspruch auf gleiche Bezahlung wie fest angestellte Kassierer*innen gehabt … Die Mumme GmbH stellt Heike O. statt dessen eine Wiedereinstellung zum 02.04.2018 und erneute Beschäftigung als Kassiererin bei real in Aussicht – ohne Anspruch auf equal pay. Eine Beschäftigung für die Zwischenzeit konnte die Mumme GmbH angeblich nicht finden.«
Das ist schon eine dreiste Nummer – das Entleihunternehmen, in diesem Fall real – will die Leiharbeiter dauerhaft beschäftigen, ihnen aber nicht den zustehenden Lohn nach neun Monaten zahlen. Also kegelt man die aus dem Unternehmen, bietet zugleich aber an, sie nach der „Karenzzeit“ von drei Monaten wieder zu beschäftigen, „selbstverständlich“ ohne equal pay. Und das Verleihunternehmen möchte da gerne mitmachen, aber für die drei Monate Zwangspause „natürlich“ nicht zahlen. Man könnte bilanzieren: Ein Fall wie aus dem Lehrbuch für Umgehungsstrategien.
Aber die Betroffene Heike O. hat sich gewehrt und ist vors Gericht gezogen. Jessica Reisner zitiert in ihrem Artikel die Argumentation des Anwalts der Klägerin, Daniel Labrow, nach der eine fehlende Einsatzmöglichkeit für drei Monate und einem Tag nicht ausreichend für eine Kündigung des Personalvermittlers sei:
„Es handelt sich hierbei um einen Präzedenzfall als Resultat der Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG), zu dem bislang offenbar noch kein Urteil ergangen ist. Dieses Urteil ist für alle über einen längeren Zeitraum bei einem Entleiher eingesetzten Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter bedeutsam, die zur Vermeidung des bei einem mehr als neunmonatigen Einsatz bei einem Entleiher gem. § 8 Abs. 4 AÜG entstehenden Anspruchs auf die gleiche Bezahlung wie die Stammbelegschaft oder mit der Begründung, dass für wenige Monate keine Einsatzmöglichkeit bestehe, gekündigt worden sind.“
Und das Arbeitsgericht hat sich dem angeschlossen. Die Pressemitteilung des Arbeitsgerichts Mönchengladbach bringt schon in der Überschrift den zentralen Punkt zum Ausdruck: „Die Kündigung einer Leiharbeitnehmerin ist nicht schon dann gerechtfertigt, wenn der dauerhafte Einsatz beim Kunden auf dessen Wunsch für drei Monate und einen Tag unterbrochen wird, obwohl ein Beschäftigungsbedarf durchgehend besteht“. Die Begründung des Gerichts für die Entscheidung:
»Der Arbeitgeber habe nicht dargelegt, dass die Beschäftigungsmöglichkeit für die Klägerin für einen hinreichend langen Zeitraum fortgefallen sei. Die fehlende Einsatzmöglichkeit für drei Monate und einem Tag sei insoweit nicht ausreichend. Es sei Sinn und Zweck des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, dem Einsatz von Leiharbeitnehmern zur Erledigung von Daueraufgaben entgegenzuwirken. Dadurch, dass die Beklagte fast ausschließlich für das eine Einzelhandelsunternehmen tätig sei, würde die Geltung des Kündigungsschutzgesetzes praktisch aufgehoben, wenn allein die fehlende Einsatzmöglichkeit zur Rechtfertigung der Kündigung ausreichen würde. In einem solchen Fall sei auch der Grund für die fehlende Einsatzmöglichkeit zu berücksichtigen.«
Das ist deutlich. Und wenn das Bestand hat, dann wird das enorme Folgen mit sich bringen. Dazu Jessica Reisner: »Die Metro AG, zu der die Einzelhandelskette real Group Holding GbmH gehört, dürfte das Urteil genauso aufschrecken wie Leiharbeitsfirmen, die die Regelungen des AÜG systematisch unterlaufen und darauf vertrauen, dass kein Leiharbeiter klagt. Denn betroffen dürften zig Tausend Leiharbeitnehmer sein, die um ihren nach 9 Monaten im gleichen Betrieb erworbenen Anspruch auf gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit geprellt werden.«