Sozialgerichte haben eine wichtige sozialpolitische Funktion – sie sind oftmals die letzte Möglichkeit für den einzelnen Bürger, sich gegen Entscheidungen großer Sozialbürokratien zu wehren und darüber vielleicht doch noch zu seinem Recht zu kommen. Das ihm vielleicht aufgrund schlampiger Arbeit, vielleicht aber auch mit einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Mutwilligkeit vorenthalten wird. Natürlich gibt es wie immer auch die andere Seite der Medaille, also die von außen betrachtet exzessive Inanspruchnahme des sozialgerichtlichen Verfahrens, wo dann teilweise um skurrile Beträge oder Dinge gestritten wird. Zugleich muss man darauf hinweisen, dass das Sozialrecht zwar in zahlreichen Sozialgesetzbüchern und Verordnungen geregelt, in nicht wenigen Fällen sogar überregelt ist, auf der anderen Seite die Sozialgerichtsbarkeit immer wieder auch auf dem Wege des Richterrechts gestaltend eingreifen muss, wenngleich das nicht die eigentliche Aufgabe der Gerichte sein sollte, aber wir kennen die Tiefen und Untiefen des Richterrechts auch und gerade in der Arbeitsgerichtsbarkeit, um ein weiteres Feld zu nennen, das sozialpolitisch von großer Bedeutung ist. Das ist auch dann immer wieder zu beobachten, wenn der Gesetzgeber – was im Sozialrecht nicht der Ausnahmefall ist – mit unbestimmten Rechtsbegriffen gearbeitet hat, die dann im Konfliktfall einer Entscheidung zugeführt werden müssen.
Nun hat das höchste deutsche Gericht in diesen Fragen, das Bundessozialgericht (BSG) mit Sitz in Kassel, seinen Tätigkeitsbericht für das Jahr 2016 der Öffentlichkeit vorgestellt. Der seit Oktober 2016 in Amt und Würden befindliche neue Präsident des Bundessozialgerichts, Rainer Schlegel, erläutert am Anfang des Tätigkeitsberichts seine Sicht auf die Sozialgerichtsbarkeit und der besonderen Rolle des BSG im Kontext der zahlreichen Sozialgesetze:
»Der Sozialgerichtsbarkeit kommt die Aufgabe zu, den ordnungsgemäßen Vollzug dieser Gesetze zu überprüfen und entsprechenden Rechtsschutz zu gewähren. Das Spektrum, über das das Bundessozialgericht wacht, ist groß. Es reicht von der Hilfe der Solidargemeinschaft für Kranke, für behinderte Menschen oder für Einkommensschwache über die Gewährleistung von Chancengleichheit zum Beispiel beim Thema Bildung bis hin zu der durch Beiträge finanzierten Absicherung gegen die Risiken von Erwerbsminderung und zur Altersvorsorge. Die Erwartungen des Bürgers an die Rechtsprechung und das Bundessozialgericht als oberster Instanz in sozialen Angelegenheiten sind hoch und nicht jeder Kläger, nicht jede Klägerin sieht ein, dass die Sozialgerichte zwar für die Kontrolle der Sozialverwaltung, nicht aber für den Inhalt der Gesetze zuständig sind.«
Man erkennt schnell, dass hier alle großen sozialpolitischen Felder bespielt werden (müssen). In einem Artikel über den Tätigkeitsbericht hat die FAZ am 11.02.2017 (Print-Ausgabe) bilanziert, dass man sich gerne vor Gericht streitet, insbesondere wegen der Unfallversicherung und des Arbeitslosengelds.
Die Zahl der neu eingehenden Klagen vor dem Bundessozialgericht (BSG) ist rückläufig. Im Jahr 2016 mussten sich die Kasseler Richter mit 3.691 neuen Verfahren beschäftigen. Im Vergleich zum Vorjahr 2015 ist das zwar ein Rückgang von 341 Verfahren, man übertreffe aber die Zahlen von 2012 und 2013, die bislang als „Rekordjahre“ galten.
Und inhaltlich? »Im vergangenen Jahr haben sich einige Schwerpunkte verschoben. Die Zahl der Verfahren gegen Hartz-IV-Bescheide ging stark zurück. Deutlich mehr beschäftigten die Sozialrichter Streitigkeiten aus dem Bereich der Unfallversicherung, etwa inwieweit der Versicherungsschutz von Mitarbeitern während der Arbeit im „Home Office“ reicht. Auch Arbeitsunfälle im Rahmen von betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltungen, insbesondere bei Weihnachtsfeiern und Sportfesten, haben das oberste deutsche Sozialgericht zuletzt stark ausgelastet«, kann man dem FAZ-Artikel entnehmen.
Auch wenn das BSG natürlich vor allem interessant wird, wenn es um Grundsatzfragen geht, die eigentlich abschließend geklärt sein sollten, wenn dort eine Entscheidung fällt, muss man sehen, dass es Fallkonstellationen gibt, bei denen ganz zentrale Grundsatzfragen auf einer noch höheren Ebene verhandelt werden, man nehme nur das so umstrittene Thema der Sanktionen im SGB II als Beispiel. Das ist über eine Richtervorlage vom Sozialgericht Gotha im zweiten Anlauf (vgl. dazu den Beitrag Sie lassen nicht locker: Sozialrichter aus Gotha legen dem Bundesverfassungsgericht erneut die Sanktionen im SGB II vor vom 2. August 2016) die Grundsatzfrage nach einer möglichen Verfassungswidrigkeit endlich nach Karlsruhe getragen worden. Die werden diese wichtige Frage in diesem Jahr beantworten (müssen). Mal sehen, wie das vor dem BVerfG ausgeht – das BSG hatte sich dazu bereits und recht eindeutig zu Wort gemeldet: Aufrechnung in Höhe von 30% mit der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar!, so und im Original mit Ausrufezeichen ist eine Pressemitteilung des BSG vom 9 März 2016 überschrieben mit Bezug auf BSG, Urteil vom 9.3.2016, B 14 AS 20/15 R. In der Pressemitteilung des Gerichts findet man diesen explizit verfassungsrechtlich argumentierenden Passus:
»Die gesetzliche Ermächtigung zur Aufrechnung in Höhe von 30% des Regelbedarfs über bis zu drei Jahre ist mit der Verfassung vereinbar. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz) ist als Gewährleistungsrecht auf die Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angelegt. Gegenstand dieser Ausgestaltung sind nicht nur die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und das Verfahren ihrer Bemessung, sondern können auch Leistungsminderungen und Leistungsmodalitäten sein. Die Aufrechnung nach § 43 SGB II, die die Höhe der Leistungsbewilligung unberührt lässt, aber die bewilligten Geldleistungen nicht ungekürzt dem Leistungsberechtigten zur eigenverantwortlichen Verwendung zur Verfügung stellt, ist eine verfassungsrechtlich zulässige Ausgestaltung des Gewährleistungsrechts.«
Das nun sehen offenbare einige andere Sozialrichter nicht so und haben den Weg einer Richtervorlage gewählt.
Und es sollte auch auf eine andere Fallkonstellation hingewiesen werden, bei der die obersten Sozialrichter nicht auf die Gefolgschaft der Sozialgerichte unter dem BSG zählen kann – gemeint ist hier die Rechtsprechung des BSG einen Sozialhilfeanspruch für EU-Ausländer betreffend. Vgl. dazu den Beitrag Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber: Der EuGH gegen Sozialleistungen für EU-Bürger in anderen EU-Staaten, das BSG teilweise dafür, andere Sozialgerichte gegen das BSG vom 25. Februar 2016. Die vom BSG entwickelte Sichtweise wurde von einigen Sozialgerichten offensichtlich nicht geteilt und als „übergriffig“ gegenüber dem Gesetzgeber verstanden, der wiederum hat zwischenzeitlich reagiert mit dem „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“, das explizit als Antwort auf die BSG-Rechtsprechung verstanden werden muss. Man sieht, kein einfaches Geländes, auf dem wir uns bewegen.
Bei aller Bedeutung der höchstrichterlichen Ebene – aus Sicht der Lebenslagen der vielen Menschen lohnt ergänzend und zugleich auch unabhängig von dem, was auf der BSG-Ebene so getan wird, ein Blick „nach unten“, auf die Arbeit der Sozialgerichte vor Ort. Nehmen wir als ein Beispiel von vielen das Sozialgericht Leipzig. Auch die haben nun einen Jahresrückblick 2016 veröffentlicht, der naturgemäß etwas anders aussieht als das, was dann später irgendwann einmal „ganz oben“ beim BSG anlandet.
In deren Jahresrückblick findet man am Anfang eine Entsprechung zu dem, was das BSG berichtet:
»Im Jahr 2016 hat sich der Rückgang der eingehenden Verfahren beim Sozialgericht Leipzig weiter fortgesetzt. Die insgesamt 6.956 Klagen und einstweiligen Rechtsschutzverfahren bedeuten im Vergleich zu 2015 einen Rückgang um 7,5 % und markieren zugleich den niedrigsten Wert seit dem Jahr 2006. Noch deutlicher war der Rückgang bei den 3.775 Verfahren nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch („Hartz IV“) um 11,7 % im Vergleich zum Vorjahr. Die große Klagewelle der Vorjahre, die im Jahr 2010 mit 8.451 Verfahren (davon 4.938 „Hartz-IV“-Verfahren) ihren Höhepunkt erreicht hatte, scheint damit einstweilen abgeebbt. Trotz der Eingangsrückgänge hat sich der Bestand der offenen Verfahren auf nunmehr 10.531 leicht erhöht. Auch die durchschnittliche Laufzeit der Verfahren hat mit jetzt 18,4 Monaten signifikant weiter zugenommen; bei den „Hartz-IV-Verfahren ist die durchschnittliche Laufzeit sogar auf 21,3 Monate angestiegen.«
Das muss man sich mal vorstellen – 21,3 Monate durchschnittliche Laufzeit bei Hartz IV-Verfahren. Das Sozialgericht Leipzig spricht in seiner Pressemitteilung selbst von „unerträglich langen Verfahrenslaufzeiten“. Das muss man nicht weiter kommentieren.
Foto: © Stefan Sell